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Randhemerkungen zur woche

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Der Nationalrat hat der Regierungsvorlage über die „Amnestie 1 9 5 0“. über die Einstellung und Tilgung der Strafsanktionen gegen Gesetzesübertretungen, begangen in den Wochen und Monaten der Nachkriegszeit, seine Zustimmung erteilt. Wie es gar nicht anders zu erwarten und zu wünschen war, kam in der parlamentarischen Aussprache auch die Rede auf eine andere, noch immer ausstehende Amnestie — auf die Liquidierung aller jener Fälle, die als politische Formaldelikte in der österreichischen Nachkriegsgesetzgebung bekanntgeworden sind. Alle Für und Wider wurden dabei ausgesprochen, wobei die Bedenken wiederholt wurden, daß die notwendige einhellige Zustimmung der Alliierten zu einer Revision des NS-Gesetzes schwerlich zu erwarten ist. Mit einem ernsten Versuch — der gemeinsamen Entschließung der beiden Regierungsparteien, bis spätestens Ende dieses Jahres einen Gesetzesentwurf auszuarbeiten, der die Ahndung des Gesinnungsdelikts endgültig aus der Welt schaffen will — rückt jedoch eine Forderung, der wiederholt in den Spalten der „Furche“ Raum gegeben wurde, um ein gutes Stück ihrer Verwirklichung näher.

Die Eingliederung von zahlreichen um ihre Heimat und um ihre Habe gebrachten Volksdeutschen in den österreichischen Volkskörper und in die österreichische Wirtschaft macht nur langsam Fortschritte. Deshalb ist es zu begrüßen, daß die Notstandshilfe jetzt auch den Heimatvertriebenen zugute kommt. Auch den Bemühungen, die finanzielle Gleichstellung Volksdeutscher Studenten mit ihren österreichischen Kollegen durchzusetzen, war Erfolg beschieden. Aber wie wenig zählen diese kleinen Erfolge im Vergleich mit den vielen offenen Fragen, die noch immer einer positiven Antwort harren! Dringend und keinen Aufschub duldend ist die Gleichstellung der V olksdeut sch en auf dem Arbeitsmarkt, ihre Befreiung von den oft sehr unter schiedlich gehandhabten Maßnahmen der einzelnen Arbeitsämter, die sehr im Widerspruch stehen zu der durch den Sozialminister verfügten Zurückziehung des umstrittenen Inlandarbeiter - Schutzgesetzes. Weitgehende Großzügigkeit in dieser Richtung ist nicht nur eine Forderung politischer Klugheit — Volksdeutsche, denen der legale Boden zur .Arbeit entzogen ist, sind gezwungen, sich und ihre Familien durch unbesteuerte Pfuscharbeiten zu ernähren —, sondern auch eine Tat sozialer Gerechtigkeit und für den Christen eine Gewissenspflicht.

Von höchst unerfreulichen Zuständen erfährt man aus einer Anfrage, die im Wiener Gemeinderat eingebracht wurde und nicht etwa als eine parteipolitische mit Schweigen übergangen werden kann. In dieser Anfrage lenkte Gemeinderat Dr. Matejka die Aufmerksamkeit auf das Flüchtlingslager der Stadt Wien im V. Bezirk, Hundsturmplatz IS, das früher eine Volksschule war. Gegemoärtig sind dort etwa 300 Menschen untergebracht, fenschqn aller Alterstufen, vom Säugling bis zum Greis. Die früheren Schulzimmer und auch der Turnsaal sind durch Bretterverschläge unterteilt, so daß Räume von ungefähr fünf mal sechs Meter Grundfläche entstanden sind. In jedem dieser Räume befinden sich acht bis zehn Pritschen mit Strohsäcken und Declten, außerdem vielleicht noch ein Tisch und ein oder zwei Kästen (ehemalige „Spinde“ der deutschen Wehrmacht). An den Wänden und zwischen den Fensternischen sind Stellagen angebracht, auf denen Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände frei herumliegen. Für alle 300 Bewohner dieses Lagers ist eine einzige Küche im Erdgeschoß vorhanden mit 30 Gasrechauds. Die Waschküche des Lagers hat nur drei Waschtröge. Die Flüchtlinge sind bemüht, sich vor der Rattenplage zu schützen und haben umsonst versucht, die Rattenlöcher in der Waschküche notdürftig mit Ziegelstücken und Glasscherben zu vermachen. In dem Kabinett Nr. 34 sind auf etwa sieben mal sechs Meter Grundfläche elf Menschen untergebracht. Noch schlechter sind die Verhältnisse im Flüchtlingslager der Stadt Wien im XIV. Bezirk, Bergmille r-g a s s e 12, weil es sich hier um baufällige alte Baracken handelt, die keine Unterkellerung und nur eine gemeinsame Aborianlage und Wasserleitung haben. In diesen Baracken wimmelt es von Ratten, Mäusen und Ungeziefer. Die m.eisten Insassen müssen ihre Habseligkeiten unter den Pritschen und unter den Polstern aufbewahren. Für diese Räumeiebt der Magistrat der Stadt Wien, Veriva.ltungs-gruppe IV, Abteilung 12, Gebühren ein, zum Beispiel für die Benützung des Zimmers 14 der Baracke 6 (Größe fünf mal fünf Meter) beträgt der monatliche Zins unter verschiedenen Titeln 116 Schilling, für das Zimmer 16 in Baracke 6 (ebenfalls fünf mal fünf Meter Größe) 95 Schilling usf. — Man darf wohl annehmen, daß von diesen Zuständen den leitenden Stellen des Rathauses nichts aus dem Augenschein bekannt war. Der Name der Stadt Wien verträgt diese barbarischen Tatsachen nicht.

