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Ringendes Frankreich

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E. v. H., Paris, 5. September

Ehe Krise. — Damit ist nun nicht die Krise gemeint, die zur Ablösung des Kabinetts Andre Marie oder einer anderen französischen Regierung führt oder führen mag, sondern die Krise, die es möglich gemacht hat, daß Frankreich seit seiner Befreiung im Sommer 1944 zwölf Regierungen verbraucht hat. Die „New York Times“ hatten dieses Versagen des sonst so fruchtbaren französischen Geistes auf dem Gebiete der Selbstregierung als einen schwerwiegenden Mangel bezeichnet, der das Volk um den Preis seiner Anstrengungen beim Wiederaufbau der Heimat bringt und die Stellung Frankreichs als große Macht erschüttert. Als aufrichtiger Freund des französischen Volkes gibt man dem amerikanischen Journalisten mit tiefem Bedauern recht. Es klingt wie ohnmächtige Ergebung in ein unabwendbares Schicksal, wenn der Obmann der Volkspartei, Maurice Schuman, sagt: „Wir müssen die Krisen über uns ergehen lassen, wir beschwören sie nicht herauf und stehen ihrer Entwirrung niemals im Wege.“

Versucht man sich ein Bild der komplexen Lage zu machen, die die Häufung der Krisen verschuldet, so sieht man vor sich eine Art Puzzlespiel, das niemals aufgeht, weil noch keinem Spieler gestattet war, es zu Ende zu spielen.

Eine Hauptursache der Krise ist (’’ter wollte daran zweifeln) der Krieg, der nun eigentlich schon seit 1914 dauert, ohne daß sich bisher die Konturen des endlichen Friedens zeigten, der Krieg mit seinen beispiellosen Verwüstungen seelischer und materieller Natur, der Krieg, der zumindest auf ideologischem Gebiet noch nicht beendet ist. Dieser Krieg hat Frankreich in zwei gegnerischen Lagern gesehen, und es geschah nachher wohl alles, um die Kluft, die sich zwischen Franzosen und Franzosen aufgetan hatte, zu schließen, aber fürs erste nur wenig, um Frankreich wiederaufzubauen und das Produktionsniveau vor 1940 wiederherzustellen. Die ersten französischen Regierungen, an denen Sozialisten und Kommunisten beteiligt waren, ließen sich vor allem Verstaatlichung und andere programmatische Fragen angelegen sein, während die belgischen Regierungen siela von allem Anbeginn um die Erhaltung der Kaufkraft der Arbeiter kümmerten.

Der Krieg hat der Dritten Republik den Todesstoß versetzt. Wodurch unterscheidet sich aber die Vierte von ihrer Vorgängerin? Man hat von der Dritten Republik — mutatis mutandis — gesagt, was Prälat Seipel zu einem gewissen Zeitpunkt von der ersten österreichischen Republik gesagt hat: Sie habe zur Vergottung des Parteienparlamentarismus geführt.

Die Verfassung der Vierten Republik hat die Parteien über Staat und Volk gestellt. Der erste, von der äußersten Linken inspirierte Entwurf ist vom französischen Volke verworfen worden. Der zweite bedeutete keine wesentliche Verbesserung. Der Wunsch, das Provisorium zu beenden, gestattete aber kein langes Verhandeln. Das müde französische Volk nahm am 13. Oktober 1946 — mit sichtbarem Widerstreben — diese zweite Verfassung an und schränkte mit ihr sein Recht auf Kundgebung und Durchsetzung seines Willens mehr ein, als es ein demokratisch-repräsentatives System an sich notwendig macht. Die Nationalversammlung konnte während der ersten achtzehn Monate der Legislatur nicht aufgelöst werden. Diese ersten achtzehn Monate sind verstrichen. Seither spielt ein ingeniöses System von Sicherungen. Das Haus könnte nur aufgeiöst werden, wenn es während einer Legislaturperiode von achtzehn Monaten zweimal über einer Vertrauensfrage oder wegen eines Tadels- votiums zu einer Regierungskrise gekommen wäre, aber keines der zwöjf Kabinette der Vierten Republik ist über eine Vertrauensfrage oder ein Tadelsvotum gestürzt. Es kann sogar geschehen, wie es bei der ersten Regierung Schumann der Fall war, daß dem Kabinette das Vertrauen votiert und ein paar Tage später zum gleichen Gegen stände ein für die Regierung unannehmbarer Beschluß gefaßt wird.

