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Rublands europaische Sendung

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Dieser Artikel hat seine Geschichte. Er wurde uns vor Jahren zu einem Zeitpunkt übermittelt, da eine Veröffentlichung in der „Furche“ zu schlimmen Verdächtigungen hätte führen können. Daß ein richtiger Kern für künftige Entwicklungen darin enthalten war, war uns immer klar, so daß der Artikel fast jedes Jahr einmal vorgenommen — und wieder zurückgestellt wurde. Nun scheint uns aber das heutige Ost-West-Verhältnis so aktuell geworden zu sein, daß wir die Gedanken des Verfassers unseren Lesern nicht mehr vorenthalten, sondern freimütig zur Diskussion stellen wollen. „Die Furche“ *

Der Titel ist kein Irrtum. Wir waren lange Jahre daran, unser gesamte Geschichtsbild total zu verfälschen, und das zugunsten einer vermeintlichen Änderung der Weltlage, die m Wirklichkeit nur einen unhaltbaren Interimszustand darstellt; dieses Intermezzo bemüht sich schon seit dem Ausgang des ersten Weltkrieges bis heute krampfhaft, sich zu legalisieren und so zum politischen Weltbild zu werden.

Die konsequente Haltung Rußlands In der Frage der Lösung der europäischen Probleme ist nicht immer in erster Linie eine Haltung des Kommunismus gegenüber dem Westen oder die einer imperialisti-echen Großmacht, sondern es ist sehr häufig die Ablehnung eines Systems, Politik zu machen, das zu kriegsschwangeren Kompromissen geführt hat; es ist die Ablehnung eines Geschäftsgeistes in der Politik, der keine Rücksicht nimmt auf die naturgegebenen Volksinteressen, sondern bestenfalls noch nach starren Prinzipien einer für alle Probleme gleichermaßen gültigen Formel von „Freiheit“ im Geiste des schrecklichen Vereinfachers Lösungen vorschlägt und für die Folgen die anderen verantwortlich macht. Politik ist dem Westen nur noch ein Kontoposten der Weltwirtschaft, aber weder eine Folge einer Staatsidee noch die einer sittlichen Ordnung oder patriotischer Werte.

Rußland war gemeinsam mit allen von Hitler überrannten europäischen Staaten der große Leidtragende aus den unverantwortlichen Vertragsbestimmungen von St. Germain und Trianon nach dem ersten Weltkrieg. Bei Abschluß dieser Verträge war Rußland nicht anwesend. Und weil es bekanntlich in die Revolution verwickelt war, als die Westmächte siegreich die Fronten der Mittelmächte eindrückten, glaubten die Vertragsdiktatoren einen Zustand In Mitteleuropa schaffen zu können,der für ewige Zeiten gültig sein werde. Hätte Rußland ein Mitbestimmungsrecht in Versailles, St. Germain und Trianon gehabt, so wäre ein natürliches Gegengewicht gegen Clemenceau, Benes und Wilson am Konferenztisch gesessen, und es wäre der Welt der Gegensatz von heute erspart geblieben, weil Rußland damals seine Interessen gegenüber dem Westen vertreten hätte.

Anstatt dessen wurden die Armeen Hitlers großgezüchtet und überrannten nicht nur Europa, sondern auch Rußland. Der Kreml hat mit aller Konsequenz daraus seine Lehren gezogen und wird es auf keinen Fall mehr zulassen, daß Europa nur im westlichen Sinne geregelt wird, weil dies bis heute zum Verhängnis für die Welt geworden war. In der unbeugsamen Haltung Rußlands liegt somit auch ein gutes Stück gesunder Instinkt und praktische Erfahrungen mit der Sinnlosigkeit eines politischen Konzeptes, das keinen ideellen Wert mehr aufzuweisen hat.

Wenn heute noch von einer Bedrohung Europas aus dem Westen die Rede Ist, so ist dies, was Europa selber betrifft, sein altes Schicksal. Was aber Rußland angeht, so liegt die Zukunft Rußlands darin, Europa zu erhalten und seine Einigung zu ermöglichen. Die natürlichen Interessen Europas und die natürlichen Interessen Rußlands ergänzen sich gegenseitig, wogegen sich die Interessen Rußlands und die der USA immer in Rivalität kundgeben werden. Rußland würde sich also selber das Grab schaufeln, sollte es rückfällig werden und wieder auf den Gedanken verfallen, Europa zu untergraben. Es kann sich das einfach nicht leisten; das geht auch daraus hervor, daß sich hinter seiner unbeugsamen Haltung gegenüber dem Westen in den Fragen der Regelung der europäischen Probleme nichts anderes verbirgt als das elementare Bedürfnis, ein gefestigtes Europa in seinem Rücken gegenüber dem heraufkommenden Asien zu wissen. Dies geschieht unter den gegenwärtigen Möglichkeiten in Form der Satellitenpolitik und des Warschauer Paktes, dessen Wesen und Bekräftigung mit den Satellitenstaaten asiatische Hintergründe hat.

