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Randhemerkungen zur woche

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ALSO DOCH/ Diese zwei Worte kann man in Wien in diesen Tagen oft hören. Sie v/erden von jenen gesprochen, die noch bis zuletzt gehofft hatten, die sozialistische Mehrheit des Wiener Gemeinderates verde auf die Frage der Tariferhöhung der Wiener Straßenbahnen keine Prestigefrage machen, sondern sich vernünftigen und nicht zuletzt auch sozialen Argumenten — gibt es eigentlich gewichtigere für eine Partei, die sich sozialistisch nennt? — zugänglich zeigen. Die allein mit den Stimmen der Sozialisten beschlossene Sckmälerung des Realeinkommens gerade der ,sozial schwachen Schickten der Bundeshauptstadt hat das Gegenteil bewiesen. Die Sozialisten Wiens — einst die Avantgarde des österreischischen Sozialismus — sind heute Waclis in den Händen von gewissen Managern. Der Vorgang ist bezeichnend; Der Stadtrat für Finanzen tritt mit einem fix und fertig ausgearbeiteten Plan zu einem genau ausgerechneten Zeitpunkt vor die Oeffentlichkeit, boxt diesen zunächst durch ein Parteigremium und geht dann in den Gemeinderat, wo der von einer schweren Krankheit kaum erholte Bürgermeister die undankbare Aufgabe hat, den ebenso unpopulären wie auch ungerechtfertigten Projekt die Mauer zu bauen. Und noch etwas Zweites kommt hinzu: der Gewerkschaftsbund, sonst stets auf Posten, wenn irgendein Preisauftrieb zu registrieren ist, schweigt, die Arbeiterkammer meldet sich erst einen Tag nach der entscheidenden Abstimmung. Die Fäden der Regie sind unverkennbar... Es wäre unverständlich, wieso die sozialistische Taktik, die ansonsten ihren Gegnern oft überlegen war, sich diesmal derartige Schnitzer leistet, wenn nicht eben das Prestige die Vernunft überrundet hätte: man kann nicht mehr zurück. Oder: man glaubt einfach, nicht mehr zurück zu können. Die Wiener Volkspartei aber nütze die ihr von ihren Gegnern in die Hand gespielte Chance. Einige konventionelle Protestversammlungen werden freilich nicht genügen, auch Tumulte in der Gemeindestube sind nicht das richtige Mittel, das Ohr und die Zustimmung bisher unerreichter Schichten zu gewinnen. Neuer unkonventioneller Methoden bedarf es und des Mutes, nötigenfalls die Konsequenzen zu ziehen. Auch das in die Debatte geworfene Wort vom „Fahrgästestreik“ konnte Wirklichkeit werden und seine Wirksamkeit nicht verfehlen. Freilich bedarf es dazu nicht nur einer guten Organisation, sondern auch eines echten Kampfgeistes. Aber ist es nicht gerade jener, der allein Parteien vorwärtsbringt? Die Stunde der Volkspartei in Wien ist gekommen. Ungenützt verstrichen, kehrt sie sobald nicht wieder.

• DER MANN, VON DEM MAN SPRICHT, ist in diesen Tagen ohne Zweifel „Der W atschten-m an n“. Nicht jener alte aus dem Wurstelprater, der einem Auskunft über die physischen Kräfte gab, sondern jener andere, der Sonntag für Sonntag im Sender „Rot-Weiß-Rot“ zur Abreaktion des gelernten Oesterreichers bereitstand. Dieser „Watschenmann“ erfüllte seine Aufgabe mit treffsicherem Humor und beißendem Spott, so daß ihm eigentlich niemand recht böse sein konnte — mochte auch ein oder das andere Mal ein Hieb die unrechte Backe getroffen haben. Nim beendet in diesen Tagen „Rot-Weiß-Rot“ seine Sendungen und auch dem „Watschenmann“ soll es damit an den Kragen gehen. Denn — so spricht die Fama — im österreichischen Rundfunk sei man zwar gerne bereit, die harmlose „Radiofamilie“ oder etwa die Sendung „Musik zur Nacht“ in das Programm aufzunehmen — aber den „Watschenmann“ ,.. ? Davor scheue man doch zurück. Bitte, bedenken Sie doch die Interventionen von links und rechts, wenn diesem Amt oder jener Behörde einmal, na sagen wir, die Wange gestreichelt wird. Die Staatsbürger hören und staunen. Soll der freie österreichische Rundfunk weniger Mut zu einer freimütigen Sprache haben als der Sender einer Besatzungsmacht? Nun, eine solche „Einstellung“ würde wahrhaftig ein Schlag ins Gesicht der

