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Reist für den Westen

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Ein wesentliches Ziel, welches der britische Premierminister bei der Planung seiner Rußlandfahrt vor Augen hatte, ist zweifellos erreicht: Der ständige Vorwurf der Opposition, die konservative Regierung lasse es an ernstlichen Bemühungen um das Zustandekommen eines fruchtbringenden Gesprächs mit der UdSSR fehlen, sie habe sich aus innerer Schwäche und mangels eigener, konstruktiver Ideen ganz ans Schlepptau der Amerikaner gehängt und sei daher mitverantwortlich für die gefahrdrohende Verhärtung der Fronten im westöstlichen Spannungsfeld — dieser Vorwurf ist jetzt so gut wie gegenstandslos geworden. Symptomatisch dafür war der Applaus, mit dem die Labour-Abgeordneten Macmillan bei seinem Wiedererscheinen im Parlament nach absolvierter Reise kaum weniger herzlich begrüßten als die Mitglieder seiner eigenen Partei. Für den Augenblick wenigstens überwiegt auch bei der Opposition ein Gefühl der Sympathie und des Respekts für den Mann, der ungeachtet aller Widrigkeiten, die er auf sowjetischem Boden erleben mußte, auf der vollen Durchführung seines an sich schon stra-j paziösen Programms beharrte, und selbst vorsätzliche Affronts, wie sie in solcher Art kaum je einem britischen Regierungschef in offizieller Mission von seinen Gastgebern geboten worden waren, mit unerschütterlicher Ruhe und Freundlichkeit hinnahm, als handle es sich da bloß um etwas seltsame und nicht uninteressante Eigentümlichkeiten fremder Gebräuche. Macmillan benahm sich in diesen schweren zehn Tagen seiner russischen Tour genau so, wie es die englische Oeffentlichkeit von einem hochgestellten Repräsentanten ihres Landes erwartet, als vollendeter Gentleman eben, und das hat in den breitesten Schichten eine Stimmung erzeugt, der auch die schärfsten Gegner der Konservativen Rechnung tragen müssen. Wer jetzt behaupten wollte, ein Hugh Gaitskell etwa als Premier oder ein Außenminister Aneurin Bevan hätte die Sache besser gemacht als Harold Macmillan und es besser verstanden, mit den Herren im Kreml einen nützlichen Kontakt herzustellen, der würde sich die sozialistischen Wahlstrategen bestimmt njcht zu I)ank verpflichten. Vom,Standpunkt der englischen Konservativen aus gesehen war diese Reise also unstreitig ein Erfolg, wozu die „Liebenswürdigkeiten” Chruschtschows einen erheblichen Beitrag geleistet haben. Eine andere Frage ist die, welche sonstigen Resultate der Chef Ihrer Majestät Regierung nach Hause gebracht hat.

Macmillan hatte schon vor Antritt seiner überraschend angesagten Reise verschiedentlich betont, daß er die UdSSR keineswegs als Vertreter oder bevollmächtigter Delegierter der westlighen Allianz besuche, noch auch zu dem Zweck, dort Verhandlungen zu führen; er wolle nichts anders, als sich persönlich informieren und ein klares Bild von einer nicht näher präzisierten Materie gewinnen. Tatsächlich ist nicht zu bezweifeln, daß er seinen Ausflug auf eigene Faust unternahm,-ohne vorherige Absprache mit den Alliierten, die denn auch nur eine geringe Freude über diesen plötzlichen Alleingang eines aus ihrer Mitte an den Tag legten. Hingegen ist er seiner erklärten Absicht, sich mit den sowjetischen Machthabern in keine Verhandlungen einzulassen, nicht ganz treu geblieben. Abgesehen von der Erörterung eines Ausbaus wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen Großbritannien und der UdSSR wurden Gespräche, die nicht anders als mit Verhandlungen zu bezeichnen sind, über einen hochpolitischen, wenn auch, wie die Erfahrung lehrt, praktisch wertlosen Gegenstand geführt, nämlich über einen eventuellen britisch-sowjetischen Nichtangriffspakt oder eine Nichtangriffsdeklaration. Des weiteren war auch davon die Rede, daß der britische Premier unter Umständen bereit sein würde, den Gedanken einer militärisch „verdünnten” Zone, wie er seinerzeit vom polnischen Außenminister Rapacki vorgeschlagen und als Voraussetzung eines „Disengagement” auch von Eden unterstützt worden war, Englands Bundesgenossen näherzubringen. Nun ist es zwar immer gut, wenn man einen unangenehmen Gegenspieler persönlich näher kennenlernt; ein persönlicher Einblick in seine Mentalität kann es erleichtern, seinen nächsten Schachzug vorauszusehen und entsprechend zu parieren. So kann es auch für Macmillan von Nutzen gewesen sein, in seinem tagelangen Beisammensein mit Chruschtschow die Methoden der sowjetischen Diplomatie sozusagen an der Quelle zu beobachten und sich an Ort und Stelle davon zu überzeugen, mit welcher Rücksichtslosigkeit und zugleich Virtuosität die Hebel der sowjetischen Weltwettermaschine bedient werden. Es ist aber mehr als fraglich, ob dieser geringe Vorteil den schweren Schaden aufwiegt, der von der „Erkundungsfahrt” des Premiers zu befürchten ist.

Man braucht nicht nach Rußland zu reisen, um sich über zwei Punkte klarzuwerden, die für die westöstlichen Beziehungen und ihre weitere Entwicklung ausschlaggebend sind. Zunächst: den Führern der UdSSR ist es nicht weniger als den Regierungen und den Völkern des Westens darum zu tun, die buchstäblich un-, vorstellbar gewordenen Risken eines Großkrieges so lange als nur irgend möglich zu vermeiden. Zweitens: den sowjetischen Machthabern erscheint die Grenze dieser Möglichkeit dort gegeben, wo ein unter westlichem Vorzeichen wiedervereinigtes Deutschland auf den Plan treten würde. Daher ihre Entschlossenheit, die Wiedervereinigung unter einem solchen Vorzeichen mit allen Mitteln, gegebenenfalls auch mit dem letzten Mittel der Gewalt, zu verhindern; und daher auch ihr unablässiges Bemühen, die einzige Gefahr, die sie am westlichen Horizont erblicken, das Wiedererstehen eines Deutschland, das dem sowjetischen Reich bewaffnet entgegentreten könnte, von vornherein durch die allmähliche Ausdehnung der sowjetischen Einfluß- und Machtsphäre auf den freien deutschen Westen auszuschließen. An diesen Gegebenheiten können weder Staatsvisiten in Moskau noch Außenminister- oder Gipfelkonferenzen etwas ändern, und schon gar nicht die proponierte „verdünnte” Zone, also die Zurücknahme der nichtdeutschen NATO- Streitkräfte bis hinter den Rhein; ein Rückzug, der einer Sprengung der NATO gleichkäme, die Bevölkerung der Bundesrepublik aufs tiefste entmutigen und mit Erbitterung gegen die ungetreuen Bundesgenossen erfüllen müßte und früher oder später ihre Widerstandskraft gegen den Sog des kommunistischen Machtblocks lähmen würde. Das einzige, was Moskau veranlassen könnte, sich mit seinen gegenwärtigen Positionen in Europa zu begnügen, wäre die Gewißheit, daß jedes weitere Vordringen, jeder Versuch, sich, sei es direkt oder im Wege seiner Satelliten, weiterer Stellungen zu bemächtigen, auf die vereinte und auch zum äußersten entschlossene Abwehr des Westens stoßen würde. Von einer solchen Einigkeit und Entschlossenheit war jedoch bis heute wenig zu bemerken, trotz gelegentlicher Beteuerungen, daß die Westmächte in ihrer Politik gegenüber der Sowjetunion völlig eines Sinnes seien. Immer wieder zeigt es sich, wie leicht es der UdSSR gelingt, Keile in die Front des Westens zu treiben und einmal durch Drohungen, dann wieder durch friedlich klingende Vorschläge interalliierte Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze auszulösen, die die konsequente Verfolgung einer gemeinsamen Linie unmöglich machen. So mußte auch jetzt wieder die fieberhaft gespannte Aufmerksamkeit, mit der man in der westlichen Welt jede Veränderung in der Miene des sowjetischen Allgewaltigen während des Mac- millan-Besuches registrierte und in Ursache und Bedeutung zu ergründen suchte, im Kreml geradezu als Aufforderung betrachtet werden, das Spiel mit der so bewährten Nervensäge des „kalten” Krieges ohne Pause fortzusetzen.

Macmillan ist eben wieder unterwegs, um den verantwortlichen Staatsmännern in Paris, in Bonn und in Washington von seinen russischen Eindrücken zu berichten/ Ob es zutrifft, daß er ihnen, wie mancherorts befürchtet wird, die Idee empfehlen will, die UdSSR durch westliches Nachgeben zum Verzicht auf die angedrohte „Lösung” der Berlin- und der Deutschlandfrage zu bewegen, bleibt abzuwarten. Wenn ja, dann ist nur zu hoffen, daß man ihn an Hand der europäischen Geschichte von 1933 bis 1939 von der tödlichen Gefahr überzeugen wird, die darin liegt, sich von schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber Erpressungsversuchen einer totalitären Macht eine wirkliche Entspannung der internationalen Lage und eine Festigung des Friedens zu erwarten.

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