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Recht der Nationen

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Das Nationalitätenrecht Österreichs begann seine Entwicklung in der Revolution 1848 und in der Paulskirchenverfassung des kurzlebigen Deutschen Reiches von 1848/49, an dem auch die Deutsch-Österreicher teilnahmen. Die Grundlage des neueren Nationalitätenrechts bildete der viel zitierte Artikel XIX des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867. Dieser legte vier Rechtsgedanken von größter Bedeutung nieder:

1. „Alle Volksstämme sind gleichberechtigt,

2. und jeder Volksstamm hat ein un-, verletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache,

3. Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staat anerkannt,

4. in den Ländern, in welchen mehrere Volksstämme wohnen, sollen die öffentlichen Unterrichtsanstalten derart eingerichtet sein, daß ohne Anwendung eines Zwanges zur Erlernung einer zweiten Landessprache jeder dieser Volksstämme die erforderlichen Mittel zur Ausbildung in seiner Sprache erhält." Gewiß war dieser Artikel nicht vollkommen. Ebensowenig war es die Praxis, die ihn durchführte. Aber verglichen mit dem, was sich im allgemeinen in mehrnationalen Staaten — mit Ausnahme der Schweiz — abspielt, wenn zwei oder mehrere Nationalitäten um die Vorherrschaft ringen, und vor allem verglichen mit den Ereignissen der letzten Jahre, stellen die Leitsätze des Artikels XIX e i n nahezu ideales Recht der nationalen Freiheit und Gleichheit dar.

Aber dieser Artikel wurde auch praktisch durchgeführt. Alle Nationen waren in der letzten Zeit auf Grund allgemeinen und gleichen Wahlrechts im Parlament annähernd proportional vertreten. Alle Sprachen des Reichs durften im Parla ment gesprochen werden. Jede Nation hatte im Präsidium einen Sitz. Die Gesetze und Verordnungen erschienen in allen Sprachen. Jeder fand in seiner Muttersprache rechtliches Gehör vor den Behörden, in deren Amtssprengel diese Sprache „landesüblich" war.

Die Behörden, die Schulen, die Einrichtungen der sehr weitgehenden Selbstverwaltung der Länder und Gemeinden trugen im allgemeinen den nationalen Charakter der Bevölkerung, in deren Sprachgebiet sie tätig waren. Die Zentralstellen amtierten zwar deutsch, aber die deutsche Sprache war hier nur die Nachfolgerin der früheren lateinischen, peinlichste Neutralität in nationalen Fragen war hier strengstens überwachte Pflicht und jede Germanisationstendenz aufs äußerste verpönt und praktisch unmöglich. Zwei Oberste Gerichte, das Reichsgericht und der Verwaltungsgerichtshof, wachten mit einer auch heute noch in ihren Judikaten kontrollierbaren gewissenhaften übernationalen Objektivität über den nationalen Rechten der Völker und der Individuen.

Noch ein Punkt muß hervorgehoben werden, mit Rücksicht auf die Massenausweisungen von 1945; das Recht auf dieHeimat. Im Artikel XIX steht freilich nichts davon, denn bis 1945 galt es nach den allgemeinen Grundsätzen der zivilisierten Staaten und überdies nach allgemeinem Völkerrecht, das ja nicht ein Recht für Nomadenvölker ist, sondern feste Wohnsitze voraussetzt, als selbstverständlich, daß das Individuum ein Recht auf freien Wohnsitz hat. Auch im alten Österreich gab es ein Heimatrecht, und eine Ausweisung auch nur eines Einzigen wegen seiner Abstammung oder Muttersprache wäre ein schwerer Verstoß gegen die Heimatrechtsgesetzgebung und zugleich gegen Ar- t'kel XIX gewesen. Massenausweisungen aus nationalen Gründen waren völlig undenkbar. Nicht um einen Meter ist jemals irgendeine Sprachgrenze durch gewaltsame Austreibung zu nationalen Zwecken verschoben worden.

Manches noch heute Beachtliche ist dazu noch geschaffen worden, so namentlich auf dem Gebiet des Schulrechtes, vieles andere ist ungelöst geblieben. Die Hauptschwierigkeiten verur-

sachte der nationale Kampf in den beiden größten Ländern, Böhmen und Galizien. Wir sind damit zu der Hauptschwäche des österreichischen Rechts gekommen: die Kronländer waren nicht national abgegrenzt. Es lag nahe, eine Reform der Staatseinteilung nach den Staatsgrenzen zu fordern. Karl Renner hat schon seit 1889, zuerst unter Pseudonym, derartiges angeregt.

Ich habe versucht, das aus den österreichischen Erfahrungen Gelernte auf das Völkerrecht zu übertragen, indem ich seit 1915 in der Organisation Centrale pour une Paix durable inj Haag für die Selbstbestimmung der Völker eintrat. Das war damals als ein Programm für die damals existierenden Völker gedacht und hätte, ähnlich wie die Vorschläge Renners, auch innerhalb Österreichs, ohne Beseitigung der monarchischen Staatsform, durchgeführt werden können. Kaiser Karl hat 1917 eine Kommission ernannt, welche eine Verfassungsreform vorzuschlagen hatte, der auch ich angehörte. Allein es war mir nicht möglich, für eine Reform der Ländergrenzen einzutreten, weil die Vollmacht der Kommission nicht so weit reichte. Wir mußten uns darauf beschränken, die Bildung national abgegrenzter Kreise innerhalb der historischen Kronlandsgrenzen auszuarbeiten. Dies war offenbar zu wenig, und im ganzen war es zu spät.

