Ringen "um Einheit und Freiheit"
Das Opus magnum eines großen österreichischen Historikers: Zu Gerald Stourzhs neuer Staatsvertragsgeschichte.
Das Opus magnum eines großen österreichischen Historikers: Zu Gerald Stourzhs neuer Staatsvertragsgeschichte.
Beinahe ein Vierteljahrhundert lang hat sie den Autor dieser Zeilen begleitet: Gerald Stourzhs Staatsvertragsgeschichte als "Bibel" zum Besatzungsjahrzehnt. Die erste Auflage (1975) - damals noch die "Kleine Geschichte" - wurde dem Studenten in Innsbruck vertraut. Der Text und die 279 Endnoten machten ganze 149 Druckseiten aus. Dann die stark erweiterte zweite Auflage (1980), die als "Studienausgabe" im Jahre 1985 in dritter Auflage erschien, wobei nunmehr Text samt 443 Endnoten bereits 212 Druckseiten ausmachten.
Von Insiderkreisen der Fachforschung seit einigen Jahren sehnlichst erwartet, ist nun endlich, noch kurz vor Jahresende, die vierte Auflage erschienen und im Wiener Parlament in einem Quasi-Staatsakt der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Der neue Text mit 1.533 Fußnoten (viele davon lange und ausführliche Kostbarkeiten präziser Recherche, darunter auch einige Seitenhiebe in Forschungskontroversen) ist mit 606 Druckseiten beinahe dreimal so lang wie die vorhergehende Auflage. Allen Auflagen ist ein umfangreicher Dokumentenanhang beigefügt (mit der kompletten 1947er Version und dem endgültigen Text des Staatsvertrages) - in der hier besprochenen Neuauflage nochmals 172 Seiten!
Stourzhs Staatsvertragsgeschichte ist immer auch engstens mit der staatlichen Selbstdarstellung der Zweiten Republik zu den entscheidenen Fragen des Unabhängigkeitsprozesses nach dem Krieg verknüpft gewesen. Gewöhnlich erschienen die Neuauflagen zu den Jubiläen des Staatsvertragsabschlusses, diesmal allerdings war es nicht so. Nach dem Ende des Kalten Krieges und den sich daraus ergebenden entscheidenden Auswirkungen auf Österreichs internationale Position strahlt der Staatsvertrag nicht mehr so stark auf das Selbstverständnis der Zweiten Republik aus und kann deshalb auch aus der größeren Distanz mehr historisierend betrachtet werden. Österreichs gefestigte Identität bedarf heute weniger der Jubiläumsgeschichtsschreibung zur Stärkung seiner Selbständigkeit.
Meisterstück Das lange Warten hat sich mehr als gelohnt: Stourzhs neues Staatsvertragsbuch hat sich zu einem großen Geschichtswerk ausgewachsen, ist zum Meisterstück geworden. Wie die Jahresringe eines älteren Baumes nach innen hin immer gedrängter werden, ist Stourzhs Darstellung über ein Vierteljahrhundert hinweg zunehmend dichter und trächtiger geworden. Der 1997 emeritierte Wiener Ordinarius bringt mit seiner Genesis von Österreichs wichtigstem Dokument der Nachkriegszeit, im Kontext der komplexen und häufigen Temperaturwechsel des Kalten Krieges, auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte dieser Epoche zum (vorläufigen?) Abschluß, womit er seinen Ruf als einer der wichtigsten österreichischen Historiker vollends bestätigt.
Dieses Werk ist zudem ein bedeutender Beitrag zur internationalen Diplomatiegeschichte des frühen Kalten Krieges, der im Ausland viel Beachtung verdiente. Stützte sich die erste Auflage vor allem noch auf - damals allein zugängliche - amerikanische und britische Akten, so war die zweite/dritte Auflage bereits mit einer Vielzahl - damals nur Stourzh zugänglicher - österreichischer Dokumente gespickt. Die jetzt vorliegende vierte Auflage basiert nun auch auf zahlreichen neuen Akten aus russischen und französischen Archiven, aber auch auf einer Unmenge von neuen Dokumenten aus dem Wiener Staatsarchiv und aus Privatnachlässen von Schlüsselfiguren der Nachkriegsdiplomatie, zu denen wiederum Stourzh privilegierten Zugang genoß.
Die Gliederung hat sich seit der ersten Auflage nicht verändert. Allerdings sind Stourzhs Ausführungen zum annus mirabilis 1955 zu einem Doppelkapitel angeschwollen, das auch als gesondertes Buch veröffentlicht werden könnte (warum nicht in einer englischen Übersetzung?). Besonders die analytischen Teile (S. 450-485, 579-606) bestechen auf der Grundlage der von Stourzh eingesehenen, neu zugänglichen sowjetischen Akten mit ihrer detaillierten Schilderung der Machtkämpfe im Kreml zwischen Wjatscheslaw Molotow und Nikita Chruschtschow im Frühjahr 1955, die mit Chruschtschows Sieg und der Entkoppelung der österreichischen von der deutschen Frage endeten - dem entscheidenden Durchbruch in der bis dahin endlosen Geschichte der Staatsvertragsverhandlungen.
Stourzh streicht eindringlich heraus, daß die überraschende Österreich-Lösung im größeren Kontext der neuen Flexibilität (in Anlehnung an das Wort des französischen Spitzendiplomaten Jean Chauvel - souplesse = Biegsamkeit, S. 480 f.) sowjetischer Außenpolitik unter Chruschtschow zu sehen ist. Das war die radikale Wende weg von der Stalinschen/Molotowschen Nachkriegsaußenpolitik mit ihrer Weigerung, sich aus den am Ende des Zweiten Weltkriegs erkämpften militärischen Positionen zurückzuziehen.
