Rumäniens Sucht nach der Vergangenheit

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25 Jahre nach der Revolution würde jeder zweite Rumäne wieder Diktator Nicolae Ceausecu seine Stimme geben. Die zwanghafte Beschäftigung der Rumänen mit ihrer problematischen Vergangenheit trübt ihren Blick auf die Gegenwart und Zukunft. Eine Innenansicht.

Der Vergleich zwischen dem rumänischen Durchschnittsbürger im Jahr 1989 und seinem heutigen Pendant fällt schockierend aus. Ersterer besaß nicht einmal eine Schreibmaschine und war kaum in der Lage, sich Fachliteratur für seinen Beruf zu besorgen. Sein TV-Konsum war auf einen einzigen Sender beschränkt, wo in den zwei Stunden Programm ein stumpfsinniger Personenkult für Nicolae und Elena Ceausescu sämtliche Inhalte dominierte.

Der Rumäne von 1989 kämpfte täglich, um an Milch oder Butter zu kommen, und wenn er zweimal im Jahr Bananen kaufen durfte, wähnte er sich glücklich. Vom November bis April litt er unter Kälte. Um ins Ausland zu telefonieren, musste sich dieser Mensch in die Stadt begeben und das Gespräch aus einer Kabine heraus führen - abgehört von der Securitate. Die Aussichten auf eine Reise in den Westen waren minimal.

Ähnliche Vorstellungen wie 1989

Der Durchschnittsbürger im Jahr 2014 ist untrennbar mit seinem Smartphone verbunden und hat die Wahl zwischen hundert Fernsehstationen. Über das Internet kann er Nachrichten aus aller Welt abrufen. Im Einkaufszentrum findet er alle erdenklichen Waren. Stets kann er in ein Flugzeug steigen und die Welt bereisen.

Und dennoch sind die Vorstellungen, die Narrative, von denen der heutige Durchschnittsbürger lebt, denen seines Gegenübers von vor 25 Jahren sehr ähnlich. Und das Festhalten an einer traumatischen Geschichte kann eine Gesellschaft lähmen. Die zu enge Bindung an die Vergangenheit, die in Rumänien die Aufmerksamkeit für Gegenwart und Zukunft trübt, beruht auch auf den Besonderheiten der rumänischen Revolution im Dezember 1989: Ein blutiger Aufstand mit über tausend Toten, im Zuge dessen das Ehepaar Ceausescu nach einem Schnellverfahren hingerichtet wurde. Bestimmte Fakten sind unwiderlegbar: Die Armee schoss auf die Bevölkerung. Nach der Revolution stützten sich enge Vertraute des postkommunistischen Führers Ion Iliescu auf ehemalige Geheimdienstler und Angehörige der Nomenklatura und nahmen sie in die Staatsbürokratie auf. Und bei der Machtübernahme zwischen dem 22. und dem 25. Dezember 1989 wurde die Wahnvorstellung über angebliche "Terroristen“, die für die toten Zivilisten verantwortlich gewesen seien, instrumentalisiert, um die Bevölkerung zu kontrollieren.

Und trotzdem bleiben selbst 25 Jahre später Fragen offen, die die Menschen zwanghaft beschäftigen: Wer waren die "Terroristen“, die auf Zivilisten geschossen haben? Wer waren die Angehörigen des Apparats, die den Sturz von Ceausescu vorbereitet und umgesetzt haben? Weil Antworten bis heute fehlen, wird die Diskussion darüber immer wieder obsessiv von den gleichen Themen bestimmt und politisch manipuliert.

Ein besonderes Merkmal des Postkommunismus in Rumänien ist die Kontinuität staatlicher Eliten beim Übergang vom früheren totalitären zum neuen, grundsätzlich demokratischen Staat. Der erste Präsident nach der Wende, Ion Iliescu, war jahrzehntelang mit an der Spitze der Kommunistischen Partei gewesen. Verteidigungsminister Nicolae Militaru hatte jahrzehntelang für die Sowjets gearbeitet. Innenminister Mihai Chitac war an der Niederwerfung des Aufstands in Timisoara beteiligt gewesen.

