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Russische Jugend 1957

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Die Jugend, zu der wir Menschen im Alter zwischen 15 und 25 bis 28 Jahren zählen wollen, spielt in normalen Zeiten eine sehr große und aktive Rolle im Leben eines jeden Staates und eine noch größere in Zeiten stürmischer Umbrüche der bestehenden sozialen und staatlichen Formen oder in Zeiten revolutionärer Umstürze.

Die einzigartige Rolle, welche die ungarische, vor allem die studentische Jugend während der Befreiungsrevolution im Oktober und November vorigen Jahres in Ungarn gespielt hat, zeigt mit aller Deutlichkeit, daß das Schicksal des bestehenden, sogar eines völlig totalitären Regimes im Lande von der Stimmung dieses Teils der Bevölkerung abhängt.

Der Umstand, daß die ungarische Befreiungsrevolution durch äußere Gewalt in Gestalt sowjetischer Panzerdivisionen unterdrückt wurde, ändert nichts an dieser Tatsache, sondern kann sie nur noch unterstreichen.

Denken wir ferner an die große und aktive Rolle, die in der Revolution von 1917 und im darauf folgenden Bürgerkrieg die russische Jugend gespielt hat. Es muß hier an die Rolle der studierenden Jugend überhaupt und der Zöglinge der militärischen Lehranstalten erinnert werden; besonders der Kriegs- und Kadettenschulen, sowohl auf seiten der nationalen Kräfte der „Weißen Armee“, als auch an die ebenso bedeutende Rolle des anderen Teils der Studierenden, wie auch der Matrosen und anderer auf seiten der kommunistischen, damals „bolschewistischen“ Roten Armee, in der man Kommandeuren und Kommissaren recht großef Truppenteile — bis zur Divisionsstärke — im jugendlichen Alter von 17 bis 20 Jahren begegnen konnte.

Angesichts der aufgezählten Umstände drängt sich von selbst die Frage nach den innerhalb der heutigen Jugend in der Sowjetunion herrschenden Stimmungen auf, Stimmungen, die in bedeutendem Maße das zukünftige Schicksal wie auch die gegenwärtige Politik — die innere und die äußere — bestimmen müssen.

Diese Rolle der Jugend wird offenbar mit genügender Klarheit auch von den gegenwärtigen „kollektiven“ Führern der KPdSU und des Sowjetstaates begriffen. Man kann das zum mindesten aus folgenden Anzeichen schließen:

1, Die Organisation zahlreicher Kongresse,! Tteffeji usw. der ,Jugend, auf denen, die namhaft testen Vertreter der „kollektiven Führung“ — angefangen von Chruschtschow selbst — auf- treten. Von solchen Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, durch Propaganda die Bestrebungen und Stimmungen der Jugend zu beherrschen und sie in eine für die kommunistische Diktatur erwünschte Richtung zu lenken, seien — allein aus der Zeit nach dem XX. Parteitag der KPdSU — erwähnt: Der Unionskongreß des Komsomolzenverbandes in Moskau, ferner der Kongreß der Komsomoljugend des Moskauer Gebietes, das Treffen der Jugend des Baufaches, der Jugend der Rodeländereien, die Versammlung der am Bau des Stadions beschäftigten Jugend in Lush- niki bei Moskau, die regelmäßig und jährlich stattfindenden Auszeichnungen von Komcomnl- zen mit dem Lenin-Orden, und schließlich die fälligen internationalen Jugendfestspiele in Moskau, die beschleunigt vorbereitet und propagiert werden.

2. Ein zweites, nicht weniger wesentliches Moment ist die letzte Gesetzesfassung einer Sowjetverordnung, die mindestens formal auf eine Besserung der Unterrichtsbedingungen, der Arbeit usw. gerichtet ist und den Zweck hat, die Jugend durch persönliche und sachliche Vorteile zu gewinnen.