Chruschtschow-Wende Chruschtschow setzte 1955 seinen neuen großen Plan der Sowjetpolitik durch, nämlich einen "des Wohlwollens oder auch der Annäherung gegenüber nichtkommunistischen Staaten, sofern sie nicht einem Militärblock unter âimperialistischer', sprich amerikanischer Patronanz angehörten"; das, so Stourzh, "wurde zur Signatur der Chruschtschowschen Politik" (S. 482).
In diesen Schlußkapiteln wird klar, daß man von einem Glücksfall reden kann, wenn sich der blendende Verfassungshistoriker Stourzh an die komplexen Diskussionen beim Zustandekommen der österreichischen Neutralität heranmacht. Ein besonderes Verdienst dieses Bandes besteht darin, in verständlicher Weise die Optionen herausgearbeitet zu haben, die im Frühjahr 1955 am Ballhausplatz als Antwort auf die dramatische Wende in der Moskauer Politik diskutiert wurden. Stourzh legt offen, daß vor allem die Völkerrechtsabteilung des Wiener Außenamtes die Delegation um Bundeskanzler Julius Raab, die im April 1955 die ungewiße Reise nach Moskau antrat, bestens mit subtilen Optionen für die Verhandlungen über die vom Kreml eingeforderten "Anti-Anschluß-Garantien" versorgt hatte.
In der Frage "Selbstgewählte Neutralität nach Schweizer Muster und/oder zusätzliche Territorialgarantie durch die vier Mächte" wurde der Chef der Völkerrechtsabteilung am Ballhausplatz, Stephan Verosta, zu einem wichtigen Drahtzieher beim Durchbruch in der österreichischen Lösung. Implizit wertet Stourzh die Rolle der bisher eher namenlosen Diplomaten im Außenamt auf und relativiert damit die Rolle von Staatssekretär Bruno Kreisky etwas.
Was der Übersetzer der österreichischen Delegation in Moskau, Walter Kindermann, zur Genauigkeit von Verostas Arbeitsstil anmerkte, charakterisiert auch Stourzhs Methodik: "Ich lerne seine Pedanterie in vollem Ausmaße kennen, bin aber schnell von ihrer Notwendigkeit überzeugt" (S. 446). Was den einen zum Vordenker der österreichischen Lösung von 1955 machte, sollte den anderen zum Vorbild einer Renaissance der Diplomatiegeschichte in Österreich machen.
Stourzhs Einschätzungen überzeugen, da er nie Partei ergreift, obwohl er auf die jeweiligen parteiischen Rollen, die ÖVP und SPÖ spielten, immer wieder eingeht. Daß ausgerechnet Dulles zum Inspirator der Moskauer Formel der bewaffneten Neutralität nach Schweizer Vorbild wurde, die Molotow im entscheidenden Augenblick bei den Moskauer Verhandlungen klug in den Mittelpunkt rückte, wird von Stourzh als "paradox, und nicht ohne Ironie" (S. 603) herausgestrichen.
Opferthese Wie schon bei den früheren Auflagen dieses Werkes, bleibt die Periode der Eiszeit zwischen Ost und West während des Korea-Krieges (1950-52) das dünnste Kapitel. Stourzh hat nie die amerikanischen Militärakten ausgewertet und konzediert auch, daß eine Arbeit zur "geheimen Wiederbewaffnung" und zur österreichischen Zusammenarbeit mit der NATO aussteht. Eine sich im Endstadium befindliche Dissertation an der Georgetown-Universität in Washington (D.C.) wird diese Lücke füllen. Auch zur amerikanischen Kurzvertragsinitiative, die ein Teil von Washingtons eskalierender psychologischer Kriegsführung mit dem Kreml wurde, gibt es mehr zu sagen als hier nachzulesen ist.
Stourzh weicht auch nicht von der seiner Generation eigenen Opferthese ab, die dem Staatsvertrag zugrunde liegt. Wenn eine jüngere Generation von Historikern die österreichische Mitverantwortung an den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges - denen, wie Stourzh akribisch aufzeigt, seit 1943 das Hauptaugenmerk der Moskauer Diplomatie galt (S. 20-28) - betont, so hat das weniger mit krassen Aktualitätsbezügen (S. 605) zu tun, sondern mehr damit, daß diese Generation bewußt oder unbewußt ihre Analysen in der Perspektive eines gefestigten österreichischen Nationalbewußtseins erstellt, um das Stourzhs Generation in schweren und unsicheren Zeiten so hart gerungen hat.
Stourzhs neues opus magnum stellt die Krönung einer außergewöhnlich reichhaltigen wissenschaftlichen Laufbahn dar. Es verdient nicht nur die Hochachtung der Fachwissenschaft, sondern den Dank der Republik Österreich! Ob es mit seinem stolzen Preis von beinahe öS 1.000,- so viele studentische Leser wie die früheren Studienausgaben zum Kauf anregen wird, ist allerdings zu bezweifeln.
Der Autor ist stv. Direktor des Center Austria an der Universität von New Orleans. Sein Buch "Austria in the First Cold War 1945-55: The Leverage of the Weak" wird im Frühjahr bei Macmillan in London und St. Martins in New York erscheinen.
Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945-1955 (Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 62) Von Gerald Stourzh, 4. erw. Aufl., Böhlau Verlag, Wien - Köln - Weimar 1998, 821 Seiten, Ln., öS 980,
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