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Rebellion der Elite

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Daß es eine schleichende politisch- ideologische Gärung im sowjetischen Offizierskorps gibt, beweisen neulich die Verhaftungen mehrerer U-Boot- Offiziere bei der Baltischen nuklearen U-Boot-Flotte. Die ersten Signale eines Widerstandes waren schon im Jahre 1963, während Chruschtschows Tauwetter, zu vernehmen, als der hohe GRU-Offizier, Oberst Oleg Penkowskij, als entlarvter „westlicher Spion“ liquidiert wurde. Tiefe Risse und Brüche wurden gerade im gehüteten, verhätschelten Nachrichtendienst, in dieser Eliteformation

der Sowjetoffimenskorps, deutlich sichtbar. Man sprach offiziell von „parteifeindlichen Ansichten“ hoher Offiziere.

Im Jähre 1964 folgte 7 '''

der Fall Grigorenko

Der hochqualifizierte Kybernetiker und Professor an der höchsten Generalstabsakademie wurde seither zum Enfant terrible Nr. 1 der Generalität. Generalmajor Pjotr Grigorenko begann seine steilabfallende Antikarriere mit einem kritischen „offenen Brief“ an Chruschtschow 1961. Zwei Jahre später protestierte er öffentlich gegen die Sowjetregierung,

im Jahre 1966 griff er Kossygin an, 1967 organisierte er Demonstrationen gegen die Literatenprozesse, 1968 verurteilte er wieder die Schriftstellerverfolgungen und attackierte im selben Jahr auch die Methoden der aus der stalinistischen Asche wiederauferstandenen KGB. Kein Wunder, daß der rebellische General „aus dem Verkehr gezogen“ wurde. Die letzte seiner vier Verhaftungen erfolgte im April 1969 in Taschkent, wo er gegen die gerichtliche Verfolgung der Krimtataren protestierte. Vorher organisierte er Proteste

gegen die Okkupation der Tschechoslowakei, sowohl im Jahre 1968 als auch 1969.

Wie erinnerlich, gab es Anfang dieses Jahres einen Attentatsversuch gegen Breschnjew und seine Getreuen außerhalb der Kreml- Mauer, der von einem Leutnant der Volksarmee ausgeführt wurde.

Das Massensterben der Sowjetgeneräle seit der Besetzung der CSSR, dem nicht weniger als 82 hohe Offiziere zum Opfer fielen, ließ die Weltöffentlichkeit aufhorchen.

Nachdem schon vor einigen Jahren neun Offiziere der Leningrader U-Boot-Basis wegen Verbreitung

„illegaler Literatur“ zu mehrjährigen Zwangsarbeit verurteilt waren, hatte die Partei und die Abwehr ein wachsames Auge auf diesen wichtigen Stützpunkt. Seinerzeit bekam ein älterer Kommandant als Strafe 15 Jahre Zwangsarbeitslager, einer seiner jüngeren Mitarbeiter 13 Jahre.

Die „Getreuesten“

Kürzlich wurde ein aufsehenerregender Fall von Verhaftungen bekannt, worüber die Öffentlichkeit niemals informiert wurde. Im Juni 1969 wurden auf dem Stützpunkt der wichtigsten, vornehmsten NuklearU-Boot-Flotte zu Tallin im ehemaligen Estland drei Offiziere verhaftet. Der rangälteste von ihnen war Gawrilow, einer seiner Untergebenen Leutnant Paramonow! Einer der drei verhafteten Offiziere war sogar Politoffizier bei der erwähnten Elitewaffengattung. Die politische Plattform dieser aufgeklärten Offiziere hat sich in ein „Programm der demokratischen Bewegung der UdSSR“ herauskristallisiert. Ein „Appell an das sowjetische Volk“ war geplant. Die Untersuchung soll ergeben haben, daß die verhafteten U-Boot-Offiziere voriges Jahr einen Protestbrief nach der Invasion der CSSR unterschrieben hätten. Der geistige Leitstern der „Dissidenten“ scheint das Akademiemitglied und Ideologe Andrej Sacharow zu sein, dessen Essay so viel Staub aufgewir- belt hat, weil seine Gedanken antistalinistisch, demokratisch, antitotalitär sind und auf eine intimere Kooperation mit dem Westen hinzielen.

Zweifellos gärt es im sowjetischen Offizierskorps. Zwei Aspekte sind dabei alarmierend: Erstens hat sich der Geist der Unzufriedenheit und des Widerstandes bei höchstqualifizierten Offizieren und in Eliteformationen eingenistet und nicht bei unbekannten, kleinen Subalternen unbedeutender Provinzbataillone; zweitens wurden schon bevorzugte Politoffiziere auch entlarvt und ausgehoben.

Wie kann da die Parteiführung noch ruhig schlafen, wenn die demokratischen Viren gerade in diesen Offizierskreisen wüten?

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