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Randhemerkungen zur woche

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Das belgische Königsdrama hat sein vorläufiges Ende gefunden. Unter dem Druck der mobilisierten Straße hat König Leopold III., wie es in der Erklärung heißt, „zeitweilig“ seine königlichen Rechte auf Kronprinz Baudouin übertragen. Ein Bür-gerkrieg, ja vielleicht sogar der Zerfall des kleinen Landes, über das zwei Weltkriege mit all ihren Schrecken hinweggegangen sind, Wurde durch den Entschluß des umkämpften Monarchen abgewendet. Aber noch sind nicht alle Gefahren gebannt. Daß der Ruf nach der Straße, der Appell an die Gewalt, nie straflos erfolgt, muß jetzt auch Henry Spaak, der in dem Streit um König Leopold leider nicht seinen Ruf als weitblickender Staatsmann von europäischem Format bekräftigt hat, sondern sich als ein radikaler Parteiführer zeigte, erkennen. Seine Erklärung, er habe die Massen nicht mehr in der Hand, ist ein trauriges Eingeständnis der von ihm mitbereiteten Situation. König Leopold wird — wie Gerüchte wissen wollten — sich wieder ins Exil begeben, zurück aber bleibt ein Land, in dem der tiefe Graben zwischen den beiden Nationalitäten des belgischen Volkes breiter ist als lange zuvor. Viel Zeit und die Anstrengungen der besten Kräfte werden notwendig sein, damit wieder Bürgerfriede und ruhige Arbelt das Bild der wallonischen Städte und flämischen Dörfer beherrschen.

Die moderne Massenpropaganda folgt einer seltsamen inneren Logik. Sie besitzt eine Tendenz in jene Richtung, die der Schriftsteller George Orwell treffend als „kollektiven Solipsismus“ bezeichnet hat. Das heißt, sie nimmt im Grunde nur sich selbst zur Kenntnis, ist bestrebt, möglichst viel und möglichst laut zu schreien, wobei der ursprüngliche Zweck der Werbung und Überzeugung immer mehr in den Hintergrund tritt. Man kümmert sich nicht mehr darum, ob dieser Zweck auch erreicht Wird; was denn auch dann meist nicht der Fall ist. Das gilt im besonderen Maße von der Propaganda der verfeindeten „Alliierten“ hier bei uns in Österreich und dabei nieder von der Run d f unk p r o.p a g an d a, weil hier die Vergewaltigung des Opfers, dem nichts übrig bleibt als radikales Abschalten, am stärksten ist. Die neue russische Forderung an die Ravag nach bis zu acht Sendungen pro Tag läßt noch dazu einen neuen Wettlauf der einzelnen „Elernente“. und damit eine weitere. Steigerung der Propagandasendungen aller, fast nur mehr im geographischen Sinne österreichischen, Stationen erwarten. Eine große englische Zeitung hat in ihrem Leitartikel eben einen Vorschlag gemacht, der offenbar nur im klassischen Lande des „common sense“, des gesunden Menschenverstandes, erwachsen konnte: sie meinte nämlich, daß jener Alliierte, der zuerst die Sender seiner Zone völlig frei in österreichische Hände übergibt, damit einen stärkeren Propagandaerfolg erzielen würde, als alle „russischen“, „amerikanischen“ und anderen Stunden zusammengenommen; — was wir aus unserer Kenntnis der österreichischen Volksstimmung gegenüber dem „Ätherkrieg“ nur bestätigen können.

In Salzburg haben die Festspiele begonnen. Wie ihr künstlerischer Erfolg sein wird, bleibt noch abzuwarten — ihr materieller und nicht zuletzt propagandistischer Erfolg aber darf schon jetzt als gesichert gelten: die Karten zu den verschiedenen Veranstaltungen sind fast restlos verkauft, zahlreicher denn je sind ausländische Gäste nach Salzburg gekommen und mehr als 700 Rundfunkstationen in der ganzen Welt wollen Übertragungen aus Salzburg durchführen. Dennoch ist der Erfolg auch in diesem Fall nicht alles; es mag sein, daß über diesen oder jenen Punkt der Festspielordnung eine sachliche Diskussion nicht nur zulässig, sondern auch fruchtbar wäre. Als Ganzes genommen aber sind die Salzburger Festspiele ein bedeutsamer Beweis österreichischen Kultur- und Lebenswillens. Und deshalb ist es unverständlich, daß ein Blatt wie das Zentralorgan der Sozialistischen Partei zum journalistischen Boykott der Festspiele aufruft — lediglich aus Ärger über die seiner Ansicht nach allzu hohen Eintrittspreise. Wozu der Kritiker einer anderen sozialistischen Zeitung, der die Notwendigkeit der Salzburger Festspiele mit einem dreifachen Ja betont, richtig bemerkt, daß „angesichts der Steigerung anderer Preise seit 193S der Theater- und Konzertbesuch seit 1938 vergleichsweise billiger geworden ist“. Die Festspielleitung hat übrigens heuer, was zu begrüßen ist, die Gewerkschaften zu Kollektivbesuchen aller Generalproben eingeladen und scheint dem Gedanken, eine Festspiel-Vor- und Nachsaison mit niedrigeren Preisen einzuführen, auch nicht ganz ablehnend gegenüberzustehen. Nein, die Salzburger Festspiele sind ein österreichisches Aktivum. Ihr offizielles Defizit steht zu den steuerlichen Mehreinnahmendes Staates nachweisbar in einem Verhältnis von 1:10. Und letztere wiederum stehen in keinem Verhältnis zu dem in Zahlen nicht ausdrückbaren moralischen und geistigen Gewinn. Kleinliche Ressentiments sind den Festspielen gegenüber nicht am Platze.

