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Randhemerhungen zur woche

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EIN SCHARFER WIND BLIES IN DER KUNDGEBUNG DER ÄRZTEKAMMER im Auditorium maximum der Wiener Universität, zur gleichen Zeit, als die Beratungen im Nationalrat über das Allgemeine SozialversicUemngsgesetz begannen. Es ist in eingeweihten Kreisen kein Geheimnis, daß die sachliche, alle Möglichkeiten kühl abwägende Haltung des Präsidenten der Oesterreichischen Aerztekammer mit hitzigen Strömungen von der Seite der Jungärzteschaft und der Spitalärzte zu ringen hat. Der Forderung nach sofortiger Invertragnahme der Aerzte, die noch ohne Kassenpraxis sind, stehen budgetäre Gründe entgegen. Trotz eines Aufwandes von sieben Milliarden Schilling müssen die Sozialversicherungsträger mit Abgängen rechnen, und neue finanzielle Forderungen wollen sie erst befriedigen, wenn der Bundeszuschuß erhöht würde. Das Bundesbudget ist aber auf der Ausgabenseite überdimensioniert und wird zweifellos Abstriche erfahren. Eine Deckung ist also keineswegs zu erwarten. Die energische Haltung der österreichischen Aerzte, die sich — trotz arrangierter Radaukommandos — durch die Oeffentlichkeit unterstützt sah, hat einen Großteil der Forderungen durchgesetzt: vor allem den Kündigungsschutz und das „Halt!“ bei der Errichtung neuer Ambulatorien, die zu gleichen Preisen arbeiten müssen wie die freiberuflichen Aerzte. In letzter Stunde sind noch weitere ärztliche Forderungen durchgedrungen. Es fiel der Satz mit .der „Soll“-Bestimmung über die Begrenzung der ärtzlichen Gesamthonorare, die nicht freien Verhandlungen zwischen Aerzten und Sozialversicherungsinstituten vorbehalten waren. Auch ein schwerwiegendes Wort wurde gestrichen, nämlich „weitgehenden“ in dem Satze, wo von einer „Berücksichtigung“ der wirtschaftlichen Belange der Kassen die Rede ist. Wenn nun am Abend des 9. September die Oesterreichische Aerztekammer beschloß, am Tage nach der Endabstimmung über das ASVG die Gesamtverträge zum 31. Dezember zu kündigen, handelt es sich um eine vorbeugende, demonstrative Maßnahme. Sollte nämlich sechs Wochen vor Ablauf der Kündigungsfrist keine neue Vereinbarung mit den Sozialversicherungsträgern zustande kommen, kann die paritätische Bundeseinigungskommission den gegenwärtigen Vertrag auf weitere drei Monate verlängern. Bis dahin ist Gelegenheit, bei sanfteren Luftströmungen die Beschlüsse zu prüfen, und, wenn es nötig sein sollte, das Gesetz zu novellieren.

DIE HARTE WIRKLICHKEIT DES LETZTEN KRIEGES wurde unserer anscheinend so leichtlebigen und leichtvergeßlichen Welt ins Bewußtsein gerufen, als sich in harter Auseinandersetzung die Staat s-männtr der Sowjetunion und Doktor Adenauer gegenübertraten. Es muß als ein echtes Positivum der gegenwärtigen Entspannung der Weltlage erkannt werden, daß diese echte Auseinandersetzung heute schon möglich war. Vielleicht werden morgen und übermorgen die Verbindlichkeiten des diplomatischen Verkehrs und die in den Taumel des V ergessenwollens stürzenden Massen diesen Akt übersehen, heute steht er, mit Recht, im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit. Am 10. September 1955 sagten sich die führenden Männer zweier leidbelasteter und schwer geprüfter Völker ihre Sorgen und letzte Verwehrungen direkt ins Gesicht. Wie sehr stach dies ab von den Tiraden und rhetorischen Eskapaden der Völkerbundära, aber auch von den endlosen, hemmungslosen Schimpfkanonaden der Aera des kalten Kriegest In knapper, direkter Weise wies der Bonner Bundeskanzler auf das bittere Schicksal hin, das der deutschen Bevölkerung durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen 1945 zukam. Er wußte in diesem Augenblick hinter sich die Millionen Versehrten und Vertriebenen, die in schreckliche Erfahrungen gestürzten Frauen, Männer, Kinder. Verständlich diese seine Klage — ebenso verständlich aber, daß sie Chruschtschew, der sich mit seiner Antwort als der Sprecher des russischen Volkes und der sowjetischen Armee präsentierte, heftig replizierte. Es gibt für den Menschen des Ostens und Asiens nichts Schlimmeres, als sein Gesicht zu verlieren. Dieses Gesicht mußte Chrusch-schew verteidigen — niemals würden ihm Armee und Volk verzeihen, daß er im Kreml aus dem Munde des großen Gegners es hingenommen habe, daß die Armee unsoldatischer Handlungen, Grausamkeiten gegen Zivilisten beschuldigt wurde. Der Führer der KPdSU, der Partei der Bolschewiki, rief deshalb in diesem dramatischen, kritischen Augenblick das Gemeinschaftsbewußtsein des russischen Volkes an und berief, genau wie Stalin in dem historischen Moment, als die Truppen Hitlers Rußland zu überschwemmen begannen, das uralte, letzte Wort, mit dem Völker und einzelne ein Allerletztes, Unabdingliches ansagen: das „Heilige“. Chruschtschew erklärte: Die sowjetischen Soldaten erfüllten ihre heilige Aufgabe vor ihrem Volk, als sie den Krieg auf deutschem Boden fortsetzten. — In diesem Augenblick der Auseinandersetzung, in die dann Molotow und Brentano eingriffen, war sichtbar geworden, wie sehr die Führer Deutschlands und des heutigen Rußlands einander mißtrauen. Die westdeutschen Vertreter sehen in den Sowjetrussen die Vernichter der deutschen Nation und sehr vieler Menschenleben. Die Führer der Sowjetunion sehen in den westdeutschen Repräsentanten die Erben und Nachfolger Hitlers, einer deutschen Ueberhebung, einer deutschen Weigerung, die Schuld am letzten Kriege auf sich zu nehmen. Hochinteressant war es deshalb, wie Doktor Adenauer nun versuchte, den Sowjets begreiflich zu machen, daß er und die westdeutsche Bevölkerung heute nicht einfach mit Hitler und seinen Konsorten zu identifizieren seien. Diese Episode der großen Auseinandersetzung zeigt dramatisch deutlich, wie unrichtig die im Westen weitverbreitete Auffassung ist, derzufolge die Sowjets nur aus durchsichtigen Propagandamotiven in Adenauer und den Bonner Politikern die Erben und Nachfolger Hitlers sehen möchten. Hier wurde also ein letzter Gegensatz sichtbar. Und dem ist gut so. Denn ein Neuansatz und, später, eine Begegnung zwischen Rußland und