Zu solchen Verordnungen des letzten Jahres gehören:

a) Die Einführung der allgemeinen obligatorischen höheren (zehnjährigen) Schulbildung und die allmähliche Verwirklichung dieses Beschlusses.

b) Einführung, oder richtiger Wiedereinführung der 1940 aufgehobenen Schulgeldfreiheit auf allen Unterrichtsstufen vom Grundschulunterricht bis zum Hochschulstudium.

c) Einführung, oder richtiger Wiedereinführung des 1940 aufgehobenen verkürzten Arbeitstages, nämlich des Sechsstundentages für die Jugend von 16 bis 18 Jahren bei einer Entlohnung wie für den vollen Achtstundentag erwachsener Arbeiter.

d) Die besondere Verordnung vom 13. De zember 1956 über verstärkten Arbeitsschutz der Halbwüchsigen und das Verbot der Werkarbeit von Halbwüchsigen unter 16 Jahren, mit einer Klausel, die in besonderen vorgesehenen Fällen Ausnahmen für 15- bis 16jährige zuläßt (bei einem für diesen Fall festgelegten vierstündigen Arbeitstag).

Welches sind nun die Resultate all dieser Maßnahmen? Gewährleisten sie die Ausrichtung der Jugend mit ihren Bestrebungen, Hoffnungen und Stimmungen auf eine Bahn, die für die „kollektiven Führer“ der KPdSU wünschenswert und für die Verwirklichung der als „Bau des Kommunismus" bezeichneten Aufgabe notwen dig ist, oder verlassen die Stimmungen und Bestrebungen der Jugend diese Bahn oder laufen gär der „von oben“ vorgeschriebenen Richtung entgegen?

Ein umfangreiches Material für die Beantwortung dieser Frage findet man bei aufmerksamem Studium der Sowjetpresse und -literatur aller Arten, der Zeitungen, Zeitschriften und Bücher literarischer wie auch allgemein politischer oder speziell wissenschaftlich-technischer Richtung. Eine Analyse all dieser Mitteilungen, Publikationen, Artikel usw. kann nur zu dem einen Schluß führen: daß weitverbreitete oppositionelle, den offiziellen Forderungen der kommunistischen Theorie und Praxis entgegengesetzte Stimmungen und diesen entsprechende Handlungen seitens der Jugend der Sowjetunion vorhanden sind.

Die charakteristischen Haupterscheinungen, in denen oppositionelle Stimmungen sichtbar werden, sind:

Der immer tiefer einschneidende Riß zwischen der Hauptmasse der Jugend und denjenigen, die ausersehen sind, sie zu führen und durch Komsomolorganisationen zu erziehen. Das zeigt sich einerseits in einer immer stärkeren Verknöcherung, Bürokratisierung usw. und darin, daß die Funktionen aller Führungsorgane des Komsomol svstems — angefangen von den Zellensekretären bis zum Zentralkomitee — sich immer mehr auf das Mobilisieren und Antreiben bei der Bewältigung der laufenden Pläne für den „Bau des Kommunismus“ (Neulandrodung, Bergbau, Bauvorhaben des Nordens) beschränken; die Entartung und das Absterben des ganzen pseudogeselligen Lebens im Komsomol, insbesondere die Verwandlung der meisten Klubs, bestenfalls in Kinos mit Eintrittsgeld oder in Tanzsäle, meistens aber einfach in „Zentren der Langeweile“.

Anderseits drückt sich dieser Riß in einer völligen Passivität und Gleichgültigkeit der überwiegenden Mehrheit der Jugend gegenüber allen von oben durchgeführten Maßnahmen aus. Sehr häufig sind Austritte oder Ausschlüsse aus dem Komsomol aus formalen Gründen (Nichtbezahlung der Mitgliedsbeiträge, Nichterscheinen zu Versammlungen, Versäumnis der Termine für den Umtausch von Mitgliedskarten, keine Abmeldung beim Wechsel des Arbeitsplatzes, des Wohnortes usw.).

