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Saschas Ziel ist leben

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Mit Hilfe Österreichs wurde in Weißrußland eine moderne Klinik zur Heilung krebskranker Kinder eröffnet. Das Spital erhöht die Chancen auf Überleben der Opfer von Tschernobyl.

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Mit Hilfe Österreichs wurde in Weißrußland eine moderne Klinik zur Heilung krebskranker Kinder eröffnet. Das Spital erhöht die Chancen auf Überleben der Opfer von Tschernobyl.

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Das Gebäude mit den rot-gelb gestrichenen Fensterrahmen und den blauen Säulen könnte auch ein neu erbautes Zentrum einer Landesregierung in einem österreichischen Bundesland sein. Aber weit und breit ist nichts, das es zu verwalten gäbe, außer Ebene, über die ein kalter Wind streicht. Minsk, die Hauptstadt der Bepublik Belarus (Weißrußland), liegt ca. 30 Kilometer entfernt, und ein Stück gen Süden, gleich hinter der Grenze der Nachbarrepublik Ukraine brütet Tschernobyl. Hinter den Fensterscheiben des neuen Gebäudes bei Minsk drücken kleine, weiße Gesichter ihre Nasen platt, weiß gekleidetes Krankenpersonal winkt mit rot-weiß-roten Fähnchen, über dem Eingang hängt eine Traube Luftballons in den Farben von Belarus.

Es ist ein großer Tumult, der hier in der neueröffneten Kinderkrebsklinik streng geordnet nach Protokoll verläuft. Und bis es dazu kam, daß der Präsident von Belarus, Aleksander Lu-kaschenka, und der Präsident der Osterreichischen Krebshilfe, Umweltminister Martin Bartenstein, im Beisein von zahlreichen weißrussischen und österreichischen Honoratioren das Eröffnungsband der Kinderkrebsklinik von Minsk durchschneiden konnten, gab es etliche Schwierigkeiten zu überwinden. Aber die gehören jetzt der Vergangenheit an, und daß Lukaschenka im Westen als Diktator gilt, ist den Kindern nicht nur egal -sie wissen auch gar nicht, wer dieser Mann mit den sorgfältig über die Glatze gebürsteten Haaren ist, der da im Eiltempo durch die neueröffneten Krankenzimmer eilt. Einige Vierschröter in zu großen Anzügen, die an der Hüfte eckig ausgebeult sind, rollen mit den Augen über die Journalistenmeute, winken sporadisch einige daraus näher heran, um sie nach einigen Photoblitzen wieder zurückzudrängen. Einmal ist es kurz still, als eine Mutter ihrem Buben den Teddybären vom Gesicht nimmt, und weint.

Überlebensstudium

Der 19jährige Sascha, der sich draußen auf dem Gang herumdrückt, lächelt verschmitzt. Er spricht ein wenig Englisch und hat früher Geschichte studiert. Er teilt zwischen früher und jetzt, und da, auf der schmalen Linie, ist das Gespräch ein wenig holprig. Vielleicht weiß er auch, daß noch etliche Delegationen vorbeikommen werden, um ihn nach seiner Geschichte zu fragen, um die Welt draußen anzurühren. Es gibt da nicht viel Gescheites zu sagen, außer das, was Sascha sagt: „Geschichte studiere ich momentan nicht mehr: Ich schaue jetzt, daß ich lebe.”

Badioaktive Strahlen verursachen eine Häufung von Krebserkrankungen: insbesondere Leukämie und Schilddrüsenkrebs. Tschernobyl sei somit nicht nur für die Bevölkerung der unmittelbar betroffenen Staaten, heute Weißrußland, die Ukraine und Bußland, eine Bedrohung, hatte Helmut Gadner, Leiter des österreichischen Sankt-Anna-Kinderspitals, anläßlich „Zehn Jahre Tschernobyl” im Vorjahr gemeint, „auch in unserem bisher atomfreien Land ist möglicherweise mit einer negativen Auswirkung auf Dauer zu rechnen”. Dieses unbewußte Empfinden sei wohl der Anlaß gewesen, daß vor (nunmehr) sieben Jahren erstmals sieben Kinder aus Weißrußland auf Kosten der Stadt Wien und des Landes Niederösterreich in Osterreich behandelt wurden. Aus den sieben wurden immer mehr.