Die Versicherung der Abgeordneten gegen Mißtrauenskundgebungen des Volkes geht aber noch weiter. Im Herbst des vorigen Jahres hat ein großer Teil des Volkes durch das Mittel der Getneindewahlen zu erkennen gegeben, daß die Zusammensetzung der Nationalversammlung nicht mehr seinem Wunsche entspricht. Die Nationalversammlung hätte sich deshalb wohl noch nicht selbst auflösen müssen, doch hatte ein zweites indirektes Mißtrauensvotum dieser Art dies notwendig gemacht. Die Erfahrung mit den Gemeindewahlen könnte sich nun im Oktober 1948 bei den kommenden Departementswahlen wiederholen. Die Bildung des Kabinettes Andre Marie war recht schwierig. Sie hing auch von der Erklärung ab, die Nationalversammlung allein bestimmen zu lassen, ob sie diese Wahlen verschieben wolle oder nicht. Die Sozialdemokraten hatten unter Ramadier und Schuman in ehrlichem Patriotismus lange die Politik der Opfer mitgemacht, die stets die wirtschaftlich Schwachen, also ihre Wähler, am schwersten treffen. Je näher man aber dem Oktober kam, desto mehr glauben die Sozialisten auf die Wahlen Rücksicht nehmen zu müssen. Mit einem wahrhaft mystischen Glauben glaubten sie, noch immer die alte Linie einzuhalten, während sie schon weitab von ihr marschierten. Zuletzt drängten die Sozialisten auf Verschiebung der Wahlen. Dafür wurde auch ein Grund ins Treffen geführt, der sich hören lassen konnte: um ein auf lange Sicht berechnetes, tief einschneidendes Wirtschaftsprogramm wie das Paul Reynauds durchführen zu können, bedarf es größter Stabilität der öffentlichen Einrichtungen und der Fernhaltung von Störungen, wie sie mit Wahlfeldzügen gemeiniglich verbunden sind. Verführt von diesem Gedanken, fand sich eine Mehrheit für die Verschiebung der Departementswahlen, worauf dem Programm Reynauds die Zustimmung versagt wurde, was zur Demission des Kabinetts Andre Marie führte. Die Gemeinde- und Departementswahlen, die ursprünglich gebietsbegrenzten Interessen dienten, haben in der Vierten Republik an Bedeutung gewonnen. Sie gestatten Sondierungen der öffentlichen Meinung, um, wenn irgend möglich, einem Erdrutsch in der parteimäßigen Zusammensetzung in der Nationalversammlung zuvorzukommen. Im übrigen: ein Vertretungskörper muß sich auf seine Wähler stützen können, er muß sie suchen, nicht sie fliehen.

Die erste Nationalversammlung der Vierten Republik erfreut sich nicht mehr großen Beifalls. Sie ist recht unglücklich zusammengesetzt. Weder die Linke noch die Mitte noch die Rechte haben in ihr eine Mehrheit. Die stärkste Regierungskombination war der Tripartismus, die Koalition von Volksparteilern, Sozialisten und Kommunisten. Sie ging in Brüche, als die Kommunisten gleichzeitig Regierungspartei und Opposition sein wollten. Nachher hat man es mit der Dritten Kraft (Volkspartei und Sozialisten) versucht, die immer auf die unsichere Unterstützung von Gruppen der Sammlung der Linken angewiesen war. Man glaubte, die Kombination sicherer und fester zu gestalten, indem man immer weiter rechts griff. Das „starke" Kabinett der „großen“ Koalition erwies sich dann als das schwächste und kurzlebigste, da es der Aufrichtigkeit und der Kohäsion entbehrte. Die Parteienkonstellation in der ersten Nationalversammlung gestattet um so weniger Kombinationen, als sich die Kommunisten selbst ausgeschlossen haben und gegen die Gaullisten eine Art Exklusive ausgesprochen ist. Die von den Kommunisten immer wieder geforderte Einsetzung eines Kabinetts der demokratischen Union, das wohl volksfrontartige Züge getragen hätte, war aussichtslos, da sich für eine Koalition mit der äußersten Linken im gegenwärtigen französischen Parlament eine Mehrheit nicht finden kann. Jede Kombination muß die Sozialisten als Regierungspartner oder sehr wohlwollende Neutrale gewinnen, denn es ist heutzutage ausgeschlossen, gegen beide große Arbeiterparteien regieren zu wollen. Selbst eine Regierung, die sich auf beide Arbeiterparteien stützte, wäre der Gewerkschaften nicht absolut sicher.

