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Randhemerkungen zur woche

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IN EINEM KRITISCHEN MOMENT der westöstlichen Beziehungen, in dem der Abschluß des Waffenstillstandes in Korea bereits perfekt schien, lenken die ostdeutschen Vorgänge die Anteilnahme auf sich. Niemand kann heute bereits sagen, unter welchem Namen die blutigen Ereignisse in Berlin, in den ostdeutschen Industriestädten, in den thüringischen Feldern und in den Uranschäch-teh Ostdeutschlands in die Geschichte eingehen werden. Die Geschichte Europas kennt kein einziges Beispiel einer Massenerhebung gegen ein totalitäres Regime in den hier allein heranzuziehenden neueren Zeiten. Die Erhebungen gegen Mussolini und Hitler, auch die Taten der Resistance in Frankreich und den von der Wehrmacht besetzten Gebieten waren Aktionen einzelner. Heroische Einzelakte, hinter denen sicherlich breitere Massen standen. Erst mit dem siegreichen Einzug der Alliierten-Truppen traten diese aber auf die Straße. —- Ganz anders die Volkserhebung in Ostdeutschland. Aus einem gerenkten Protestmarsch, der, mit Unterstützung der Besatzungsmacht, die ostdeutsche Regierung diskreditieren sollte, die sich als gänzlich unfähig erwiesen hatte, die Wünsche der Besatzungsmacht und die primitivsten Lebensbedürfnisse des Volkes zu befriedigen, wuchs eine Erhebung, die mit Panzern, Standgerichten, Massenverhaftungen und Hinrichtungen niedergeworfen werden mußte. — Die Folgen sind noch nicht übersehbar. Fallen sollte das Gesicht der Regierung, deren führende Köpfe bereits

mehrfach als verzweifelt einsame Sektierer und Doktrinäre zuvor bloßgestellt worden waren; lädiert, zerkratzt ist nun das Gesicht der Besatzungsmacht. Geschändet ist das Antlitz des Menschen. Die ostdeutschen Arbeiter kehren an ihre Arbeitsstätten zurück. Nicht alle können fliehen, nicht alle können verhaltet werden. Bleiben ihre Toten, einfache Menschen, die an Freiheit und Menschenwürde glaubten, und für sie, allein, helen. — Man wird diesen Opiern nicht gerecht durch Schlagzeilen in den Gazetten; auch nicht durch Heldenehrungen, durch Aufrufe zum Kampf und durch andere fragwürdige Versuche, sie, die Toten, noch dienstbar zu machen einer parteipolitischen Reklame, einer weltpolitischen Propaganda. Ernster und viel schwieriger stellt sich die Frage: Was haben wir, was hat der Westen getan, um jene Zustände mit zu schaffen und mit zu garantieren, in denen Ostdeutschland leben muß? Welche konstruktiven Pläne liegen vor, um auf friedlichem Wege die Lage der ostdeutschen Massen zu erleichtern? Diese Toten sind, darüber wird man sich noch viel klarer werden müssen, die Opfer aller Unklarheiten, Unlauterkeiten unserer Epoche des kalten Krieges. Man weine keine falschen Tränen. Man schreie nicht nach Rache. Das sind billige und sehr riskante Versuche, die eigene Sorge abzureagieren. Mari handle richtig. In entschiedenen Verhandlungen, die zu positiven Ergebnissen führen können, wenn man sich der Verantwortung für ganz Europa bewußt ist. Die Rechnung wird nämlich nur dann in ihrer ganzen Tragweite richtig gesehen: für jeden Toten im Osten trägt der Westen mit die Verantwortung, solange er nicht alles Menschenmögliche, alles Menschliche, Menschenwürdige getan hat, um ihren Fall zu verhindern. Denn es sind die Toten Europas, es sind unsere Toten.

DIE SCHWEIZ WAR IN DEN LETZTEN WOCHEN der Schauplatz eines Kampfes um die Freiheit der Presse, der in der ganzen freiheitlichen Welt höchste Beachtung fand, in Oesterreich jedoch nicht vermerkt wurde, obwohl wir Grund genug hätten, ihn zu würdigen. Die „Gazette deLausann e“, eine der ältesten und angesehensten Zeitungen Europas, gegründet 1798, sollte das Opfer einer stillen inneren Revolution werden. Einer jener Revolutionen, die so oft in den letzten hundert Jahren mutigen Blättern das Genick gebrochen haben, man denke nur an den jungkaiholischen „Avenir“ in Frankreich. Einer kleinen Gruppe waadtländischer Großindustrieller war es gelungen, die Aktienmehrheit zu erwerben und damit die Möglichkeit, dem Blatt eine andere Richtung zu diktieren. Dieser Handstreich hat aber andere Folgen gehabt, als die, die Wir alle kennen: stillschweigend stellt sich die Redaktion um... Nicht so in der Schweiz. Nach einem siebenjährigen inneren :Widerstand der gesamten Redaktion gegen den immer stärker weidendtn Druck