Im Kampf um die V olksseuchen wird man vergeblich auf die Meldung warten, daß nun für die Gesundheit der Menschheit nichts mehr zu befürchten ist. Wohl aber kann es gelingen, einer einzelnen Seuche soweit Herr zu werden, daß alle jene Fälle ihres Auftretens ausgeschaltet werden, die durch Gleichgültigkeit und Unkenntnis verursacht werden. Von dieser Überzeugung beseelt, hat man in Wien der gefährlichsten Krankheit dieser Stadt —1 der Tuberkulose — schon vor Jahrzehnten einen unermüdlichen Kampf angesagt, der große: Erfolge verzeichnen konnte, in dem es aber auch schwere, vor allem durch den letzten Krieg verursachte Rückschläge gab. Die Gemeindeverwaltung hat darum nach 1945 vieles getan, um der neuen Ausbreitung dieser Volksseuche entgegenzutreten und die Zahl der Todesfälle womöglich sogar unter den Vorkriegssatz zu drücken. Zu. diesem Zweck wurde die Zahl der Tbc-Stationen seit 1945 um Stäben vermehrt, so daß Wien heute über 21 modern ausgestattete Stellen verfügt. Die Zahl der Todesfälle an. Tbc beträgt zur Zeit acht auf 10.000 Einwohner, steht also weit hinter den Krebs-ud Gefäßerkrankungsfällen. Als ein anderes Zeichen der allgemeinen Liquidation der Kriegsfolgen ist die rapide Abnahme der Geschlechtskrankheiten zu vermerken. Man kann sicherlich von einer moralischen Stabilisierung sprechen. Leider dehnt sich die Tbc in manchen anderen Teilen Österreichs aus, statt abzunehmen.

Flurbereinigungen vom amerikanischen Koloradokäfer bis zum eingeschlichenen „klassenfeindlichen Element“ sind jetzt, im Schatten internationaler Entscheidungen, hinter dem Vorhang große Mode. Die Tschechoslowakei, O s t-deutschland, Rolchina kündigten letzthin große S ä u b e r u n g s m a ß-n ahmen innerhalb der örtlichen Parteikader an. Auch hierin eifern die Volksdemokratien der „großen Lehrmeisterin'', der Sowjetunion, nach, wo sich bekanntlich der Hundertsatz vollprivilegierter Genossen wenig über zwei Prozent erhebt. Inzwischen hat Rumänien, auch hierin musterhaft, seit November v.J. 20 Prozent seiner Mitglieder als „Ausbeuter“ und „inaktiv“ bereits ausgeschlossen. Überdies wurde Ende Juni d. J. ein Beschluß der Plenarsitzung des Zentralkomitees der Rumänischen Arbeiterpartei vom 17. bis 19. Mai d.J. veröffentlicht; der die „Reinheit der Parteireihen“ als eine „tägliche, ständige Aufgabe jeder Parteiorganisation, jedes Parteiorgans und jedes einzelnen Parteimitglieds“ bezeichnet. Keine leichte Aufgabe! Zählte die KP 1939 noch 1000 Mitglieder, so erreichte das Übersoll im Herbst 1949 fast 1,000.000. Im Februar 1948 erfolgte die Vereinigung der KP mit den Sozialdemokraten zur jetzigen „Rumänischen Arbeiterpartei“. 'Mit oftgeübter, balkanischer Wendigkeit stürzten sich die „Fripturisten“, die „Bratenriecher“, in: die neue Regierungsparlei. Außerdem bildeten und bilden gerade nichtprominente Legionäre, Nationalzaranisten usw. „Nester“ innerhalb der RAP, so daß der Generalsekretär Gheorghiu-Dej diese unerwünschten Prozente als Elemente bezeichnete, „die der Arbeiterklasse fremd waren, unehrliche, moralisch zersetzte Menschen, Karrieremacher und schließlich direkt feindliche Elemente: Faschisten, bürgerliche Nationalisten, Ausbeuter, Agenten des Unterdrückungsapparates der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer“. Künftig müssen 60 Prozent der Neuaufnahmen Arbeiter sein. Die „Kandidatenzeiten“ betragen für Industriearbeiter ein halbes, für Kollektivbauern und Angestellte in Kleinunternehmen ein ganzes und für alle anderen Kategorien anderthalb Jahre. — Nun dürfte, der Sand aus der Parteim,aschinerie der übrigen Volksdemokratien entfernt werden. So haben auch konkurrenzlose „Regierungsparteien“ ihre Sorgen.

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