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Richterstand und Rechtsicherheit

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Man sagt, daß der Richterberuf zu den schönsten Berufen zählt, die der Staatsdienst zu vergeben hat. Er hat der Hüter der Freiheit and Diener der Gerechtigkeit zu sein. Dieser Aufgabe ehrenvoll gedient zu haben, machte den hohen Ruf des altösterreichischen Richterstandes und die gehütete Tradition seiner Nachfolger aus. Der Stolz auf diese Überlieferung kann nicht dazu verleiten, sich neuen Erfordernissen der Gegenwart zu verschließen. Jeder Kenner der Verhältnisse weiß es, daß die Rechtspflege in Österreich derzeit infolge des katastrophalen Richtermangels und aus einigen anderen Nebenumständen, auf welche die Richterschaft selbst keinen Einfluß hat, nicht allen Ansprüchen und Erwartungen gerecht werden kann. Heute, da nach sieben Jahren der allgemeinen Mißleitung und Zerstörung Wirtschaft und staatlicher Verwaltungsapparat langsam und mit Mühe wiederaufgebaut werden, kann füglich nicht erwartet werden, daß die Justiz, als ob nichts geschehen wäre, unberührt von jeder Krise klaglos arbeiten könnte. Wo es in ihr aufzubauen gilt, ist unausweichliche Voraussetzung, daß die Grundzüge einer geordneten Rechtspflege unantastbar gesichert sind.

Seit jener schon lange, zurückliegenden Zeit, da man in allen Kulturstaaten der Welt das Prinzip derTrennung der Justiz von der Verwaltung als wesentliche Bedingung der freien Rechtsfindung erkannt hat, ist die völlige Unabhängigkeit des Richters geradezu das Kriterium für die Beurteilung eines freien und wahrhaft demokratischen Staates geworden. Wir haben heute gottlob die richterliche Unabhängigkeit wiederhergestellt, wenigstens sofern sie die Freiheit des Richters von Weisungen bei Fassung der Entscheidungen und Urteile betrifft. Doch soll nicht übersehen werden, daß damit das Wesen der „Unabhängigkeit“ noch nicht erschöpft ist. Gewiß, dem Richter kann heute — anders war es unter der nazistischen Herrschaft — nicht mehr vorgeschrieben werden, wie er im Einzelfalle zu urteilen hat. Es kann aber wohl nicht bezweifelt werden, daß es Aufgabe der Regierungsgewalt ist, den Richter auch sonst von ihn bedrängenden Einflüssen freizuhalten, vor ungerechtfertigen und seine persönliche Ehre befleckenden Angriffen der Öffentlichkeit zu bewahren und ihn, wenn die Grundlosigkeit eines solchen Angriffs festgestellt werden konnte, vor der Öffentlichkeit in Schutz zu nehmen. Nicht nur, weil dies die Gerechtigkeit verlangt, sondern auch zum Schutz einer geordneten und unparteiischen Rechtsprechung.

Auch Richter sind Menschen, und es kann nicht von allen ohne Ausnahme erwartet werden, daß sie Angriffen, die ihre persönliche oder berufliche Ehre verletzen, mit stoischer Gleichgültigkeit und überlegen gegenüberstehen. Schon deswegen nicht weil der Richter wissen muß, daß in vielen Fällen der Mann aus dem Volke mangels Fachwissens gar nicht immer gleich beurteilen kann, ob ein solcher Angriff berechtigt war oder nicht.

Soll die Unabhängigkeit des Richters überhaupt ihren hohen staatsrechtlichen Zweck erfüllen, dann hat der einzelne Richter nicht nur frei von Weisungen einer übergeordneten staatlichen Stelle zu sein, sondern auch frei von noch viel unberufenen Weisungen und persönlichen Angriffen. Man soll das nicht mißverstehen. Nicht sadiliche Kritiken werden abzulehnen sein, die mitunter, wie auch auf anderen Sachgebieten, ihren guten Sinn haben können, sondern ungerechtfertigte, unsachliche, aus Mangel an Fachwissen und gesetzlichen Kenntnissen oder Parteigeist entspringende Angriffe. Gewiß, ein derartiger, auf solche Weise erzeugter psychischer Druck wird auf sehr viele Richter keine Wirkung ausüben, sie werden den Weg der Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen weitergehen.

Aber es ist untragbar und im höchsten Ausmaße gefährlich für das Vertrauen der Öffentlichkeit auf die Gerechtigkeit, sollte auch nur ein einziger Richter, wenn er gegebenenfalls von der Schuldlosigkeit eines verhafteten Beschuldigten überzeugt ist, etwa Bedenken haben, ihn enthaften zu lassen oder freizusprechen, weil er gewärtig seit muß, daß er von irgendeiner Seite deswegen persönlich heruntergemacht wird und er auf einen ausreichenden, sofortigen Schutz seitens der Staatsgewalt hiebei nicht rechnen kann. Zu dem darf es nicht kommen. Gegenüber solchen Schädlingen der richterlichen Unabhängigkeit tmd der geordneten Rechtspflege im demokratischen Staate ist eine gebührende Richtigstellung am Platze.