, Dieser Riß zeigt sich ebenso — und hierbei schon sehr deutlich —, indem sich ein bedeutender Teil der Jugend zum kirchlichen und zum religiösen Leben hingezogen fühlt. Dieser Sog ist so stark, daß in einer Reihe von Fällen sogar die offizielle Sowjetpresse gezwungen ist, den Sieg der „kirchlichen“ über die Komsomol-Organisation zuzugeben.

Beim jüngeren Teil der Jugend, den Schülern der oberen Schulklassen, ist das Bestreben zu beobachten, vom Komsomol unabhängige Gruppen mit romantischem Charakter zu bilden — mit heimlichen Treffen, Parolen, Kontaktketten usw.

Die deutlichsten Merkmale aber, die diesen Riß zeigen, sind jene spontanen Protestausbrüche von jungen Burschen und jungen Mädchen, Mitgliedern des Komsomol, gegen das Aufdrängen einer Führung und gegen die von djesep Führung festgesetzte Ordnung in der Organisation. Solche Proteste beobachtet man bei Berichts- und Wahlversammlungen des Komsomol. Sie führen in der Regel dazu, daß die von oben für die Führungsorgane aufgestellten Kandidaten durchfallen. Von solchen Protestausbrüchen und damit verbundenen Zwischenfällen muß die Sowjetpresse, insbesondere die Zeitung ..Komsomoljskaja Prawda", immer häufiger berichten, wobei sie meist versucht, das Bild abzuschwächen und den Akzent von der Ebene prinzipieller Fragen auf die Ebene konkreter Fehler einzelner Mitarbeiter des Komsomol zu verschieben.

Die genannten Stimmungen werden noch durch einen in den letzten Jahren sichtbar gewordenen Umstand verstärkt, daß nämlich die sowjetische Oberschule infolge jahrzehntelangen Fxperimentierens mit Programmen, Unterrichtsmethoden usw. die jungen Leute, wie sich herausstellte, völlig unvorbereitet für irgendeine praktische Tätigkeit und ungewohnt an selbständige Arbeit entläßt.

Die geschilderten relativ passiven Formen, in denen sich das Abgestoßensein von der kommunistischen Wirklichkeit äußert, können den aktivsten und tätigsten Teil der Jugend mit einem bestimmten Streben nach einer gewissen Romantik nicht befriedigen. Infolgedessen sieht man bei ihr einen völligen Bruch mit dem bestehenden Partei- und Staatssystem und Versuche, die eigene Existenz außerhalb dieses Systems oder geradezu indem man sich ihm entgegenstellt, aufzubauen.

Unter den Erscheinungen der letzteren Art sind die charakteristischsten: Rowdyunwesen, das in einigen Fällen (besonders in Kolchosen) bis zu politischen Morden führt oder manchmal zu gewöhnlichem Verbrechertum absinkt.

Viele Fälle der Abwanderung ins Rowdytum als einer Aeußerung des Unbefriedigtseins und des Protestes gegen die graue Eintönigkeit des kommunistischen Systems findet man unter jungen Leuten, die ihre Ausbildung erfolgreich beendet haben, einen Beruf haben, eine gute Arbeit verrichten und die aus Familien von Werktätigen stammen.

Wenn das Rowdyunwesen seiner Form nach eine Verletzung der allgemeinen Normen der öffentlichen Ordnung und der administrativen Bestimmungen ist, so richtet sich eine zweite Form des deutlichen Aufbegehrens hauptsächlich gegen das von der KPdSU geschaffene Wirtschaftssystem und äußert sich durch Abwanderung in die „freie" oder „wilde" Wirtschaft, die jede Lücke ausfüllt, die von der allgemeinen Sowjetplanung nicht erfaßt wird und trotz aller administrativen und finanziellen Hindernisse nicht ohne Erfolg mit der Staatswirtschaft konkurriert.