österreichischen Demokratie sein,

FREIHEIT IN DER WAHL DES AUFENTHALTSORTES ist bekanntlich ein grundlegendes Verfassungsrecht (zumindest dort, wo man in der Verfassung ist, über Freiheit seine freie Meinung zu haben). Die Landarbeiterkammer von Oberösterreich — wo blieben die anderen Länder? — und der Land-arbeiter-Kammertag haben in einer Stellungnahme zum Entwürfe einer Kleinrentner-Gesetznovelle gegen das im österreichischen Rentenrecht verankerte Prinzip Einspruch erhoben, das den Auslandsaufenthalt des Rentenempfängers grundsätzlich mit dem Entzüge der Rente beantwortet. Nur wenn der Sozialversicherungsträger seine Erlaubnis zur Reise gibt, wird die Rente ausbezahlt; wobei hinzugefügt werden muß, daß aber auch dann eine Minderung des Geldbetrages eintritt. Das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz — das nachgerade zu einem Alpdruck wird — hält an dem Grundsatze fest, sozialen Schutz jenseits der Grenzen aufhören zu lassen, es sei denn, zwischenstaatliche Abmachungen bestünden. Der Auslandsaufenthalt ist damit gleichbedeutend mit dem Paragraphen, der einen Leistungsverlust bei einer höchst unfreiwilligen Reise vorsieht, nämlich Absitzen einer Strafe oder Einlieferung eines Erziehungsbedürftigen. Der Landarbeiter-Kammertag verweist in diesem Zusammenhange indirekt auf die Tatsache, daß die Sprache des Gesetzes stottert, wenn es sich um Personen handelt, die wegen ihrer politischen Ueberzeugung zwischen 1933 und 1945 auswanderten; diese sind besser gestellt als die inländischen Beitragszahler, auch dann, wenn die Ausgewanderten gar nicht mehr österreichische Staatsbürger sind. Der Ausgang des ersten Weltkrieges, mit den gewaltsamen Abtrennungen österreichischen

Staatsgebietes, zerschnitt viele verwandtschaftliche und damit auch wirtschaftliche Beziehungen; der Ausgang des zweiten Krieges hatte eine gewaltige Bevölkerungsverschiebung zur Folge. Bei den Kleinrentnern handelt es sich um keine Vergnügungsreisenden; viele von ihnen, besonders Alleinstehende, suchen bei Verwandten besseres Auskommen, oft auch Pflege. Das Erstaunen des Landarbeiter-Kammertages erstaunt freilich nur den, welcher nicht weiß, daß ein Arbeitsloser in Wien nicht einmal im Inlaude und nicht einmal für eine Woche verreisen darf, um mit Verwandten eine dringliche Angelegenheit zu besprechen. Er muß in diesem Falle auf die Unterstützung verzichten; leistet dafür einen Beitrag für die Freiheit, für die bekanntlich nichts teuer genug sein darf.