Seit zwanzig Jahrhunderten erschüttert die christliche Welt das ungerechte Urteil eines Richters, der an der Schuldlosigkeit des Angeklagten nicht zweifelte, diesen aber dennoch verurteilte, weil er der einseitig eingestellten, von demagogischen Führern aufgehetzten Volksstimme Gehör schenkte und sie fürchten zu müssen glaubte. Der Statthalter Pontius Pilatus hatte eine weitaus höhere und mächtigere Stellung, als heute dem einzelnen Richter im Staate zesteht. Und dennoch erlag er der Versuchung, seine Entscheidung nicht nach der Stimme der Vernunft und des eigenen Gewissens sowie nach den Vorschriften des Gesetzes, sondern nach den Forderungen und Racheschreien einer aufgehetzten Menge zu fällen.

Nur noch ein Wort für den jungen Nachwuchs der Richterschaft. Dessen Auswahl und Heranbildung war schon seit Jahrzehnten nicht jenes Augenmerk zugewendet worden, das er des Gemeinwohles wegen verdienen würde. Von seiner Qualität hängt die Arbeit der künftigen österreichischen Richtergenerationen ab. Die Auswahl und Aufnahme in den richterlichen Vorbereitungsdienst geschieht durch die jeweiligen Oberlandesgeriditspräsidenten im Einvernehmen mit dem Justizministerium. Man muß schon sagen, daß in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten österreidrischer Justizgeschichte viel gefehlt worden ist. Je nach der Person des Präsidenten waren auch die bei der Übernahme in den Richterdienst angewandten Grundsätze häufig verschieden. Da gab es Präsidenten, für die das gesellschaftliche Auftreten und der persönliche äußerliche Eindruck des Kandidaten besonders wichtig und entscheidend war; bei anderen mußte er besonders gute Prüfungszeugnisse vorweisen können; auch dies war keine einwandfreie Auswahlmaxime, da die Zufälligkeiten, eines Prüfungsergebnisses allein nicht ausschlaggebend sind, aber auch ein ausgezeichneter Jurist noch lange nicht ein guter Richter genannt werden muß. Denn die charakterlichen, psychologischen und moralischen Eigenschaften und Fähigkeiten wwfc cfie Jnnere Einstellung zn “Jen sozialen Grundproblemen der Zeit, ein tiefes Verständnis für den Mann aus dem Volke, für die Lebensnöte der Arbeiterschaft sind wohl besonders wichtig. Der Richter soll ein H£rz für alle Teile des Volkes, welchen Standes immer, aufbringen; der gute, kluge und ideale Richter wird nicht nur nach dem formalen Buchstaben des Gesetzes, unbekümmert um alle Auswirkungen einer solchen Rechtsprechung für die Betroffenen, vorgehen, sondern er wird vor allem zuerst bei sich sein Urteil nach seinem Gewissen sprechen und dann, um die Auslegung des Gesetzes bemüht, die Begründung seines Erkenntnisses den Bestimmungen des Gesetzes unter Erforschung seines inneren, tieferen Sinnes ermitteln.

Der richterliche Nachwuchs wird aus den Gerichtspraktikanten ausgewählt. Ihr Einkommen ist bis heute nicht angemessen, obwohl heute, nach dem Kriege, ihre Reihen meist aus älteren Juristen bestehen,' die mehrere Jahre im Wehrdienst standen, vielfach schon Familienväter mit einigen Kindern sind und die nun die versäumte Gerichtspraxis nachholen müssen. Im letzten Monate hat ihre wirtschaftliche Lage eine katastrophale Verschlechterung erfahren, weil sie sozusagen von einem Tage auf den anderen vor die bittere Tatsache gestellt wurden, daß ihnen für ihre Tätigkeit überhaupt kein Entgelt mehr bezahlt wird. Diese Leute, ohne die bei dem heutigen Richtermangel, insbesondere beim beispiellos überlasteten Volksgericht, ein geregeltes und aussichtsreiches Arbeiten schlechterdings unmöglich ist, auf deren Mitarbeit daher die Rechtspflege mehr denn je angewiesen ist, sind somit durch jene fiskalischen Maßnahmen plötzlich außerstande gesetzt, im Rahmen ihrer bisherigen Tätigkeit für ihre Familien zu sorgen. Die Folge muß daher sein, daß sie in andere Zweige der Staatsverwaltung oder in die Privatwirtschaft abwandern. Daß dem Richterberuf hier eine ganz erhebliche Anzahl wertvollster Nachwuchskräfte entgeht, ist zutiefst zu bedauern. Von einem kleinen Kreis unentwegter Idealisten abgesehen, werden sich für die weitere Zukunft vornehmlich Juristen zum Richterberuf gedrängt fühlen, die aus verschiedenen Ursachen, aus Mangel an Fähigkeiten oder Fleiß, sich außerstande glauben, im Wettbewerb freier Berufe, zum Beispiel des eines Rechtsanwalts, Notars oder in der Privatwirtschaft, sich durchsetzen zu können. Ob diese Entwicklung im Interesse der Rechtspflege des Staates und des Staatsvolkes liegt, kann füglich bezweifelt werden.

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