Europäisches Niveau

„Das bedeutete unerschwingliche Operationskosten, teure Medikamente, intensive Nachbetreuung: ein unerschwinglicher Luxus, den sich nur wenige leisten konnten”, schreibt das Hilfswerk Austria in einem Spendenaufruf. „Von hundert Kindern überlebten nur fünfzehn.” Mit dem neuen Spital bei Minsk soll die Überlebensrate auf „europäisches Niveau”, nämlich 85 Prozent, angehoben werden. Bei der Umsetzung der statistischen Frage, welche der 85 von hundert Kindern überleben, spielen die Eltern eine wichtige Bolle. „Sie sind die besten Krankenpfleger”, meint die Chefärztin und Direktorin der Klinik, Olga Aleinikowa, die den Rummel um sich mütterlich ergehen läßt, als wäre das Leiten von Gruppen zur Befragung krebskranker Rinder mit anschließendem Büffet ihr tägliches Brot. 80 Betten stehen in der Kinderkrebsklinik Minsk für begleitende Familienangehörige zur Verfügung.

Tschernobyl war ja, so meint Walter Siegl, der bedächtige Botschafter Österreichs in Moskau, auf den Stufen zum Bus Richtung Flugzeug nach Schwechat, eine Katastrophe, die sich von allen anderen Katastrophen unterscheidet: daß man nämlich in Jahrhunderten die Folgen nicht überwinden könne. Hier, im Spital bei Minsk, würde etwas getestet, was vielleicht für andere einmal notwendig sein wird. Staatliche Hilfe allein reiche da nicht aus, NGOs (Nichtregierungsorganisationen) und auch einzelne Menschen müßten genügend Solidarität aufbringen, um Katastrophen des Maßstabes von Tschernobyl zu bewältigen.

Der Soziologe Ulrich Beck hatte sein Buch „Die Risikogesellschaft” kurz vor dem 26. April 1986 fertiggeschrieben. Nachher mußte er nur mehr das Vorwort ändern, um zu benennen, warum die Welt plötzlich ein gutes Stück kleiner geworden ist, und dem Ganzen auch gleich ein wenig Hoffnung beizufügen. „Das Andere”, schrieb Beck, „gibt es seit Tschernobyl nicht mehr. Es ist das Ende der Anderen, das Ende all unserer hochgezüchteten Distanzierungsmöglichkei-ten, das mit der atomaren Verseuchung erfahrbar geworden ist.”

Ein Reaktorunfall hat uns alle zusammengebracht ans weißrussische Büffet. Manche sind ganz neu da und wissen gar nicht, wo Weißrußland eigentlich liegt. Das Flugzeug fliegt so schnell in drei Stunden. Präsident Lukaschenka gibt eine Pressekonferenz im Foyer der neuen Klinik bei Minsk. Kurz zuvor hatten noch die Schüler und Schülerinnen der Hauptschule Mattsee in Lederhosen und Dirndl getanzt. Eine junge Frau aus Schottland, die für die Presseagentur Beuters schreibt, fragt, ob ich für sie eine Frage an den Präsidenten stellen könne. Sie selber könne ihn nicht fragen, wie er die Haltung des Westens zu seiner Medien- und Menschenrechtspolitik beurteilt. Sie wolle noch länger hier leben. Aber da ist Lukaschenka schon weg, ein paar bodyguards versperren den Ausgang.

Gehöriger Kraftakt

So war alles, was vor dem gemeinsamen Durchschneiden des Eröffnungsbandes lag, schon ein gehöriger Kraftakt. „Seit elf Jahren zählt Tschernobyl als Doppelbegriff zum weltweiten Sprachschatz”, hatte der Moskau-Korrespondent der „Salzburger Nachrichten”, Jens P. Dorner, zum Jahrestag der Katastrophe geschrieben. „Mit Tschernobyl verbindet sich die Unmöglichkeit, allein mit gutem Willen Grenzen zu überwinden und aus Fehlern gemeinsam zu lernen.” Die unschuldigsten Opfer des Beaktorunglücks könnten kaum noch behandelt werden. Den Hilfslieferungen an krebskranke Kinder aus der weißrussischen Region Gomel, dem Zentrum des radioaktiven Niederschlags, drohe das Aus. „Seit Weißrußlands Diktator Lukaschenka alle westlichen Aktivitäten als Sabotage einstuft, bleiben Transporte stecken.” Aber die Kinderkrebsklinik bei Minsk ist in Betrieb. Vielleicht stu -diert Sascha irgendwann wieder Geschichte.

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