Deutschland wird eben da anzusetzen haben: Deutscherseits in der Anerkennung der großen und schweren inneren Verwundungen, die Rußland und der Osten durch die deutschen Invasionen erlitt (wie vielen Menschen im Westen, auch „guten Christen“, stellt sich ja heute innerlich die weltgeschichtliche Wirklichkeit so dar, als ob Rußland Deutschland überfallen habe und nicht umgekehrt Hitlers Deutschland, das heute in so vielen Vertretern gespenstisch wiederkehrt, Rußland). Russischerseits jedoch wird zur Kenntnis zu nehmen sein: an der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des Bonner Kanzlers, genauso wie mit Frankreich, so auch mit Rußland zu einem echten Frieden zu gelangen, kann auch im Kreml nicht mehr gezweifelt werden, gerade weil diese Ehrlichkeit sich bisweilen mit einer bemerkenswerten Starrheit verbindet.

GROSSE BEGEISTERUNG IN BELGRAD. Der Bahnhof ist neu gestrichen. Triumphpforten stehen. Fahnen über Fahnen. Was ist geschehen? Kehrte Marschall Josip Broi-Tito von einem erfolgreichen (wenn auch nur diplomatischen) Feldzug heim und huldigt ihm darob das Volk? Keineswegs. Denn: so wie der Bahnhof neu gestrichen wurde, erhielt die Begeisterung frische Farbe. Nicht einförmig rot oder auch blauweißrot mit dem fünfzackigen Stern darauf, sondern fünf blaue und vier weiße Streifen mit dem stehenden weißen Kreuz im Blau als Gösch: die Farben Griechenlands wehten. König Paul und Königin Friederike schritten, begleitet von Marschall über den breiten Orientteppich dem Ausgange zu. Dort hatte inzwischen die einzige Parteiorganisation ihre oft geübten Fähigkeiten entwickelt: die Massen waren aufgeboten worden, um zu jubeln, um ihren ' herzlichen monarchischen Gefühlen sichtbaren (und hörbaren) Ausdruck zu geben. Und so riefen Frau und Mann begeistert: „Es lebe der König!“ Sie lassen die Könige gerne leben, vorausgesetzt, daß es nicht die eigenen sind. Im Trubel der Kundgebungen wird sich König Paul, als er vor dem „Alten Palast“, seinem Quartier, hielt, nicht an Alexander I. Obreno-vic erinnert haben. Auch von der kurze Zeit vorher in Belgrad eingekehrten und begrüßten sowjetischen Regierungsdelegation wird man nicht reden, denn auch hier gäbe es Erinnerungen, etwa an die auswärtige Unterstützung der griechischen Rebellen der Nationalen Befreiungsfront und ihrer Volksbefreiungsarmee. Griechenland, das seit 1952 dem Atlantikpakt angehört, das im folgenden Jahre den Balkanpakt mit Jugoslawien und der Türkei abschloß, sieht sich angesichts des gespannten Verhältnisses zum Vertragspartner in Ankara genötigt, sich mehr nach Westen abzusetzen. Die Abwertung der Drachme vor zwei Jahren von 15.000 auf 30.000 je einem Pfund Sterling war nur ein Zeichen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die heute noch ungelöst sind. Eine Bevölkerung, von der 63 Prozent in der Landwirtschaft tätig sind und davon ein Drittel Kleinbauern und Landarbeiter zählt; ein Land, das seine Bodenschätze — Chrom-, Mangan-, Eisen- und Bleierze nicht fördern kann, weil es an Kapital fehlt, blickt dorthin, wo ein ebenfalls agrarisches Land eine Industrie aufbaut: Jugoslawien Dieses dagegen, das dauernd ein Damoklesschwert — das Aufhören der Wirtschaftshilfe der USA — über sich schweben sieht, hat Interesse für die nahegelegenen Bodenschätze und den kurzen Transportweg. Zweifellos wird es Tito gelingen, mit der einen Hand an der Mütze der Königshymne zu salutieren und die andere Hand an den roten (Hosen-) Streifen zu legen. Er weiß zu repräsentieren und präsentiert. Je nachdem

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