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Rom und Moskau

19451960198020002020

Christentum in der Sowjetunion. Herausgegeben von Wilhelm de Vries S.J. Kemper- Verlag, Heidelberg, 238 Seiten. (Titel der italienischen Ausgabe: II Christianesimo nell' Unione Sovietica; Edizioni „La clviltä catholica", Roma 1948. übersetzt von Adelaide Gerhard.)

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Christentum in der Sowjetunion. Herausgegeben von Wilhelm de Vries S.J. Kemper- Verlag, Heidelberg, 238 Seiten. (Titel der italienischen Ausgabe: II Christianesimo nell' Unione Sovietica; Edizioni „La clviltä catholica", Roma 1948. übersetzt von Adelaide Gerhard.)

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Nicht selten veröffentlichen die sowjetischen Zeitungen ausführliche Berichte über die Weltschachturniere, aber vor unseren Augen spielt sich ein ganz anderes Turnier ab, über das man in den großen Tageszeitungen dieser Weltmacht kaum etwas Nennenswertes liest und das doch die ganze Welt aufs tiefste interessiert und berührt. Man braucht nur eine beliebige englische, französische, deutsche, italienische Zeitung aufzuschlagen, um das Chaos der verschiedenen Bewegungen wahr: zunehmen, die sich das Feld streitig machen. Aber zwei sind es, die alle überragen und Millionen und aber Millionen Menschen da bewegen, wo alle anderen nur eine periphere Wirkung haben: der atheistische Materialismus und die Religion, vorwiegend die katholische. Beide Bewegungen kann man kurz mit dem Namen Moskau und Rom bezeichnen. Sie sind auch gleichzeitig ein Symbol. Moskau sei zuerst genannt, nicht weil das moderne Moskau sich auf eine jahrhundertalte Überlieferung berufen kann und auch nicht, weil es die Trägerin unfehlbarer und ewiger Wahrheit wäre, sondern weil Moskau als aktive und offensive Macht, als Gegenspielerin der Religion, vor allem der katholischen, auf den Plan der Weltgeschichte getreten ist. Die Gegensätze sind, ideologischer Natur und beziehen sich auf die Welt- und Lebensanschauungen, obwohl sich die Anziehungskraft und Propaganda nur auf soziale und wirtschaftliche Gebiete erstrecken.

In der Tat sind auch bei der neuen sowjetischen Kirchenpolitik die materialistischen und atheistischen Leitsätze die gleichen geblieben und werden in den Parteidirektiven, in Literatur und Wissenschaft immer wieder bestätigt. So heißt es in der Zeitschrift „Bolschewik (16 August 1946): „Als wissenschaftliche Weltbetrachtung ist der dialektische Materialismus das Gegenteil der religiösen Weltanschauung, die einen absurden und phantastischen Begriff von der Welt vermittelt. Wenn man den dialektischen Materialismus folgerichtig erklären will, muß man den wesentlichen Gegensatz der materiellen und der religiösen Anschauung beweisen, der daran liegt, daß der Materialismus systematisch versucht, die Religion der Kritik zu unterwerfen, indem er ihren unwissenschaftlichen Charakter hervorhebt und ihre reaktionäre Haltung im öffentlichen Leben brandmarkt. (Eine Anweisung, die die Jünger Moskaus übrigens auch bei uns. selbst wo sie ihre Worte und Handlungen „christlich verbrämen, gehorsam befolgen.)

Beide Weltanschauungen erheben Anspruch auf Universalität. Beide Bewegungen verfügen über Millionen und aber Millionen, die mit Vertrauen auf ihre höchsten Führer schauen, von denen sie unfehlbare Worte erwarten. Das vorliegende Buch, das von de Vries S. J. unter Mitwirkung der Jesuitenpatres A M Ammann, St. Tyzkiewics, Bernhard Schultze, G. M. Schweigl und Josef Ölst herausgegeben wurde, untersucht diesen weltumfassenden gigantischen Kampf, indem es auf Grund sehr genauer und zuverlässiger Quellen, erstmalig in dieser souveränen Art, das Schicksal des Christentums in Rußland zur Darstellung bringt. Je weiter die Darstellung in der Geschichte zurückgreift, um so unanfechtbarer ist sie, und der knappe, aber umfassende Abschnitt über die zaristische Kirchenpolitik als Voraussetzung der bolschewistischen Revolution gehört zweifellos zum Besten, was über dieses Thema je geschrieben worden ist.

Wenn aber etwa hervorgehoben (S. 60) wird, daß Metropoliten und Bischöfe in ihren Darlegungen unbedenklich und massenhaft Zitate aus der profanen Literatur heranziehen, aber nur sehr selten die Heilige Schrift zitieren und nirgends auf die Kirchengeschichte und das Leben der Heiligen Bezug genommen wird, so weisen doch die kirchlichen Dokumente, Hirtenbriefe, Ansprachen jüngeren und jüngsten Datums, die mir vorliegen, keineswegs diesen Mangel auf; allerdings finden sich auch in diesen Dokumenten immer wieder Gedankengänge, die dem politischen Weltbild des Bolschewismus entnommen sind, so insbesondere Haßausbrüche gegenüber Rom; denn die patriarchalische Kirche Rußlands ist bestrebt, sich nach dem Willen Gottes auszurichten, aber auch der Regierung Genüge zu tun. Oder wenn etwa von nur acht Kirchen in Moskau die Rede ist, deren Namen einem Artikel entnommen sind, etwas wenig für eine Millionenstadt wie Moskau, und wenn daran anschließend auf die Beobachtungen von Mr. Werth hingewiesen wird, der während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Moskau „trotz eifriger Nachforschungen keine von ihnen ausfindig machen konnte“ (S. 71), so kann ich demgegenüber doch nicht verschweigen, daß ich 1950 während eines einwöchigen Aufenthalts in Moskau eine größere Anzahl von Kirchen selbst besucht habe, nicht eingerechnet die Himmelfahrtskathedrale im Kreml, die damals noch restauriert wurde und für den Be such nicht freigegeben war. Und zwar waren diese Kirchen, wi« ich mit eigenen Augen gesehen habe, von Gläubigen überfüllt, nicht nur von alten Leuten, wie das vorliegende Buch in Übereinstimmung mit einer von zwei Wiener Kommunisten verfaßten Broschüre angibt, sondern von mindestens ebensoviel jungen Menschen wie die Wiener Kirchen. Solche Ungenauigkeiten muß sich ein Land gefallen lassen, das aus Angst vor Verrat, Spionage. Sabotage und einem Einsickern der „gefährlichen westlichen Einflüsse seine Grenzen dem normalen Reiseverkehr und einem freien Gedankenaustausch verschließt, als befände es sich seit 1917 immer noch im Kriegszustand mit der ganzen Welt.

Doch handelt es sich bei diesen Ungenauigkeiten im allgemeinen nur um Nuancen, die das Buch auf der Suche nach der Wahrheit, soweit es möglich ist, noch in Fußnoten korrigiert, in denen es zum Beispiel heißt: „In der Zwischenzeit ist die Zahl der eröffneten Kirchen gewaltig angewachsen , oder in denen auf die Neubesetzung vakanter Bischofssitze oder die Einrichtung weiterer Priesterseminare hingewiesen wird.

Es gibt zur Zeit in unserem Bereich kein Buch, das die Geschichte, die Lage, das äußere und innere Wirken christlicher Kirchen in Rußland unter der Herrschaft des Kommunismus so vielseitig, so gelassen und gründlich, so lückenlos und ergreifend darstellt, wie das vorliegende Es erweitert nicht nur das spärliche Wissen um dieses erschütternde Thema in entscheidender Weise, sondern regt bei ernsthaftem Studium auch zur Besinnung an.

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