Neuer Staat, alte Eliten

Der erste Direktor des Auslandsnachrichtendienstes SIE, Mihai Caraman, hatte auf Befehl der Sowjetunion die NATO ausspioniert. Sein Pendant beim Inlandsnachrichtendienst SRI, Virgil Magureanu, war Offizier der Securitate gewesen. Insgesamt ging der Personalbestand der Securitate fast vollständig im SRI auf - der gravierendste Ausdruck der Kontinuität nach 1989.

Ein weiterer Faktor der Kontinuität beim Regimewechsel war, dass nach wie vor die Karte des Nationalismus, dieses Geschwürs des Nationalkommunismus, gespielt wurde. Die "rotes Viereck“ genannte Allianz, die die Macht der im Dezember 1989 an die Führung gelangten Gruppe bis 1996 verlängerte, war geprägt durch die Parteien PUNR und PRM - beide antisemitisch, fremdenfeindlich und gegen die ungarische Minderheit im Land ausgerichtet. Den Nationalismus predigten, wenn auch in unterschiedlichem Maße, aber alle Bündnisparteien im "roten Viereck“.

Und doch bedeutete die Revolution vom Dezember 1989 eine Zäsur in Politik und Gesellschaft: Vor allem der grauenhafte Alltag im letzten kommunistischen Jahrzehnt führte dazu, dass sich Hunderttausende gesellschaftlich mobilisierten. Dieser aktive Teil der Bevölkerung sorgte für einen Bruch mit der kommunistischen Vergangenheit. Die Bildung einer bürgerlichen und politischen Gesellschaft verlief parallel zur Öffnung der Grenzen Rumäniens. Die Machthaber in Bukarest wurden von den bürgerlichen Organisationen bedrängt und hatten sich zugleich mit der politischen Opposition und dem Druck des Westens auseinanderzusetzen. So wurde jene institutionelle Transformation möglich, die für die Demokratisierung und die Beilegung ethnischer Konflikte erforderlich war.

Die demokratische Regierung von 1996 bis 2000 vollzog dann einen innenpolitischen Wandel und öffnete den Weg zur Mitgliedschaft in NATO und EU. Einmal vorgegeben, musste der proeuropäische Kurs von allen Parteien beibehalten werden, die an die Macht kamen. Durch die umfassenden Freiheiten und den EU-Beitritt machte Rumänien einen Wandel durch und hebt sich heute klar von der Welt der kommunistischen Ära ab.

Doch warum scheinen die Menschen trotz alledem noch der Vergangenheit nachzuhängen? Wieso glauben 71 Prozent der Befragten in einer Umfrage des Instituts IRES vom April 2014, dass Ceausescu sein Schicksal nicht verdient hat? Wieso würden ihn, träte er heute an, 41 Prozent der Rumänen zum Präsidenten wählen? Solche Ergebnisse spiegeln einerseits Nostalgie der Befragten oder ihre Unzufriedenheit über die Gegenwart wider. Noch schwerer aber wiegt auf der anderen Seite die Kontinuität von Mentalität und Interessen.

Die Zivilgesellschaft kleinhalten

Ein Bollwerk der Vergangenheitssucht ist die Koalition von korrupten, nach Legitimation heischenden Politikern und der Rumänischen Orthodoxen Kirche, einem nationalistischen, konservativen, raffgierigen und von der öffentlichen Hand lebenden Verein. Bei den Präsidentschaftswahlen von 2014 rührte die Kirche offen die Propagandatrommel für Victor Ponta, den Kandidaten der PSD, der Nachfolgerpartei der Kommunisten in institutioneller wie personeller Hinsicht. Diese Kräfte sind daran interessiert, die rumänische Zivilgesellschaft klein zu halten.

Doch die Dinge ändern sich: Die Vertrauenswerte der Rumänischen Orthodoxen Kirche sind von über 85 Prozent in den 2000ern auf etwa 62 Prozent im April 2014 eingebrochen. Und Victor Ponta unterlag bei den Präsidentschaftswahlen im November Klaus Johannis - einem deutschstämmigen Protestanten.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Bukarest. Er veröffentlichte bereits in den Achtzigern regimekritische Texte in westlichen Medien.

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