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Randhemerkungen zur woche

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DER GROSSE KEHRAUS IM NATIONALRAT ist vorüber. An die drei Dutzend Gesetzesvorlagen wurden, nachdem sie freilich schon durch Wochen und Monate Ausschüsse und Kommissionen ebenso wie eine weitere Oeitentlichkeit beschäftigt hatten, vom Plenum des Hohen Hauses in Marathonsitzungen verabschiedet. Wirtschaftsgesetze waren es vor allem, unter ihnen solche von erstrangiger Bedeutung wie das Jugendeinstellungsgesetz und jenes über die Altersversorgung der Gewerbetreibenden — über jedes einzelne dieser Gesetze könnte man ausführlich sprechen und es wird sicherlich noch Gelegenheit dazu sein — neben einigen Wohnbauvorlagen, die, wenn auch keine größere Aenderung, so doch etwas Auflockerung und Bewegungsfreiheit in die noch stark unter den Kriegs- und Nachkriegseinwirkungen stehende Wohnungspolitik bringen und andere mehr. Hoffen wir, daß nicht durch die Erfahrungen kommender Monate allzuviele Novellierungen notwendig sind, denn selten ist etwas so ungut wie ein legislatorisches Flickwerk. Bestimmt soll die Arbeit unserer Volksvertreter nicht geschmälert werden, indem man allzu gedankenlos vom „Durchpeitschen der Gesetze“ spricht, die dem Außenstehenden verborgene Arbeit in den Ausschußzimmern hat ihren hohen Rang, allein es erscheint ebenso wenig gerechtfertigt, die Bedeutung einer diskussionsfreudigen Vollversammlung herabzumindern und zu argumentieren, „daß die Plenarsitzungen des Parlaments mehr Formaiakte sind“. Eine solche Auflassung würde ja außerdem im Gegensatz zu der vom Regierungschef wiederholt betonten stärkeren Verlagerung des politischen Schwerpunktes in das Parlament stehen .., Daß der gerade von den österreichischen Katholiken mit besonderem Interesse verfolgte Initiativantrag über die Freizügigkeit der Eheschließung nicht mehr behandelt wurde, erscheint auf den ersten Blick bedauerlich. Allein vielleicht hat diese Verzögerung doch etwas Gutes. Es wäre nicht schön gewesen, diese Frage, die so sehr das persönliche Leben und die individuelle Entscheidung betrifft, schnell, schnell zwischen zwei Wirtschaftsgesetze einzuschieben und außerdem läßt die kühlere Jahreszeit dann doch auch eine andere, eine bessere und ruhigere Aussprache erwarten als eine in Torschlußstimmung geführte. Noch eine Bemerkung zu dem Schlußwort des Präsidenten und seinen Ueberlegungen, ob nicht am Schluß einer jeden Sitzung ein Forderungsruf an die Adressen der Großen dieser Welt angebracht sei. Dieser Gedanke braucht nicht unbedingt ein Gedanke zu bleiben. „Herr, gedenke der Athener“, mahnte nach jeder Mahlzeit einst ein Sklave den persischen Großkönig, und im römischen Senat sprach der alte Cato sein berühmt gewordenes „Ceterum censeo ...“ „Seid eingedenk euer feierlichen Versprechungen, gebt Oesterreich seine Freiheit und Unabhängigkeit“: dieser Mahnruf aus der Mitte der österreichischen Volksvertretung, über die ganze Welt hinweg würde er schallen! *

„LEB WOHL BALD AUCH .AKTION'?“ Diese Frage setzten wir an den Schluß einer „Randbemerkung“ („Die Furche“, 25. 4.) als von seiten des „Verbandes der Unabhängigen“ der Plan sich mit der „Aktion zur politischen Erneuerung“ zu einer „Sozialen Erneuerungsbewegung“ zu verschmelzen, verworfen wurde. Ohne Gefallen für die Rolle des politischen Propheten wurde dabei zum Ausdruck gebracht, daß auch die Frage der Selbständigkeit der „Aktion“ von seiten des VdU eines Tages auf die Tagesordnung gebracht und einer sehr einseitigen Lösung zugeführt werden würde. Nun ist es soweit. Der Bundesverbandstag des VdU hat in Villach auch die Kompromißformel, Namensänderung in „Wahlpartei der Unabhängigen“, abgelehnt und strikte Unter-weriung, das heißt Eintritt der Mitglieder der „Aktion“ in die Landesverbände des VdU, gefordert. Bis zum nächsten Bundesverbandstag sollen zwar sechs Mitglieder der „Aktion“ in den VdU-Bundesvorstand kooptiert werden allein — man höre! — es wird ausdrücklich betont, „daß die Aktion nicht die Möglichkeit habe, andere als die vom VdU-Bundes-verbandstag vorgeschlagenen Personen lür die der Aktion zugestandenen Positionen zu nominieren. Sollte eines dieser Aktions-Mitglieder eine Kooptierung in die Bundesverbandsleitung des VdU unter den vom Bundesverbandstag vorgeschlagenen Bedingungen ablehnen, so verfällt der Aktion dieser Leitungssitz.“ Mit anderen Worten: Unconditional surrender, bedingungslose Uebergabe... Nun, noch einmal hat die „Aktion“ nein gesagt. Wie lange wird ihr das möglich sein — und1 gleichzeitig im KdU zu bleiben?

