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Reformisten und Chauvinisten

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Ist Bukarest ein Moskau wert? Der Staatsbesuch de Gaulles 1967 in Warschau hatte gezeigt, daß de Gaulle Polen zuliebe seine Beziehungen zum Kreml nicht gefährden will. Mitte Mai 1968 rief der General während seines Staatsbesuches in der Sozialistischen Republik Rumänien den Menschen zu: Bekennt Euch zur Selbständigkeit! Frankreich und Rumänien werden ein Europa ohne Eisernen Vorhang errichten helfen! Einige wertvolle wirtschaftspolitische Abmachungen und Industriehilfen aus Frankreich — im übrigeti aber war nie deutlicher geworden, wie sehr sich der Gaullismus Frankreichs von jenem Rumäniens unterscheidet. Die eigentliche Attraktion aber für Charles de Gaulle bildet die Politik Ceauįescu-Maurers zwischen Moskau und Peking, der unwahrscheinliche Einfallsreichtum Bukarests, die eigenen Maßnahmen zur größeren Selbständigkeit blitzschnell der fast täglich wechselnden Gesamtlage des Sowjetblocks, der Ost-West-Be- ziehungen anzupassen. De Gaulle hätte von Ceaugescu sogar einiges lernen können, wie man mit innenpolitische ! Spannungen fertig wird. Denn in diesem Frühjahr hat Ceau§escu persönlich dafür bemerkenswerte Proben abgelegt. Das eigentliche Problem aber bilden die Bruderparteien, der große Bruder, die Nachbarn. Wie beurteilt Bukarest Aussichten und Möglichkeiten des Alleingangs für sich selbst und andere Volksdemokratien?

Eigentlich war Rumäniens Parteiführung nach der ersten Budapester Vorkonferenz am 26. Februar 1968 für den Moskauer „Gipfel“ ein wenig enttäuscht: Rumäniens Partei- spitze hatte gehofft, eine oder zwei Bruderparteien würden sich an dem zornigen Exodus von Niculescu- Mizil beteiligen. Der zweite Budapester Vorgipfel vom 24. April 1968 hatte zwar noch mehr Streit in dem vorbereitenden Ausschuß für die einheitliche Linie des Gipfeltreffens hervorgerufen; Polens Delegierte räumten die Sitzung und hinterließen lediglich einen kleinen Hilfssekretär zum Aufpassen. Wie fiel Dresden, die intersozialistische Besprechung mit der renitenten tschechoslowakischen Parteiführung unter Alexander Dubček, für Rumänien aus? Rumänien blieb den Besprechungen über Fartei-disziplin und COMECON-Fragen fern, weil man Rumäniens Parteichef einfach nicht eingeladen hatte. Weshalb? Nun, in Bukarest hört man, daß einige sowjetische Bedingungen für die Dresdner Konferenz die Rumänen allzusehr als moderner Dresdner Zwinger anmuteten.

Ein Dutzend Vorkonferenzen, Teilbesprechungen und Zwiegespräche waren voll, als am 8. Mai 1968 die Parteichefs der DDR, Polens, Ungarns und Bulgariens nach Moskau flogen, um dort mit dem sowjetischen Parteichef Breschnjew „die Lage ihrer Länder“ zu erörtern. Man hatte sich immerhin zum Teil schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen. Unter den Häuptern der Bruderparteien fehlten Alexander Dubček und Nicolae Ceauęescu — gleich zwei schwärze Schafe auf vier lammfromme!

Man sollte die Situation allerdings nicht vereinfachen und dadurch verzerren. Denn kurz vor dieser Moskauer Fraktionssitzung der linientreuen Bruderparteien hatten die Prager die Schuldenzahlung ihrer sozialistischen COMECON-Paxtner eingemahnt. Läßt man die Entwicklungsländer auch beiseite, dürfte es sich um einen Schuldenstand von vielen Milliarden Rubel handeln, auf deren Bezahlung und Rückerstattung in Waren Prag seit Jahr und Tag wartet. Man darf im Falle der COMECON-Solidarität sogar Bert Brecht zitieren: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!“

Noch vor der Prager Regierungserklärung im April dieses Jahres hatten tschechische Fachleute den Mindestbedarf an westlichen Devisen für den Erwerb westlicher Lizenzen und moderner Industrieausrüstungen auf rund 500 Millionen US-Dollar geschätzt. Dubček beantragte am 4. Mai 1968 während seines Blitzbesuches in Moskau die respektable Soforthilfe der COME- CON-Partner für die CSSR von annähernd 300 Millionen Dollar. Will man die Tschechoslowakei gegen den bösen Westen abhegen, muß der Sowjetblock die wirtschaftliche Sanierung der tschechoslowakischen Planwirtschaft tatkräftig unterstützen. Denn ideologische Zaubersprüche nützen in Prag nichts mehr. Ein kurzer Blick auf die rumänischen Genossen und die Modernisierung des Industrieapparates der Sozialistischen Republik Rumänien ergibt für die Rumänen etwa einen zweijährigen Vorsprung an Rationalisierung und Nutzeffekt — verglichen mit den sowjetsozialistischen Nachbarländern.

Einheit ist nicht unbedingt Uniformität. Diesem Irrtum der „Gleischschaltung“ ist auch der nach- stalinistische Kreml verfallen. Nach zehn Jahren aber wird man die rumänischen „Alleingänge“ von heute geradezu als Beispiel mustergültiger Bündnistreue und ideologischer Rechtgläubigkeit bezeichnen.

Wer ist „reformistisch“? Wer ist „Großmachtchauvinist“? Jugoslawien bekennt sich offen zu seinen Reformideen und hält wirtschaftspolitisch sorgsam seine Position zwischen Ost und West. Rumänien bekennt sich nicht unbedingt zu diesem titoisti- sch-en Modell. Die Prager Reformer haben viele eigene Gedanken, die allerdings stets auf den „überschaubaren Raum“, Rücksicht nehmen. Alle zusammen aber wollen keineswegs die Rückkehr zur Markt- und Unternehmerwirtschaft, so idem erstreben durch Reformen die Stärkung der „liberalisierten“ sowjet- sozialistischen Planwirtschaft.

„Großmachtchauvinisten“? In der sowjetstaatlichen Frühzeit beschuldigten Ukrainer die Moskauer Großrussen dieser Haltung. Heute fliegen die Beschuldigungen des Großmachtchauvinismus zwischen dem Kreml und Peking wie Pingpongbälle hin und her. Es ist nun keineswegs zu leugnen, daß die drohende Wolke der rumänischen Alleingänge und der Prager Dynamik sowjetische Intervention heißt. Mögen aber auch Truppen bereitgestellt sein, so möchten die Sowjets heute der Welt dennoch nicht das Schauspiel der Niederwalzung sowjetsozialistischer Eigenregungen in den Schwesterländern und Bruderparteien geben. Das Parallelogramm der Kräfte ist auf den „eigenen Weg“ ausgerichtet, auf Freiwilligkeit, auf Reform. Eine Führungsgruppe, im Kreml denkt heute intensiv an die rotchinesische Führung und würde es vermutlich vorziehen, daß im ostmitteleuropäischen Hinterland lieber Reformen durchgeführt werden — anstelle von offenen oder unsichtbaren Revolten. Es wird sich in den nächsten Wochen und Monaten erweisen, ob Moskau die Kunst der lockeren Zügelführung und des guten Zuredens erlernt hat. Sonst könnte es tatsächlich geschehen, daß die Manövrierfähigkeit des Kreml in einem wichtigen Augenblick der Weltpolitik nicht gewährleistet wäre.

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