6732428-1966_04_05.jpg
Digital In Arbeit

Rund um die Integration

Werbung
Werbung
Werbung

Alle Welt operiert mit dem Begriff der Integration, die in der Vorstellung des Inlands und Auslands jedoch verschiedene Gestalten angenommen hat. Ausgehend von der Entwicklungslehre Herbert Spencers wurde der Begriff als Gegensatz zur Differenzierung zuerst von der Soziologie übernommen, später von der Nationalökonomie verwendet im Sinne einer Fusion, zumeist als vertikale Gruppierung von Unternehmungen, bis er zuletzt Eingang in die moderne Staatslehre zwecks Erläuterung des Dynamismus fand. Übertragen auf die Handelspolitik und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik verschiedener Staaten blieb die Integration bisher ein vieldeutiger Begriff, manchen Auslegungen zugänglich, im Augenblick freilich ein Ideal und das Ziel allen Stre- bens, das Wohlstand und Vollbeschäftigung, einen größeren Lebensraum und einen höheren Lebensstandard verkündet, zugleich aber auch eine Fata Morgana, wieil alle Vorstellungen den Boden der Tatsachen verlassen haben und sich vorerst noch jeder strengen nationalökonomischen Untersuchung entziehen. Man bewegt sich im Reich der Romantik. Ferner fehlt eine klare Abgrenzung. Schließlich verzeichnen die Wege einer „Zusammenfassung” viele Stationen, von der Mitarbeit bis zur Symbiose. Unter Integration verstehen etwa die EWG-Kommission eine straffe, autoritär geführte Vereinigung ihrer Mitglieder, die EFTA einen freien Handel im freien Europa, Österreich wiederum den Anschluß an die Dynamik von Brüssel, alles in allem ein weites Feld für Wortspiele. Unter diesen Umständen erhebt sich die Frage: „Wo steht heute die sogenannte Integration?”

Die Unrast des Kontinents

Der Plan, die Zollunion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft schon innerhalb kurzer Frist in eine politische Union zu verwandeln, erwies sich vorerst als Illusion. Diese Erkenntnis, heute schon allgemein verbreitet, betraf zunächst die bisher beschrittenen Wege, obwohl das Ideal der Vereinigten Staaten von Europa noch immer starke Suggestionen ausübt. Allerdings erhielt bisher niemand eine klare Auskunft, ob die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft nun eigentlich politische oder nur ökonomische Ziele verfolge. Bald hörte man von einer großen politischen Mission, bald von bescheidenen wirtschaftlichen Zwek- ken, bis endlich ein hoher Funktionär in Brüssel vor kurzem eine zutreffende Formel prägte: „Die EWG ist eine wirtschaftliche Organisation mit einem politischen Fernziel.” Natürlich lagen die Gründe des Scheiterns einer politischen Union auf der Hand. Nach dem zweiten Weltkrieg erlebte nicht nur Deutschland einer Teilung in vier Territorien, sondern Italien verlor Libyen, Äthiopien und Somaliland, die Niederlande das Märohenneich Insu- linde, Belgien den Kongo, zuletzt Frankreich nach Indochina und Marokko noch Tunesien und Algerien. Der allgemeine Rückzug der Kolonialmächte auf Europa erforderte eine neue Ideologie, um jeweils im Innern allen gefährlichen Stauungen von Komplexen und Ressentiments entgegentreten zu können, deren Überwindung ein psychologisches Wunder darstellte, nur ermöglicht durch einen überraschenden wirtschaftlichen Aufstieg.