Der Bürgermeister der Bundeshauptstadt hat sich ' in einem Aufruf gegen den Unfug gewendet, Gehsteige und Häuserwände mit propagandistischen Aufschriften zu verunzieren. „Nun, da Wien fast schon wieder den Eindruck einer gepflegten Stadt mache, wirke es doppelt störend, wenn wieder Parolen auf Gehsteige geschrieben werden, die, von der Gegenseite übertüncht, über Nacht immer wieder aufs neue erstehen, bis die Straßen Wiens farbenverkleckst einen häßlichen Anblick bieten.“ Der Appell des Bürgermeisters, daß es doch auch noch Werbemittel gebe, die nicht Straßen und Gebäude unnötigerweise verunstalten, wird die Zustimmung eines jeden Vernünftigen finden. Wien sieht zweifellos ohne meterlange ölbuchstaben auf seinem Pflaster Viel schöner aus. Einen gepflegten Eindruck macht die österreichische Metropole leider aber auch dann noch nicht. Noch immer fällt — aus be- y kannten Gründen — der Verputz in umfang' rpichen Bruchstücken von den Fassaden der Privathäuser — und wir könnten sogar einige der großen Gemeindebauten nennen, bei denen das auch nicht anders ist. Noch immer läßt die Straßenreinigung sehr zu wünschen übrig, wovon an windigen Tagen riesige Schmutz- und Staubwolken in den Wiener Straßen einen sehr ins Auge fallenden Beioeis liefern. Tausende von Fenstern sind, fünf Jahre nach den letzten Bomben, an Stelle teuren Glases noch mit Pappendeckel vermacht, und Ruinen und Schuttparzellen gibt es noch in Menge. Von den kleineren Merkmalen, an denen der Lebensstandard einer Großstadt nicht weniger deutlich abzulesen ist — den fehlenden Straßentafeln, verbogenen Parkumfriedungen, ungenügender Asphaltierung und schlecht funktionierenden Telephonzellen — sei geschwiegen. Natürlich, die Bundeshauptstadt wirkt, das läßt sich nicht bestreiten, sauberer und wohl auch repräsentativer als noch vor zwei Jahren. Aber gepflegt? Dazu braucht's noch Ehrgeiz und Anstrengung!

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Allmählich, beginnt sich der Bevölkerung eine Sorge zu bemächtigen, die selbst die politischen Ereignisse überschattet: die Sorge über die Zunahme unaufgeklärter Verbrechen. Solange Verbrechen einer gewissen abnormen Konsequenz nicht entbehren, nimmt sie der einfache Bürger als etwas zur Kenntnis, das außerhalb seiner Sphäre in einem Bereich geschieht, zu dem der normale Mensch keinen Zutritt hat und das seinen Bereich nicht berührt. Anders sind Verbrechen, die sozusagen „blind“ ihre Opfer fassen. Die typischsten Verbrechen dieser Art sind die Sexualverbrechen. Der normale Mensch empfindet über die Abscheu vor diesen Verbrechen hinaus ein besonderes Grauen, weil das Verbrechen in dieser Gestalf jeden ahnungslosen Menschen ereilen kann. Nun hat die Häufung solcher Untaten binnen kurzer Zeit in Österreich eine besondere Unruhe ausgelöst, weil von den bisherigen sieben Fällen nur einer mit der Festnahme des Täters endete. Bei den anderen fünf Untaten, darunter drei Blutverbrechen, konnte man der Täter bis heute nicht habhaft werden, obgleich in zwei Fällen sogar die Person des Täters genau feststeht und im dritten Fall eine vollständige Personsbeschreibung vorliegt. Vertieft wird dir.Eindruck der Hilflosigkeit in der Öffentlichkeit noch dadurch, daß eine Reihe weiterer schwerster Verbrechen der letzten Zeit nicht aufgeklärt werden konnte. Daß diese Täter offenbar eine biedere Doppelexistenz mitten unter uns führen,ist nicht weniger beunruhigend als die Möglichkeit neuer Untaten. Es wäre verfehlt, mit Vorwürfen wegen der Ungeklärtheit der Verbrechen zu kommen, aber es gilt, eine sehr elementare Erscheinung in diesem Zusammenhang festzuhalten: nämlich die Scheu des Publikums, Vermutungen nachzugehen und mit der Polizei in Berührung zu kommen. Täter dieser Art werden nicht nur durch kriminalistischen Spürsinn, sondern ebensosehr durch Beobachtungen einfacher Leute aufgestöbert. Daß das heute nicht in früherem Umfang der Fall ist, ist nichts anderes als der Ausdruck der allgemeinen Vertrauenskrise gegenüber dem Apparat und eine Folge der heutigen Isolierung des einzelnen in Gleichgültigkeit. Man hat im Ausland begonnen, dieses Hindernis in der Verbrecherbekämpfung aus dem Weg zu räumen, und man hat dabei erstaunlich gute Erfahrung gemacht. Es wäre an der Zeit, vielleicht auch in Österreich diesem Punkt ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. Die Verbrechen der letzten Wochen sind eine zu ernste Mahnung.

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