Um das Bild zu vereinfachen, kann man sagen, die CGT ist der Gewerkschaftsverband der Kommunisten, die Force Ouvriere der der Sozialisten und die CFTC der der Volkspartei. Während die CGT und die Force Ouvriere zumeist „ihrer" Partei gehorchen, besteht zwischen CFTC und Volkspartei doch nur eine weltanschauliche Gleichrichtung. CGT und Force Ouvrižre lassen sich nicht vor einen und denselben Wagen spannen. Fragt man sich, wer eigentlich stärker ist, Partei oder Gewerkschaft, so wird man in allen drei Fällen sagen müssen: Die Gewerkschaft. Der anfangs wilde Streik des Jahres 1946 in den Renault-Werken, der, immer weiter um sich greifend, von der CGT gedeckt wurde, zwang schließlich die widerstrebende kommunistische Partei unter den Willen der

Gewerkschaft und führte zum Ausscheiden der kommunistischen Minister aus der Regierung. Die keiner öffentlichen Verantwortung unterliegende Macht der Gewerkschaften, die Staat und Volk Ende des Jahres 1947 in große Gefahr gebracht hat, führte zur Überlegung, ob es nicht hoch an der Zeit sei, die Gewerkschaften in die Verfassung einzubauen. Es ist ein Mangel fast aller Verfassungen, daß sie von einer Macht keine Kenntnis nehmen, die das politische Leben des Staates so sehr beeinflussen kann. Der Einfluß der Gewerkschaften ist groß und unbegrenzt, weil sie nicht parlamentarisch verantwortlich sind. Rechte und Pflichten der Gewerkschaften, ihre Organisation, die Wahl ihrer Organe — all das gehört in eine Verfassung, die das Streikrecht des Arbeiters unter ihren Schutz nimmt, ohne daß die in derselben Verfassung angekündigten, es reglementierenden Gesetze je erlassen worden wären.

Der Einfluß der Gewerkschaften auf die Krise ist seit Ende 1947 besonders groß.

Damals hat sich die Force Ouvriere von der CGT abgespalten. Jetzt bemüht sich die CGT, die verschiedenen Gewerkschaftsverbände doch wieder unter einen Hut, das heißt unter ihren Hut zu bringen. Deshalb unterstützt sie jede — auch jede lokale oder berufsständische Forderung. Die Force Ouvriere trachtet andererseits, immer mehr Gewerkschaften an sich heranzuziehen. Deshalb übersteigert sie ihre Forderungen an den Staat und die Arbeitgeber. Die Ansprüche der Arbeiterschaft wären aber, wie gesagt werden muß, auch ohne die von den Gewerkschaftsverbänden ausgehenden Anregungen gestiegen. Denn der Preisindex steht auf 16, der Lohnindex auf 6! Schon Ramadier hat die Gewerkschaften immer nur vertröstet. Er hat ihnen versprochen, die Preise zu senken oder doch zu stabilisieren, der Zurückhaltung lebenswichtiger Waren zu steuern, mit dem Schwarzen Markt aufzuräumen und die Löhne den Preisen anzupassen. Schuman hat im November die Herstellung einer festen Beziehung zwischen Löhnen und Preisen bis Juni 1948 in Aussicht gestellt. Zuletzt hatte man sich auf den 1. September als letzten Termin geeinijįj. Aber selbst bei gutem Willen der Regierungen konnte es au keiner Einlösung solcher Versprechen kommen, weil die Regierungen regelmäßig zu Falle kamen, ehe sie die letzte Entscheidung treffen konnten. Diese unerfüllten Versprechen sind eine drückende Hypothek auf das Programm und die Stellung einer jeden neuen Regierung. Jede Krise hat die Lage auch dadurch kompliziert, daß sie zu einer neuen Hausse der Preise, einer neuen Baisse der Produktion und zu einem neuen Sinken des Geldwertes geführt hat.

Wer ist der Mann, der die Krisen zu entwirren hat, die aus der latenten Krise hervorgehen? Es ist Vincent Auriol, der Präsident der französischen Republik. Vincent Auriol ist kein Lebrun, der sich von Petain einfach wegschicken ließ. Vincent Auriol wird so lange als möglich der Auflösung der Nationalversammlung und der Berufung des Generals de Gaulle widerstehen. Wie lange kann er das noch? Wer wollte nicht sehen, daß sich die kaum den Kinderschuhen entwachsene Vierte Republik sehr rasch abnützt. Bei der Lösung der akuten Ministerkrisen bewegt man sich in immer enger werdenden Kreisen. Blum, Ramadier, Blum, Schumann, ausnahmsweise Marie, wieder Ramadier wieder Schumann und so fort. Als Ramadier das letztemal ins Elysee gerufen wurde, rief Herriot bedauernd aus: „Armer Alter!“ Die Programme, die einander ablösen, unterscheiden sich voneinander hauptsächlich dadurch, daß sie immer neue Opfer fordern, weil die alten Opfer noch nicht gebracht wurden. Als Andre Marie einen Leon Blum und einen Paul Reynaud in sein Ministerium berief, sprang das Witzwort auf, die Vierte Republik habe die Dritte zu Hilfe gerufen, um Frankreich vor der Fünften zu bewahren. Aber wenn auch die Dritte nichts mehr zu geben hat, wird das Tor wohl oder übel den Männern der Fünften Republik aufgetan werden müssen …

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