Verschiedenheit der Strukturen

Die ehemaligen Großmächte, durch den Verlauf der jüngsten Geschichte auf ein enges Territorium zusammengepfercht, unternahmen den Versuch, sich in ihrem Prokrustesbett einzurichten, aber die wirtschaftsgeographische Struktur des Kontinents bereitete natürlich ungewöhnliche Schwierigkeiten. Westdeutschland ist ein Industrieland mit zwei hochentwickelten Agrargebieten, Italien ein Gartenland mit vielen neuen Industrien, die sich allzu schnell entwickelt haben, schließlich Frankreich ein Nachzügler, der nach dem Weltkrieg noch während vielen Jahren kostspielige Feldzüge in den Kolonien führte, bis es seinen Frieden fand. Freilich gibt es noch immer zahlreiche Zündstoffe. Italien laboriert an der sozialen Unrast, Westdeutschland fordert di nationale Wiedervereinigung und Frankreich hilft sich mit den Legenden seiner historischen Größe, aber Belgien und Holland denken mit Bangen und Besorgnis an die atlantische Gemeinschaft und ihre eigenen Beziehungen zu Großbritannien. Sogar in der wichtigsten politischen Frage, dem Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, zeigen die Ansprüche, Meinungen und Empfindungen große Unterschiede zwischen Rom, Bonn und Paris. Gegenwärtig unterliegt die europäische Solidarität einem Gefühl der Unsicherheit und einem Prozeß der Zersetzung, symbolisiert durch scharfe Kritik, ewige Debatten, Besuche und Gegenbesuche am laufenden Band, weil die gestörte politische Vorstellungswelt ohne Unterlaß in Übereinstimmung gebracht werden muß. Alle Vorkämpfer eines Vereinigten Europa mahnen zur Geduld und leiden an Depressionen. Wenn jedoch der Zwang zur Einigung bisher nur von der kommunistischen Gefahr ausging, die keineswegs geringer wurde, lassen in Zukunft auch die Vorgänge in den Entwicklungsländern eine Zusammenarbeit des freien Europa als unvermeidlich erscheinen.

Die Krisen in Brüssel

Vor diesem Hintergrund eines bewegten Szenenwechsels entwickelten sich in Brüssel die wirtschaftlichen Komponenten nach verschiedenen Richtungen. Solange die EWG auf die Durchführung von Zollreduktionen beschränkt blieb, um die Liberalisierung des Außenhandels in ihrem engen Rahmen fortzusetzen, nahm alles einen glatten Verlauf, aber schon die teilweise Assoziierung von Griechenland und der Türkei, zwei europäischen Entwicklungsländern, erforderte endlose Verhandlungen und bereitete seltene Schwierigkeiten, weil die EWG- Staaten keine Gemeinschaft, sondern echte Konkurrenten sind. Erleichterte Importe von Obst und Gemüse aus Drittländern riefen alle Interessenten auf den Plan, die im Falle einer Verschlechterung ihres angestammten Absatzes beruhigt oder entschädigt werden mußten. Ein liberales Regime hätte die Integration im Rahmen der Zollunion dem freien Spiel der Kräfte überlassen und sich auf die Rolle einer Feuerwehr beschränkt, um gefährdete Gebiete und Industriezweige zu schützen, damit sie hinreichend Zeit zur Anpassung finden. Das Wirtschaftsleben reagiert besser und rascher als jede Bürokratie. Die planwirtschaftliche Idee, eine autoritäre Wirtschaftspolitik mit Hilfe von Erlässen und Verordnungen auf Grund einer Generalvollmacht zu führen, erwies sich jedenfalls im Agrarsektor als kaum durchführbar, weil es ausgeschlossen ist, den Anbau von Getreide in Frankreich und Westdeutschland, von Gemüse in Holland und Italien, von Obst in Frankreich und im Mezzogiorno über einen Leisten zu schlagen, weil es auf die Dauer aussichtslos ist, für Eier und Hühner, Fleisch und Rinder, Käse, Orangen und eine Unzahl von Gewürzen gemeinsame Einheitspreise von Hamburg bis Bordeaux, von Palermo bis Regensburg zu diktieren, ein Experiment, das zuletzt nur mit einer Teuerung aller Lebensmittel enden kann.

Diese Widersprüche zwischen Theorie und Praxis führten bereits zu einer schrittweisen Umwandlung der autoritären EWG-Kommission in eine Behörde zur Preisregulierung, die aus Preisabschöpfungen einen eigenen Fonds schuf, außerdem jedoch alle nationalen und individuellen Subventionen beseitigen möchte, um auf Grund eigener Studien fallweise zentrale Agrarsubventionen zu verteilen. Der Vertrag von Rom, der sich anfangs als Träger einer Ideologie bewährt hatte, aber vom nationalökonomischen Standpunkt immer anfechtbar war, mündete im Agrarsektor in einer Sackgasse, aus der die EWG erst dann einen Ausweg finden wird, wenn sie sich zu einigen Konzessionen und zu einer elastischen Anpassung entschließt. Frankreich, das neue Absatzgebiet für seine Agrarüberschüsse benötigt, beugt sich keinen Mehrheitsbeschlüssen, Brüssel, das aus Prestigegründen hartnäckig am Buchstaben eines überholten Textes festhält, dürfte daher eines Tages gezwungen sein, wenigstens eine neue Interpretation des Römer Vertrags hinzunehmen. Die EWG glich immer einer Troika, gezogen von Frankreich, Italien und Westdeutschland, aber die Pferde waren verkehrt eingespannt, während Belgien und Holland als zuverlässige Hilfen neben dem Hauptgespann einherliefen.

