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Reform im Zwielicht

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Von Monat zu Monat treten in unseren vom Kriejr angeschlagenen Städten die besorgniserregenden Wirkungen der Wohnungsnot stärker hervor. Das bevölkerungspolitische Bild ist so düster wie noch niemals. Die Geburtsrate ist auf einen bisher noch nicht erreichten Tiefstand gesunken. Die Zahl der Eheschließungen nimmt noch immer rapid ab. Es ist als ob die Lebenswurzel des Volkes am Verdorren wäre. Unter allen schlimmen Erscheinungen, die uns befallen haben, ist dies die schlimmste. Die Ursachen liegen auf der Hand. Der katastrophale Wohnungsmangel erschwert die Gründung von Hausständen, macht sie in der Großstadt fast schon zur Unmöglichkeit. Das Jungverheiratete Paar erhält nur das Recht auf eine Untermiete. Tausende Wohnungen sind überfüllt, beherbergen Zustände, die ein geordnetes Familienleben unmöglich machen. Wo selbst der physische Lebensraum fehlt, ist es kein Wunder, wenn das Kind vielen als ein Wagnis erscheint und die künstliche Geburtenbeschränkung als eine Notwehr gegen soziale Mißstände aufgefaßt wird.

So ist Wohnungsbeschaffung, energische Aktivität gegen das katastrophale Umsichgreifen dieses lebenbedrohenden Übels zur strengen Pflichtaufgabe der Gemeinschaft und ihrer berufenen Wahrer des Volkswohls geworden.

Der Staat kämpft mit unzulänglichen Waffen gegen die Drachensaat des Krieges. Das Gleichgewicht seines Haushaltes herzustellen, wird noch viel Zeit brauchen. Er ist nicht einmal noch seines natürlichen Eigentums schon völlig sicher. Der Posten eines Finanzministers wird noch lange der von den politischen Parteien am wenigsten begehrte sein — Ziel des politischen Ehrgeizes vielleicht nur für solche, die sich für ihn am wenigsten eignen. In nicht besserer Lage als der Staat sind die von den großen Bauzerstörungen betroffenen Städte. Selbst die Verwaltung der Stadt Wien, die dank einer sorgsamen früheren Kommunalpolitik immer noch durch Besitzreserven Deckungen hat, kann in ihr Wohnbauprogramm nur die jährliche Erstellung von 2000 Arbeiterwohnungen aufnehmen. Auch das wird bei der bestehenden Finanzlage der Anstrengung bedürfen und eine bedeutende und achtungswerte Leistung sein. Aber damit ist im allerbesten Falle erst ein Zehntel des dringendsten Wohnungsbedarfes der Großstadt gedeckt. So bleibt noch als Träger des Wohnungswiederaufbaues das Privatkapital, das im städtischen Grund- und Hausbesitz investiert ist, eine Finanzkraft, die durch die Mietengesetzgebung der letzten Jahrzehnte unzweifelhaft stark geschwächt ist und ebenso sicher nicht leicht zu Unternehmungslust auf dem schwankenden Gebiet städtischer Haussozialisierungspolitik angespornt werden kann. Immerhin erübrigt noch als Faktor die Selbsthilfe der Bevölkerung.

Der Weg dafür ist gezeigt. Führen wir die bis 1879 bestandene Bestimmung des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches, welche die Begründung eines vollen Eigentums an einer einzelnen Wohnung ermöglichte, in ihre Rechtsgeltung wieder zurück, so werden tausende kleine Sparvermögen und natürliche Kreditquellen in Fluß kommen, um Wohnungen zu schaffen. Das Streben nach einer gegen fremde Bestimmung gesicherten eigenständigen Heimstätte lebt ja doch in jedem gesunden Menschen. Zeuge dafür sind die zahllosen Siedlungsbauten, die sien nicht Kapitalisten, sondern arbeitsfrohe, kleine Leute — oft mit eigener Hand — errichtet haben. Sobald das im Nationalrat eingebrachte Gesetz für Herstellung eines Wohnungseigentums in Wirksamkeit tritt, werden sich viele Wohnungssuchende mit Haus-pigentümern zu vertraglichen Abkommen vereinigen, in denen sie für ihre Wohnung die Kosten des Wiederaufbaues übernehmen, um künftig an dieser Wohnung das volle verkäufliche und vererbliche Eigentum zu besitzen. Kreditgenossenschaftliche Organisationen werden nichtausreichende Barmittel ergänzen können.

