Rußland in der EU? Mehr als nur ein Standort

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Rußlands Wunsch nach EU-Mitgliedschaft trifft die Union an ihrem wundesten Punkt: der Frage nach ihrer Identität.

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Rußlands Wunsch nach EU-Mitgliedschaft trifft die Union an ihrem wundesten Punkt: der Frage nach ihrer Identität.

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Rußland wolle endlich als „vollwertiger europäischer Staat anerkannt” werden, dazu gehöre auch ein Beitritt zur Europäischen Union: im Anschluß an das Gipfeltreffen mit US-Präsident Clinton in Helsinki brachte Boris Jelzin auf den Punkt, worin wohl seine eigentlichen außenpolitischen Ambitionen liegen. Hinter dem oft undurchschaubaren und unberechenbaren Wechsel von staatsmännischem Gehabe, postsowjetischen Drohgebärden und finsterem Grollen dürfte dies als primäres Bestreben stehen: für das östliche Riesenreich eine „europäische Identität” zu reklamieren. Deswegen auch der - auch in Helsinki nicht wirklich ausgeräumte - anhaltende Widerstand gegen die NATO-Osterweiterung: aus Angst, sich dem Westen gegenüber zu finden, statt an ihn angebunden; deswegen etwa auch das - nun faktisch erreichte - Ziel, dem Nobelclub der G 7 (der sieben größten Industriestaaten) als vollberechtigtes achtes Mitglied beizutreten: aus der Einsicht des Staatsmannes Jelzin heraus, daß es zur Westbindung Rußlands keine Alternative gibt.

Nun, Jelzin ist nicht ganz Rußland, und selbst in Jelzins Brust wohnt wohl neben der staatsmännischen auch noch eine andere, weniger europäisch gestimmte Seele. Doch der Wunsch nach Anerkennung als „vollwertiger europäischer Staat”, letztlich als. Mitglied der EU, bleibt zur Kenntnis zu nehmen.

Daß bis dahin noch ein gutes Stück des Wegs zurückzulegen sein wird, weiß auch Boris Jelzin. Neben den gigantischen inneren Problemen Rußlands liegt dies freilich auch an den - zugegebenermaßen bei weitem nicht so gigantischen - inneren Problemen der Europäischen Union. Denn auch wenn man den russischen Anspruch auf EU-Mitgliedschaft als unrealistisch abtun mag, so trifft er doch - ungewollt - die Union an ihrem wundesten Punkt: ihrer tiefsitzenden Unsicherheit über ihre künftige Identität. Und, Ironie der Geschichte, er kommt noch dazu zu einem Zeitpunkt, da die EU ihren 40. „Geburtstag” begeht und gleichzeitig um einen halbwegs passablen Abschluß jener Begierungskonferenz ringt, deren Hauptziel es wäre, die Union erweiterungstauglich zu machen. Gerade weil sie nahezu utopisch anmutet, bedeutet die russische „Maximalforderung” die schärfste Form der unabweisbaren Anfrage an die Gemeinschaft der Fünfzehn: Was soll aus diesem Europa werden?

Daß an diesem 25. März, dem 40. Jahrestag der „Römischen Verträge”, niemandem zum Feiern zumute war, liegt ja nicht nur daran, daß der Tag als Gründungstag der EU anfechtbar ist: die „Römischen Verträge” begründeten die Wirtschafts- und die Atomgemeinschaft (EWG und EUBATOM), doch bereits im April 1951 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion) ins Leben gerufen. Es hängt wohl vor allem damit zusammen, daß, wie Thomas Mayer im „Standard” formulierte, diese Union nicht „für Feste” tauge, da sie „ständig in den Wehen” liege.

Das Bild von den permanenten Geburtsschmerzen stimmt. Und es wäre gewiß zu billig, wollte man nostalgisch auf die großen Visionen zurückblicken, die bei der Entstehung der Union Pate gestanden wären, während nunmehr allenthalben bloßer Pragmatismus vorherrsche. Nein, von Anfang an mußte jeder einzelne Integrationsschritt mühsam errungen werden. Dennoch gab es damals, in den fünfziger Jahren, natürlich mehr „großes Gefühl”, mehr Euro-Idealismus, wenn man so will. Doch stellt sich solches nach großen Katastrophen, nach historischen Zäsuren leicht ein - man denke nur daran, wie sich die Stimmungslage nach 1989 verändert hat. Der Zauber des Anfangs und des Wandels aber läßt sich nicht institutionalisieren.

Gibt es für Europa also nur die Perspektive einer erweiterten NATO und einheitlicher Münzen und Geldscheine? Realistisch gesehen, zunächst einmal das. Doch langfristig wird die Union nur eine politische oder eben gar keine sein können. Indes, man täusche sich nicht: Die Alternative heißt nicht etwa Renaissance der souveränen Nationalstaaten, sondern Kapitulation der Politik vor der Ökonomie. Anders gesagt: die Reduktion des Kontinents, der diesen Namen nicht mehr verdiente, auf einen Standort im Globalisierungsspiel - mit oder ohne Rußland.

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