Desintegration

Diese latenten inneren Krisen bildeten den eigentlichen Kern der alten Abneigung der EWG gegen jede Erweiterung auf andere Staaten des freien Europa, die keine Entwicklungsländer sind. Jede Vergrößerung des Rahmens barg bisher die Gefahren einer Lockerung des Gefüges, einer Zunahme der Komplikationen und einer Verschärfung der inneren Gegensätze. Daher hörte man immer die Erklärung, die Konsolidierung sei noch nicht vollendet und die Periode liberaler Grundsätze noch lange nicht gekommen. Anderseits mehrten sich überall die Kräfte, die eine Verewigung der handelspolitischen Teilung des freien Europa in EWG, EFTA und Drittländer als schädlich und unhaltbar bezeichneten, weil die Überbrückung der Handelsschranken eines Tages unvermeidlich erscheinen werde, obwohl im Augenblick noch niemand wisse, auf welchen Wegen das Problem praktisch in Angriff genommen werden könnte. Die Integration, die infolge des Handelskriegs allmählich in eine Desintegration ausartete, stieß aber auch auf ein zweites Hindernis, über das man stets den Schleier des Ver- gessens breitet. Um die Gruppenzölle zu überwinden, sind einige Mitglieder der EWG und der EFTA dazu übergegangen, in der anderen Wirtschaftsgruppe einfach Filial- fabriken und Zweigindustrien zu gründen, wodurch eine Doppelproduktion entstand, die jede Rationalisierung verunmöglichte und in einem krassen Gegensatz zu den Interessen Europas stand. Immer wieder hörte man den Ausspruch: „Welche Fortschritte könnte das freie Europa erreichen, wenn sich die Staaten der EWG und EFTA, wie ursprünglich vorgeschlagen, zu einer großen Freihandelszone vereinigen würden!”

Österreichs neue Wege

Angesichts dieser schwierigen Lage ist die österreichische Handelspolitik zur sorgfältigen Beobachtung der gesamten Entwicklung verpflichtet. Die öffentliche Meinung steht vor einer großen Verwirrung; denn es werden gegensätzliche Interessen vertreten und alle möglichen Thesen verfochten. Niemand ist sich im klaren, ob die Manager der EWG, die Fürsprecher der EFTA oder die Gläubigen des Osthandels nur papierene Rezepte oder vielleicht doch wirksame Allheilmittel anpreisen. Sachverständige, durch die Entwicklung desavouiert, berichtigen ungern alte Irrtümer, obwohl es bei der komplizierten Situation des Kontinents fast unmöglich ist, gültige Prognosen zu stellen. Schon einige Regenmonate belasten die sogenannte Hochkonjunktur. Und unberechenbare Faktoren beeinflussen jede Synthese, weil das Wirtschaftsleben keinem einheitlichen Zyklus gehorcht, sondern in den einzelnen Sektoren die Räder oft nach verschiedenen Richtungen laufen. Jedenfalls sind manche Dogmen und Anschauungen überholt, die noch vor zwei Jahren volle Gültigkeit beansprucht hatten. In dieser Wirrnis verfügt Österreich jedoch über eine Karte, die noch niemals ausgespielt wurde, und die, wie man annehmen darf, vielleicht sogar als letzte Reserve diente, nämlich über die erstaunliche Entfaltung seines Außenhandels. Man braucht gar nicht Bilanzen der vergangenen Jahre aufstellen, sondern nur Vergleiche mit dem Vorjahr ziehen: Infolge der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Italien, Belgien und Großbritannien erfuhr die einstige Dynamik der EWG und EFTA eine fühlbare Abschwächung, doch nahmen die österreichischen Exporte nach Osteuropa eine günstige, nach Ubersee sogar eine glänzende Entwicklung, so daß das Jahr 1965 zuletzt den seit langer Zeit erhofften „Durchbruch nach Ubersee” gebracht hat, der Österreich neue Wege öffnet.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung