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Revolution aus der Mitte

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Die katholische Sozialpolitik, die noch vor wenigen Jahrzehnten in Europa führend war, weltbekannte Namen wie Bischof Ketteier, Vogelsang, Kolping u. a. aufwies und eine gewaltige, in ihren Wirkungen kaum überschaubare Aenderung der Verhältnisse herbeiführte, droht an Boden, Gewicht, Persönlichkeiten und Bedeutung ständig zurückzugehen und sich auf Hilfsmaßnahmen für Familien, Anträge auf Familienausgleichskassen, Wohnungseigentum usw. allein zu beschränken. So wichtig diese Forderungen heute sein mögen, so sind sie doch nicht geeignet, katholischer Sozialpolitik die ihr zustehende Bedeutung wiederzugeben.

Die katholische Sozialpolitik ist im wesentlichen auf die Enzyklika Leos XIII., „Rerum Novarum“, zurückzuführen. Zur Zeit ihres Erscheinens hat es sich darum gehandelt, christliches Gedankengut und christliche For-

derungen in der damaligen Zeit des Liberalismus und aufstrebenden Kapitalismus zu verwirklichen, das Bild des Menschen vor den zerstörerischen Kräften der Zeit zu retten und damit auch die Grundlage der Existenz des abendländischen Menschen überhaupt sicherzustellen. Diese eminent wichtige Aufgabe ist nach wie vor im vollen Umfange zu erfüllen, nach wie vor besteht trotz aller sozialen Errungenschaften die Verpflichtung des Christen, dem Menschen in seiner. Zeit zu helfen und durch die Kraft des Christentums zu einer neuen Sinngebung des Lebens zu gelangen.

Heute geht es nicht mehr um ein bißchen mehr oder weniger Sozialpolitik, sondern um das Menschsein überhaupt.

Die katholische Sozialpolitik hat sich in der Vergangenheit vollauf bewährt und praktisch auf der ganzen Linie gesiegt. Leider

wurden sie und ihre Forderungen sehr oft nicht von Christen, sondern von ihren Widersachern verwirklicht, obschon gerade der doktrinäre Sozialismus seinerzeit die Sozialpolitik in der Theorie ablehnte, weil sie „dem Kapitalismus die größten Schärfen und Härten nehme und damit seine Lebensdauer verlängere“. Nach Marx hätte die Konzentration des Kapitals gleichzeitig mit der Verelendung immer breiterer Massen fortschreiten müssen, bis die ausgebeuteten, rechtlosen Massen sich erheben und die „Expropriateure expropriieren“, das heißt den Kapitalismus stürzen., Die Entwicklung verlief nun durchaus nicht nach diesem Schema, daher trieben die Arbeiterbewegungen, insbesondere die Gewerkschaften, zwangsläufig immer mehr Sozialpolitik, nicht ohne die geistige Herkunft ihrer Forderungen zu verleugnen und zu verwischen, und unter Beibehaltung der täuschenden doktrinären Kulisse, die unzählige Zusammenstöße mit dem Leben und der Wirklichkeit verbarg. So wenig( Unterschiede nun im Effekt zwi-

schen der katholischen und der sozialistischen Sozialpolitik bestehen, so schwerwiegende und tiefreichende Differenzen gibt es noch im Geistigen. Die Parteienkonstellation und ihre Haltung gibt diese Tatsache in verschiedenen Ländern Europas verschieden und nur zum Teil wieder. Wenn wir jedoch den Verlauf der Kräftelinien verfolgen, so sehen wir, daß etwa eine gemeinsame sozialistisch-christlichdemokratische Mitte von einem hochkapitalistischen rechten und einem halb- oder ganzkommunistischen linken Flügel flankiert und bekämpft wird. Die abendländische Tradition wird zumeist nur von der Mitte 1 verkörpert und getragen, während die- beiden Extreme auf außereuropäische Vorbilder und Kraftzentren eingestellt sind. Aus der Mentalität der Vergangenheit erwächst jedoch noch immer ein Machtstreben von links, dem eine Abwehr von rechts gegenübersteht, die jedoch sehr oft das Kind mit dem Bade ausschüttet und so ihrer gegenwärtigen Situation und Funktion nicht gerecht wird. Den linken Ange-

hörigen der abendländischen Mitte müßte gesagt werden, daß sie die Macht niemals für sich, sondern nur für andere erkämpfen und daß die längst brüchig gewordene doktrine Kulisse nur mehr ein Hindernis ist. Die christlichen Demokraten aber müßten sich mehr mit den Wirklichkeiten und Gegebenheiten des Alltags vertraut machen, statt Dinge zu bekämpfen, die sie eigentlich begrüßen müßten...

Beide aber müßten endlich die umwälzenden wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandlungen zur Kenntnis, nehmen, wenn sie nicht zwischen den Mühlsteinen der an Vitalität und Brutalität überlegenen Systeme des Amerikanismus und Bolschewismus zerrieben werden wollen.

Das Dasein des Menschen in der heutigen Zeit kann nur durch gesteigerte Produktion, durch immer größere und leistungsfähigere Betriebe und Leistungsgemeinschaften sichergestellt werden. Die Leiter und Führer dieser großen Leistungs- und Lebensgemeinschaften häufen zwangsläufig immer mehr Macht an, weil ihnen immer mehr Aufgaben und Funk-

tionen zufallen. Wir können aber im Interesse aller diese riesigen Anhäufungen von Macht nur bei solchen Menschen zulassen, deren Haltung durch ihre Verantwortlichkeit vor ihrem Gewissen und vor Gott bestimmt ist; es darf nicht mehr vorkommen, daß der mächtige und allgewaltige Apparat der modernen Daseinsfürsorge Menschen ausgeliefert wird, denen die tiefste Verantwortlichkeit mangelt.

Gerade im katholischen Lager begegnet man sehr oft dem Gedanken, daß von der höheren christlichen Warte aus das Leben nur Durchzugsstation und daß der Mensch eben nur zum Leiden bestimmt sei. Daher sei Sozialpolitik mehr eine Sache der „Linken“, außerdem sei auf diesem Gebiete schon eher zuviel als zuwenig geschehen. So richtig es auch ist, .daß auch durch die beste und umfassendste Sozialpolitik das Leben nicht von seiner eigentlichen Problematik und Härte gelöst und befreit werden kann, so richtig ist es aber auch, daß das Leben im Diesseits entscheidend ist für das Leben nach dem Tode. Und daß Helfen und Beistehen ureigenste

Aufgabe des Christen ist und daß durch die moderne Sozialpolitik viel Leid gemildert, viele Härten beseitigt und Millionen das Leben erst in der heutigen Form ermöglicht wird. Die Sozialpolitik ist weder aus dem modernen Leben noch aus der modernen Produktion wegzudenken, diese wird vielmehr erst durch jene ermöglicht, und umgekehrt.

Die katholische Sozialpolitik hat daher nach wie vor ihre Existenzberechtigung und muß sie ständig dadurch nachweisen, daß sie mehr als bisher trachtet, alle Erscheinungsformen des menschlichen Lebens mit christlichem Geiste zu erfüllen (der gleichzeitig ja auch sozialer, brüderlicher Geist ist), daß sie mehr als bisher Träger, Initiator und Ausgestalter der Sozialpolitik wird, nicht dem Staat oder der Wirtschaft zuliebe (die ja beide nur Mittel, nicht Selbstzweck sein dürfen), sondern in Erfüllung des göttlichen Auftrages. Das „bürgerliche“ Christentum wird in unseren Tagen zu Grabe getragen, der christlichen Sozialpolitik aber harren große Aufgaben.

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