Da sind nicht nur die trotz allem — wenn auch nur in sehr geringer Zahl — übriggebliebenen Einzelbauern, sondern auch solche Unternehmer wie Fabrikanten von Grammophonplatten, freie einzelne oder zu Gruppen zusammengeschlossene Taxifahrer, freie Bauarbeitergenossenschaften, darunter so spezialisierte wie die der Brunnenbauer. Da sind freie Schmiede, die Handgeräte für die Donez-Grubenarbeiter her- stellen und auf den Märkten verkaufen. Da sind illegale Genossenschaften, die den offiziellen Sowjetunternehmern ganze Werkstätten oder Zechen abkaufen, oder z. B. der die ganze Sowjetunion umfassende geheime „Trust" für Beschaffung, Bearbeitung und Verkauf von Lorbeerblättern, dessen Tätigkeit vom Schwarzen Meer bis zum Stillen Ozean reicht usw.

In allen diesen Unternehmen ist nach Angaben der Sowjetpresse der Anteil der Jugend, oft der Komsomoljugend, sehr groß. Es muß ge sagt werden, daß im Gegensatz zur Rowdygruppe diese Kategorie in der -Hauptsache eine zweifellos nützliche Tätigkeit ausübt, indem sie viele Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt, was durch die legale sozialistische Planwirtschaft keineswegs gewährleistet ist.

Am interessantesten sind jedoch diejenigen Protestäußerungen, in denen ein geistiges Suchen schon deutlicher hervortritt, als Ergebnis der Erkenntnis, daß das kommunistische System nicht nur praktisch, sondern auch prinzipiell unannehmbar und unfähig ist. Erscheinungen dieser Art trifft man am häufigsten unter der noch in Ausbildung stehenden Jugend, vorwiegend unter den Studenten der Universitäten und anderer Hochschulen.

Hier finden wir das Führen von Tagebüchern mit Aufzeichnungen von, im kommunistischen Sinne, aufrührerischen Gedanken, hier soll auch die Herausgabe der illegalen studentischen Zeitschriften erwähnt werden, hierher gehören auch die vorbereiteten „ungebrachten Fragen“, die in der Regel beim Unterricht in speziellen politischen Fächern gestellt werden. Hier gibt es die Diskussion über die Mängel der Hochschulen, die zur Forderung nach ihrer Autonomie, nach der Freiheit des Vorlesungsbesuches usw. geführt hat, hier auch die Weigerung, sich in den von der KPdSU vorgeschriebenen Rahmen einer so wjetischen Kritik und Selbstkritik einzufügen, das heißt, die Weigerung, sich auf Kleinigkeiten ablenken zu lassen, deren Korrektur im wesentlichen nichts ändert. Statt dessen besteht ein lebhaftes Interesse, das Wesen des Systems kritisch zu untersuchen. All diese Erscheinungen, insbesondere die letztgenannte, haben eine Flut von Artikeln in der „Komsomoljskaja Prawda“ und anderen Zeitungen ausgelöst, die es als notwendig erachten, die erzieherische Arbeit der Partei unter der Studentenschaft zu verstärken.

Die vorstehend angeführten Merkmale und Beweise berechtigen zu vertretbaren Standpunkten und Folgerungen:

Es liegt eine genügende Zahl von Tatsachen vor, um zu bestätigen, daß nicht nur eine zehnjährige kommunistische Herrschaft in den „volksdemokratischen“ Ländern, sondern selbst eine vierzigjährige kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion nicht ausreicht, um den „neuen sowjetischen Menschen" zu erziehen, und daß diese Aufgabe überhaupt undurchführbar ist.

Es liegt eine gewaltige Zahl von Bestätigungen vor, die vom passiven und aktiven Widerstand der Jugend gegen das kommunistische System, sowohl auf materiellem wie auf geistigem Gebiet, zeugen.

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