Rußland ist in dieser Funktion der letzte eigentliche europäische Staat, der die ursprünglichen und ureigentlichen Funktionen Europas aufrechterhält. Es ist nur eine der selten vorkommenden Komplikationen an geschichtlicher Tragik, daß gerade in diesem Augenblick weltgeschichtlicher Entscheidungen, in denen sich neue Epochen herauskristallisieren, in Rußland ein System herrscht, dessen geistiges Konzept das übrige Europa abstößt und in Reservestellung zwingt.

Es fing schon vor 60 Jahren an, als die Niederlage vor Port Arthur und die bolschewistische Revolution Rußland vorübergehend in seiner Macht erschütterte, was sich besonders in der Niederlage im ersten Weltkrieg dokumentierte.

Und damit beginnt, wie gesagt, eine regelrechte Tragik der Weltgeschichte: gerade in diesem Augenblick des Heraufkommens neuer weltweiter Entscheidungen zwischen Europa und Asien ist Rußland einer Idee verfallen, die es nicht nur isoliert, sondern sogar der Gefahr aussetzt, eines Tages von zwei Fronten angegriffen zu werden.

Rußland ist aber auch noch in dieser seiner heutigen Lage der Schild Europas, und es wäre kurzsiohtig, sich über ein Verhängnis zu freuen, das es treffen könnte, denn es wäre das Verhängnis Europas. China, das heute bereits Atombomben entwickelt, wird in wenigen Jahrzehnten in der Lage sein, eine Hundertmillionenarmee aufzustellen, und es wird in gar nicht allzu ferner Zeit eine Einwohnerzahl von mehr als einer Milliarde Menschen (heute schon 750 Millionen!) aufweisen, mit einer enormen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und militärischen Kapazität.

Es ist daher nur zu verständlich, daß Rußland keinerlei Veränderungen in Europa wünscht, die zu seinen Ungunsten sprechen, was ebenso durchaus im Interesse Europas selber liegt! Und es ist unklug, die Wiederherstellung eines Status quo in europäischen Problemen zu er-wünschen, der durch evidente Fehlentwicklungen förmlich zwangsmäßig entstanden ist. Wir handeln nur dadurch wirklich europäisch, wenn wir bei konsequenter und kompromißloser Ablehnung des kommunistischen Gedankengutes und der kommunistischen Ideologien alles daransetzen, auf dem Wege nachbarlicher Zusammenarbeit Rußland wieder in die europäische Völkerfamilie zurückzuführen, aus der es durch die Oktoberrevolution und die Niederlage im ersten Weltkrieg hinausgedrängt wurde und sich selber so in eine lebensgefährliche Lage begeben hat. Wir müssen Rußland seine Sendung wieder bewußt machen, und dies geschieht am besten dadurch, daß wir selber unsere Aufgabe kennen.

Sie besteht darin, daß wir die Vereinigung Europas nur in Zusammenarbeit mit Rußland bewerkstelligen können. Jeder andere Versuch muß zum Rückfall in die alte Zersplitterung führen oder zu einem Kompromiß, der nicht im fundamentalen Interesse Europas liegen kann. Ein geeintes und starkes Europa, das Rußland den Rücken deckt, liegt ebenso im Interesse Rußlands, wie ein wieder in die europäische Völkerfamilie zurückgekehrtes Rußland im Interesse Europas liegt, das sich der Sendung des Abendlandes wieder bewußt wird und so die Schutzfunktion gegenüber dem asiatischen Kontinent weiterführt in die Jahrhunderte.

Daß ein so geänderter Blick nach Osten lebensnotwendig ist, hat auch de Gaulle erkannt. Seine Politik aber erbringt den Beweis, wie schwer es ist, sich einem System zu entziehen, das sich in seiner Starrheit und antieuropäischen Tendenz bei weitem gefährlicher für Europa erweisen wird, als es die naturgegebenen Bedrohungen aus dem Osten waren, die nur den Aufstieg und den Sieg Europas provozierten, wogegen der Untergang dessen, was Europa einmal darstellte, aus dem Westen und seinen Ideologien kam, die keine Notiz von den geopoliti-schen Naturgesetzen Eurasiens genommen hatten.

Es ist daher lebensnotwendig für die Zukunft, daß wir uns mit freundschaftlicher Reserve gegenüber dem Mißverstehen der europäischen Existenz durch den Westen unserer alten ursprünglichen Aufgabe, dem Osten, wieder zuwenden.

So wie es einst ausschließlich das Christentum war, das Europa groß machte, zum Siege führte, und es nur die Häresien des Westens waren, die es zerschlugen, untergruben und zerstörten, so wird auch in Zukunft eine Hinwendung zum Osten nur im Geiste christlicher Politik und Vermittlung zwischen Ost und West die innere Kraft haben, sowohl immun zu sein gegenüber Ideologien aus dem Osten wie auch dazu befähigt, Rußland wieder seiner alten europäischen Sendung bewußt zu machen, und es so zum starken Verbündeten Europas zu machen, eines Europas, das zwischen Ost und West die Stellung wird einnehmen müssen, die auch Österreich in vielen geschichtlichen Augenblicken zugewiesen war, ist und sein wird.

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