*

DER PARTEISEKRETÄR RAKOSI trat genau eine Woche nach Antritt der Regierung Nagy in einer eiligst zusammengerufenen Großversammlung vor die „Partei der ungarischen Werktätigen“. In einer noch längeren Rede als der seines Nachfolgers erläuterte er, daß der ganze Wechsel an Person und Programm nicht so gemeint war, wie man es — offensichtlich die gesamte Bevölkerung — verstand. „Es wäre richtiger gewesen“, so sagte er, „die notwendigen Maßnahmen im Namen unserer

Partei bekanntzugeben, da so mehrere Genossen im unklaren darüber waren, daß diese Maßnahmen im Namen der Partei vorgeschlagen wurden“. Er unterstrich noch einmal das „alles“ — meinte aber dann doch nur die wirtschaftspolitischen Aenderungen und den Tadel, erwähnte die Amnestie kaum noch und die kulturpolitischen Ankündigungen des Ministerpräsidenten überhaupt nicht mehr — und betonte, daß nur die Fehler der übertrieben forcierten Planwirtschalt, aber nicht diese selbst eliminiert würden. Diese Versammlung mußte einberufen werden, „da viele Bauern in der vergangenen Woche gleich ihre Aecker zurückhaben wollten“, das Ende der „Genossenschaften“ verkündeten und damit „die Erntearbeit störten“. Es sei ein Großangriff gegen die landwirtschaftlichen Genossenschaften im Gange, „aber die Partei wird sie verteidigen“. „Wir müssen dafür sorgen, daß die Kulaken von ihrem Irrglauben rasch ernüchtert werden.“ Seine Rede schloß Rakosi mit einem flammenden Aufruf an die Parteimitglieder: sie sollen zum „Gegenangriff“ übergehen. Nach ihm sprach Ministerpräsident Nagy, der die Einheit der Parteileitung beteuerte. Die anfangs etwas

kleinlaute Versammlung fand sich wieder, aber die Rufe ertönten nicht wie einst: „Eljen Rakosil“, sondern bloß: „Eljen a pari.'“ (Es lebe die Partei!) Man tragt etwas erstaunt: was soll diese Zickzacklinie, die plötzliche Selbstkritik einer ebenso unerwartet gekommenen Selbstkritik? Von einem „Rakosi rediviusi“ kann selbstverständlich nicht die Rede sein, ebensowenig, wie er jemals „gestürzt“ war. Bei der denkwürdigen Parlamentssitzung saß er hinter dem Ministerpräsidenten und verzog keine Miene, während dieser die bisherige Regierungspolitik scharf kritisierte. Dazu erklärt er jetzt: die Teilung in der Führung von Partei und Staat erfolgte, „weil beide Ressorts einen ganzen Mann beanspruchen“. Wir meinen eher, daß dieser vorzügliche Taktiker nicht nur die Lehre von Berlin, sondern viel mehr noch die von Moskau sehr richtig erfaßte und mit seinen Schachzügen erstens die Agrar-bevölkerung 1— auf diese kommt es in Ungarn noch immer an — zu beruhigen suchte und zweitens seine eigene Person etwas in den Hintergrund stellen wollte. Es hat den Anschein, daß vorläufig zumindest beides mißlang. •

DIE FORTSCHREITENDE ENTWURZELUNG DES ORIENTALEN wird in Europa wenig beachtet. Hinter den bewegten politischen Problemen des Raumes stehen aber noch größere metaphysische. Der Westen hört von der Immunität der Moslems, der Hindus gegenüber den marxistischen Ideologien und hört dabei ganz richtig, so weit der gläubige, der noch gläubige, Orientale in Frage kommt. Die Auflockerung von Familientraditions- und Religionsbindungen durch das Eindringen an sich begrüßenswerter westlicher Einflüsse läßt aber gerade in den durch diese erfaßten Eliten ein Vakuum entstehen, in das materialistische Doktrinen einströmen. Die westliche Kultur bereitet in der Art, in der sie vermittelt wird, zugleich mit der Faszination der modernen Technik hierfür den Boden. Die Unterweisung durch die Europäer hat oft eine auflösende Wirkung. Diese Art der „modernen' Erziehung ist so vielfach für die geistige Trennung der Eliten von den Massen verantwortlich. Eine profane Zivilisation hat den metaphysischen Rahmen des Orients zerbrochen und schaltet das alte geistige Erbe dieser Länder aus. Dazu kommt die ungünstige Wirtschaftslage gerade der Intelligenzschichten, die ihre Arbeit und ihre Kenntnisse in einem Maße unterwertet sehen, daß sie für radikale Experimente anfällig werden. So kommen die Prediger eines Umsturzes nicht aus dem Volke selbst, sondern aus den mittleren Klassen, und sie finden in den trostlosen sozialen Zuständen der Massen genug sachliche Angriffspunkte. Es sind dies Erscheinungen, die auch in Europa in seinen „Emanzipationsepochen“ auftraten, die aber bei der labilen Weltlage, den immensen Menschenmassen, um die es sich handelt, mit Sorge betrachtet werden müssen. Denn eine innere weltanschauliche Renaissance braucht mehr Zeit, als vielleicht zur Verfügung steht. Die gläubigen Moslems haben, wie erst kürzlich die bekannte Ansprache des Sultans von Marokko bewies, das Problem und die natürliche Bundesgenossenschalt des Christentums erkannt. Es wäre von größter Bedeutung, wenn auch die anderen großen nichtchristlichen Religionen den Weg zu einer solchen Erkenntnis fänden. Sie würde zum Beispiel bei einer inneren Konsolidierung Südasiens unschätzbare Dienste leisten

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