Endlich wird die tödliche Ruhe, die über den Hausruinen unserer Städte liegt, dem Leben weichen. Aber noch ist es nicht so weit. Gegen den Reformplan melden sich Mißverständnisse. Er ziele auf die Enteignung des städtischen Hauseigentums! — Nicht darum kann und soll es sich handeln. Aufgabe, das einzige wesentliche Ziel, das erreicht werden soll, ist großzügiger Wiederaufbau zur Wohnungsbeschaffung. Vermag der Haus- oder bloße Grundeigentümer allein zu bauen, so soll er es tun. Bedarf er der Mithilfe anderer, bieten sich ihm Mithelfer an, Wohnungssuchende, welche die Baukosten einer Wohnung und den prozentuellen Anteil an dem gemeinschaftlichen Bedarf, Keller, Stiege, Dach, übernehmen, so erwerben sie das freie, vererbliche Eigentumsrecht an dieser Wohnung. Kann er oder will er an der Wiederherstellung des Hauses überhaupt nicht teilnehmen, so verbleibt ihm nur das Grundeigentum, das ihm die Gemeinschaften künftiger Wohnungseigentümer des Hauses abzulösen haben. Käme es nicht zur Mithilfe des bisherigen Mieterstandes am Wiederaufbau, so würden, bei dem allgemein stark gesteigerten Kapitalsbedarf, also bei steigendem Hypothekarzins, große Massen des kapitalsarmen Hausbesitzerstandes in harte Schuldknechtschaft verfallen.

Auch von links werden Einwände laut; vor allem die Befürchtung, die Freizügigkeit des Arbeiters werde gefährlich gehemmt. Das Wohnungseigentum binde ihn an einen bestimmten Arbeitsplatz und behindere seine Arbeitssuche und Existenz, wenn er an diesem Platz seine Arbeit verliere. Erinnerungen an das Schicksal ganzer Knappenkolonien der Alpinen, die in Eigensiedlungen wohnten, in der schonungslosen Konzentrationspolitik der Gesellschaft mit der Auflösung kleinerer Bergbetriebe arbeitslos und notgedrungen seßhafte Kleinhäusler wurden,“ mögen zu diesen Bedenken Anlaß gegeben haben. Aber das Wohnungseigentum kommt nicht für isolierte Industriesiedlungen, sondern nur für den städtischen Lebenskreis in Betracht, in dem die modernen Verkehrsmittel der Lage des Wohnortes die Bedeutung nehmen. Für alle Fälle aber bleibt dem Wohnungsinhaber das Recht auf Veräußerung seines Wohnungseigentums. Denen, die um die Freizügigkeit des Arbeiters fürchten, widersprechen andere Stimmen, die in dem Reformplan nur eine „Wohnungsfürsorge für Bessergestellte“ sehen, für Menschen, die über Sparkapital verfügen. Also sozusagen eine bourgeoise Angelegenheit, an der kein Arbeiter Interesse habe, weil sie sogar der Beschaffung von Volkswohnungen abträglich sei. — Würde es tatsächlich so sein, daß kein Arbeiter Wohnungseigentum aus der Reform zu erwarten hätte, weil er auf keine Weise Baumittel aufzubringen vermag — die Leistungen der Arbeiterschaft im Siedlungswesen und innerhalb der Wüstenrot-Aktion sollten doch nicht so von obenher abgetan werden —, so bliebe noch immer die Tatsache, daß die Bewohnersdiaft einer Stadt außer Arbeitern auch Beamte, Lehrer, Handwerker, selbständige Erwerbstätige aller Art umfaßt, die alle auf Wohnung Anspruch haben und von denen viele von der Wohnungsnot in schwerster Weise mitbetroffen sind. Und selbst wenn es, entgegen allen berechtigten Annahmen, zuträfe, daß nur in dieser Schichte die unmittelbaren Nutznießer der Reform zu finden sein würden — wie könnte eine Entlastung von der Wohnungsnot für eine breite Zone der Bevölkerung stattfinden, ohne daß diese Entlastung alsbald auf dem ganzen Wohnungsmarkt empfunden würde!

Der unbefangene Beobachter vermag die Besorgnis nicht zu unterdrücken, daß hier ein außerordentlich fruchtbarer Reformgedanke, der in den vielen noch unenträt-selten Fragen des städtischen Wiederaufbaues mindestens eine glückliche Teillösung verheißt, der parteipolitischen Dialektik verfallen ist. Unser Volk soll wieder Vertrauen zu den öffentlichen Einrichtungen fassen, namentlich unsere junge Generation soll den für die Demokratie so gefährlichen Skeptizismus gegenüber jedweder Parteipolitik abtun können. Deshalb um alles in der Welt — weg mit Parteiegoismus und parteipolitischer Eifersüchtelei, vor allem, wo es um Gesundheit und Leben unseres Volkes geht! Der Reformplan, der hier zur Debatte gestellt ist, gehört in diese Kategorie.

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