ALS „FUNKTIONÄR DER ARBEITER- UND BAUER.NMACHT“ wird in einer der grundlegenden Verordnungen des sowjetzonalen Ministerrates der Lehrer angeredet, der sich in seiner Vorbildung „feste Kenntnisse der Grundlagen des Marxismus-Leninismus als Voraussetzung für das Verständnis der Sowjetpädagogik, der fortschrittlichsten Pädagogik der Welt“, anzueignen habe. Der in Bethel erscheinende Informationsdienst für Schulfragen, „Die evangelische Elternschaft“, erinnert an diese Verordnung und weist auf weitere grundsätzlich wichtige Verlautbarungen über die Lehrerbildung in der Sowjetzone hin. Darnach muß der Lehrer imstande sein, nach einer entsprechenden Beschäftigung mit Staatslehre und aktueller Politik, „den grundlegenden Unterschied zwischen dem aggressiven Charakter des imperialistischen Adenauer-Staates und dem zutiefst demokratischen Charakter der DDR“ verständlich zu macheu. Wie dem Informationsdienst weiter zu entnehmen ist, sind aus den früheren Lehrerkonferenzen inzwischen Sitzungen des „Pädagogischen Rates“ geworden, der in kollektiver Erziehungsarbeit die Lehrer instand setzen soll, „ihre Aufgaben als Funktionäre der Arbeiter- und Bauernmacht immer besser zu erfüllen“. Der Informationsdienst weist darauf hin, daß Ministerpräsident Grotewohl 1953 einmal erklärt habe, die Beschäftigung im Schuldienst dürfe nicht von der Anerkennung des Marxismus-Leninismus abhängig gemacht werden. Trotzdem fühlen sich Tausende von christlichen Lehrern in der Sowjetzone als Lehrer „zweiter Klasse“. „Von uns wird Kenntnis des Marxismus-Leninismus verlangt und wir sind zur Weitergabe dieser Lehre an die Schüler von Amts wegen verpflichtet“, heißt es in der Denkschrift einer Gruppe von christlichen Lehrern. „Praktisch sieht das aber so aus, daß der Lehrer von Dingen reden und Dinge als unabänderlich wahr hinstellen muß, die in dieser Auffassung seiner gesamten geistigen Haltung widersprechen und daher nicht von ihm verlangt werden sollten.“

PREMIERMINISTER NEHRU UNTERNIMMT GERNE AUSGEDEHNTE REISEN, und er liebt es, die Erfahrungen, die er dabei gesammelt, und die Schlüsse, die er aus ihnen gezogen hat, der Welt bebekanntzugeben. Was man da zu hören bekommt, ist oft überraschend. So brachte er nach seiner Rückkehr aus Peking, im heurigen Frühjahr, die Meinung zum Ausdruck, daß die Machtergreifung der Kommunisten in China diesem Lande zu großem Nutzen gereicht habe; ein um so merkwürdigeres Urteil, als er selbst bekanntlich jede Gelegenheit wahrnimmt, um sich zum Prinzip der demokratischen Freiheiten zu bekennen und seine scharfe Ablehnung kommunistischer Gewaltmethoden — zumindest sofern sie das heutige Regime in Indien bedrohen — zu betonen. Nach Abschluß seiner jüngsten Besuchstournee, die ihn in die sowjetische Hauptstadt und nach Prag und Warschau, nach Wien und Belgrad, nach Rom und London geführt hat, hielt er es allerdings für besser, in seinem Reisebericht ideologischen Themen aus dem Weg zu gehen und den fundamentalen Gegensatz zwischen der freien Welt und dem Herrschaftsbereich der kommunistischen Diktatur nicht zu berühren; dafür aber hielt er im Rahmen einer Pressekonferenz in New Delhi einen Vortrag, in welchem er sich, zum Erstaunen der um ihn versammelten in- und ausländischen Journalisten, in Tönen höchster Bewunderung der wirtschaftlichen Fortschritte erging, die er in der UdSSR beobachtet habe, und mehr noch in Jugoslawien, in einem Lande also, dessen wirtschaftliche Schwierigkeiten notorisch sind und trotz der freigebigen Hilfe des Westens noch immer zunehmen. Weniger erstaunlich war es, daß Pandit Nehru auch bei diesem Anlaß wieder den angeblich berechtigten Anspruch Indiens auf die portugiesische Provinz Goa unterstrich; die ständige Wiederholung seiner Parole von der unwiderruflich durchzuführenden „Befreiung“ der 600.000 Goaner von der portugiesischen „Fremdherrschaft“, unter der sie seit bald 450 Jahren „schmachten“, scheint ihm wohl unerläßlich, um die Aufmerksamkeit seiner eigenen Landsleute und der übrigen Welt von dem Elend abzulenken, in welchem Hunderte von Millionen Menschen in der indischen Republik heute noch leben. Diesmal aber schlug er in seinen Ausführungen eine neue und besonders mißtönende Note an. Offensichtlich verärgert durch einen Artikel in der Londoner „Times“, in welchem der angebliche Wunsch der Goaner nach „Befreiung“ als das bezeichnet wurde, was er in Wahrheit ist, nämlich eine pure Erfindung, glaubte er die sehr ernste Realität des noch heute zu Recht bestehenden anglo-portugiesischen Schutzbündnisses von 1373 mit der spöttischen Bemerkung 'abtun zu können, es handle sich da bloß um einen verstaubten Ueberrest längst vergangener Zeiten.

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