der Financiers demissionierte nun unter Führung des Chefredakteurs Pierre Beguin (eines Verwandten übrigens von Albert Beguin, des Freundes und Nachlaßverwalters von George Bernanos) die gesamte Redaktion, indem sie gleichzeitig an die Schweizer Oetlentlichkeit appellierte: sie habe die Führung des Blattes als eine Treuhänderschaft betrachtet und könne nun nicht mehr mit gutem Gewissen das Blatt als eine „unabhängige“ Zeitung führen. — Diese Demission erregte ungeheures Aufsehen — es wäre zu einer Behandlung der Sache im Bundesrat auf Antrag des Nationalrates gekommen, wenn nicht zuvor bereits die Freiheit gesiegt hätte: die hochkapitalistische waadtländische Gruppe mußte sich zurückziehen, ihre Aktienmehrheit

preisgeben ..... die Aktien wurden nun auf

viele kleine Besitzer verteilt. Ein führendes katholisches Organ der Schweiz kommentiert den ganzen Fall: „Die liberale, d. h. protestantisch-konservative Linie ist nicht die unsrige. Trotzdem sind wir stolz auf den unbeugsamen Freiheitswillen, mit dem unsere Kollegen in Lausanne sich mit großem persönlichen Einsatz für die entscheidende Freiheit der Presse gewehrt haben.“ Bleibt noch ein kurzer österreichischer Kommentar fällig: die Demokratie lebt nur so lange, als es möglich ist, solche Siege zu erringen. In scheinbar „nebensächlichen“ Fragen, an Nebenfronten. Man spricht bei uns sehr groß von großen weltanschaulichen und weltpolitischen Entscheidungen, in denen Oesterreich stehe und auch tatsächlich steht. Vergißt dabei aber zu oft: die Entscheidungen in diesen großen Sachen“ werden bereits vorentschieden in den vielen kleinen Entscheidungen, die bei uns überhaupt nicht gefällt werden. Weil der einzelne viel zu schwach erscheint, sich wider größere Mächte zu behaupten, Und deshalb als Professor, Redakteur, Politiker vorzeitig aulgibt, sein Gewissen zu behaupten wider den Druck der Masse und der „Mehrheit“. Worauf „einstimmig“ beschlossen oder nicht beschlossen wird, den Kurs zu ändern...

NUR 25 PROZENT DER JUGENDLICHEN, die im kommenden Jahre eine gewerbliche oder technische Lehranstalt besuchen wollen, werden auch aulgenommen werden können. Räumliche Gründe sind datür maßgeblich: in den bestehenden Lehranstalten ist, seitdem erhöhter Wert auf die praktische Ausbildung gelegt wird, einfach kein Platz mehr vorhanden. Obgleich ein Großteil der Klassen bereits Wanderklassen sind, die kein festes Heim haben, sondern zwischen Zeichen- und Turnsaal hin- und herpendelnl Eine Anstalt, die Schule für gewerbliche Frauenberufe in Wien, wird überhaupt in nächster Zeit obdachlos werden. Eine neue Unterbringungsmöglichkeit wurde für sie bisher noch nicht gefunden. Dabei besteht nach wie vor dringender Bedarf an> Absolventen dieser Anstalten, ob sie nun fertige Ingenieure oder Techniker oder „nur“ Facharbeiter mit Spezialausbildung sind. In diesen Tagen haben die Abschlußprüfungen stattgefunden. Schon Wochen vorher liefen die Anfragen der verschiedensten Firmen ein, die sich um die Neueinstellung von Absolventen bewarben. Schon heuer wird der Bedarf, den die Wirtschaft hat, kaum befriedigt werden können. Während die Universitäten mit Studenten übervölkert sind, während Tausende Jugendliche arbeitslos sind und keine Lehre finden, besteht hier Bedarf an Schulraum und Gewerbelehrern, um alle Jugendlichen für den Beruf ausbilden zu können, der bereits auf sie wartet. Vergessen wir eines nicht: ebenso wichtig die Besetzung aller Lehrkanzeln auf. der Universität ist die Heranbildung von Fachleuten für die Wirtschalt in breitestem Ausmaß, denn gerade diese „kleinen“ und „mittleren“ Berufe sind es, die die Staatspyramide tragen.

„OPEN HOUSE' — heißt die <n den USA weitverbreitete Einrichtung, die Angehörigen der Mitarbeiter eines Betriebes von Zeit zu Zeit zu einer Besichtigung einzuladen. Man hat damit gute Erfahrungen gemacht. Der Familienerhalter verbringt nun nicht mehr Tag um Tag in der Klausur einer Arbeitsstätte, von der die Familienmitglieder nur höchst unklare Vorstellungen haben, oft nur von den (vermeid-lichen und unvermeidlichen) Schattenseiten Kenntnis erhalten. Der Kontakt über das Lohnsackerl allein ist nach einer modernen, soziologischen Auffassung allzu wenig, um jenen Geist des Mitlebens und Mitteilnehmens herzustellen, der den beiderseitigen Motrialismus des alten Lohnverhältnisses endlicli ersetzen muß. Die Vermenschlichung der mechanisierten Arbeit ist eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung eines neuen Geistes, aus dem erst eine sinnvolle Mitbestimmung und Mitteilhaberschaft der Betriebsangehörigen erwachsen kann. Ein Problem, dem man im Westen bereits planvoll näherrückt, während es in Oesterreich vielfach noch als revolutionär gilt, diese Problematik aus der Sphäre der Rhetorik in die Realität zu übertragen.

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