Lenin und Wilson griffen 1917 die Idee der Selbstbestimmung auf. Aber durchge-führt wurde sie von den siegreichen

Mächten 1918/19 nur, soweit sie ihren Maditbestrebungen günstig schien, dagegen nicht zugunsten der Ukrainer

Polens und der Deutschen und Magyaren des zerschlagenen Österreich. Dagegen hat das alte Österreich noch kurz vor dem Ausbruch der verhängnisvollen Krise, die zu seinem Untergang führen sollte, ein Werk hervorgebracht,

das geeignet wäre, in doppel- oder mehrsprachigen Gegenden eine wesentlich bessere Lösung nationaler Konflikte herbeizuführen als eine Zerteilung des Landes nach einer Volksabstimmung oder gar eine Massenausweisung zur Umgehung der Selbstbestimmung. Es war dies das Prinzip des Ausgleichs zwischen denTsche- chen und den Deutschen in Mähren 1905. Das Land sollte eine zweifache Einteilung in Wahlkreise erfahren, in tschechische und in deutsche. Die Wähler, getrennt nach Nationalität, wählten so, daß die Zahl der tschechischen und der deutschen Mandate von vornherein auf Grund der Volkszählung feststand und jeder Wahlkampf zwischen Deutschen und Tschechen vermieden wurde. Dieses System wurde 1910 in der Bukowina zuerst zwischen fünf, dann zwischen vier Nationalitäten übernommen. In beiden Fällen waren die Erfolge höchst befriedigend. Der wesentlichste Charakterzug der Völkergemeinschaft im alten Österreich war: es war ein friedliches, geordnetes Zusammenleben der verschiedensten Völker unter Ausschluß jedes gewalttätigen nationalen Imperialis mus eines Volkes gegen das andere unter einer neutralen Staatsgewalt gesichert, die sich mit keinem der Völker identifizierte und identifizieren konnte.

Nationalgefühl, Liebe zur Abstammungsgemeinschaft, zur Muttersprache und Heimat ist etwas ganz anderes als Nationalismus, der fremde Völker gegen ihren Willen beherrschen oder gar ent- nationalisieren Will. Die erste ist ein sittlicher Wert, die zweite ein Unwert.

Vielleicht ist es der kleinen österreichischen Republik Vorbehalten, einem künftigen Europa voranzugehen in einem Geist, welcher die Liebe zu der eigenen Abstammungsgemeinschaft, Muttersprache und Heimat vereint mit der Achtung der Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung aller Völker auf ihrem alten Heimatboden, unter Ablehnung jedes nationalen Imperialismus und welcher so einer künftigen dauernden Versöhnung der Völker den Weg zeigt.

Zu der Zeit, als die Habsburger auf der Höhe ihrer Macht standen, führten Höflinge gerne einen Spruch an, der ein Wortspiel mit den fünf Vokalen des Alphabets a e i o u ist: Austria erit in erbe ultima, Österreich wird auf dem Erdkreis der letze sein, Österreich wird alle überleben.

Das, was sie damit verherrlichen wollten, hat vor der Geschichte nicht standgehalten und ist, nicht ohne eigenes Verschulden, aber doch im wesentlichen durch Gewalt von außen, durch nationalen Haß und Imperialismus stärkerer Mächte zerbrochen worden. Aber ein Charakterzug des österreichischen Staatsgedankens wäre fähig und wert gewesen, zu überleben: die grundsätzliche übernationale Unparteilichkeit des Staates. Man könnte sich auf solcher Grundlage ebenso zwar nicht einen europäischen oder westeuropäischen Staat, aber einen europäischen oder westeuropäischen Bund vorstellen. Nur eine von allem nationalen Egoismus freie Organisation, die allen Völkern in gleicher Weise, gleicher Liebe und gleicher Fürsorge ihre Freiheit, ihre angestammte Heimat, ihre Muttersprache und ihre demokratische Selbstbestimmung auf ihren ererbten Siedlungsgebieten gönnt und beläßt, die nichts weiß von Entnationalisierung und Vertreibungen und die bisherigen Massenausweisungen wieder gutmacht, die jeden Rassenhaß und jede nationale Unduldsamkeit bekämpft, die für alle gleich sorgt und sie alle zu einer friedlichen Zusammenarbeit zu führen weiß: nur eine solche übernationale Organisation, könnte, falls es überhaupt möglich ist, der Menschheit dauerndes Glück und dauernden Frieden sichern.

Die Wissenschaft kann nicht Voraussagen, ob es so kommen wird oder ob es immer Rüstungen und blutige Kämpfe geben wird, solange es Menschen gibt.

Wenn aber der Menschheit, wie wir wohl alle hoffen, die Überwindung des nationalen Imperialismus eines Tages gelingen würde, dann wird man in einem neueren und schöneren Sinn als zur Zeit des Habsburgerreiches sagen dürfen:

Austria erit in orbe ultima. Das Völkerversöhnende wird das Letzte sein.

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