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Schatten der St.-Gregors-Nacht

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Ministerpräsident Giovanni Leone hat sich mit neapolitanischer Ironie über die Journalisten lustig gemacht, die sich darin versuchten, sein Kabinett zu charakterisieren: Verwaltungslegierung, Übergangsregierung, Regierung der Erwartung, Regierung der

„Brücke“ ... Erwartung wessen? Brücke“ wohin? Leone selbst hat seinem Kabinett das Eigenleben abgesprochen und es zeitlich befristet: bis zu dem spätesten von der Verfassung für die Annahme der Budgetgesetze vorgesehenen Termin, dem 31. Oktober. Der wirkliche Stichtag ist jedoch nicht dieser. Die Existenz der Regierung Leone erfüllt sich mit den Entscheidungen des sozialistischen Parteikongresses vom 25. bis 29. Oktober.

„Gregorianer“ und „Dorotheer“

„Apertura a sinistra“, offenkundig geworden durch den Mißerfolg des christlichdemokratischen Parteisekretärs Aldo Moro, eine auch von den Linkssozialisten unterstützte Regierung auf die Beine zu bringen, wird von der katholischen Partei und von ihren laizistischen Verbündeten auf der Linken, Sozialdemokraten und Republikaner, als nicht endgültig angesehen; ebensowenig will der Sekretär der Sozialistischen Partei, Pietro Nenni, die Schlappe hinnehmen, die ihm die Fronde in seiner Gruppe beigebracht hat, und auf dem Kongreß sein „aut aut“ aussprechen. In der Nacht zum 17. Juni, Tag des hl. Gregor, haben die Dissidenten dem von Nenni mit Moro ausgehandelten Programm die Ratifizierung verweigert und damit die Politik der linken Mitte zum Scheitern gebracht. Die „Gregorianer“ unter den Sozialisten haben sich Nenni gegenüber etwa so verhalten wie die „Dorotheer“ (so benannt, weil sich die christlichdemokratischen Dissidenten im Kloster der Dorotheerinnen versammelten) seinerzeit gegenüber Fanfani. jcuuwi ist, tue „L,uiKüiiiiung ein -u großangelegtes, ein historisch bedingtes Unternehmen, als daß sie durch die Kabale einer Frondistengruppe annulliert werden könnte. Die Hoffnungen gehen dahin, daß die Entschlüsse der Sozialisten derart sind, daß sie die Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Katholiken und Sozialisten ermöglichen. Bis dahin soll Ministerpräsident Leone den Brückenkopf zum sozialistischen Ufer offenhalten.

Obwohl die Linkssozialisten bislang eine unerschöpfliche Erfindungsgabe gezeigt haben, um einer geraden und direkten Antwort auszuweichen, ob sie um des Prinzips der Demokratie in der Freiheit willen den Grundsatz der Einheit der Arbeiterklasse, die Einheit mit den Kommunisten also, aufzugeben bereit sind, ist nicht leicht denkbar, daß sie um die Entscheidung im Oktober herumkommen. Vor allem ist nicht denkbar, daß Pietro Nenni in dem Fall, daß die Beschlüsse weiterhin zweideutig oder aber zugunsten des Klassengedankens ausfallen sollten, weiterhin Parteisekretär bleibt. Und da man nicht annehmen möchte, daß ein Mann mit der politischen Vergangenheit eines Nenni sich mit der nichtssagenden Rolle eines „Ehrenpräsidenten“ begnügen kann, kann der Kongreß auch das Ende der Karriere des alten Kämpen der Arbeiterbewegung bedeuten.

• der 62jährige Riccardo Lombardi, verstanden, zu einer Schlüsselfigur der Partei überhaupt zu werden.

Ein „ewig Obdachloser“

Lombardi ist eine interessante Persönlichkeit des politischen Lebens Italiens. Aus dem Marktflecken Regal-buto der sizilianischen Provinz Enna gebürtig, Ingenieur, hat er die meisten lahre seines Lebens in Norditalien verbracht, ohne deswegen die orientalische Gewundenheit und abstrakte Denkweise des Südländers zu verlieren. Man hat Lombardi wegen der mannigfachen Peripetien seines Lebens auch den „politischen Odysseus“ oder den „ewig Obdachlosen“ der italienischen Politik genannt. Aus einer erzkatholischen Familie stammend und selbst in seiner Jugend Aktivist der Katholischen Aktion, schwenkte er, aus privaten Gründen, heißt es, zum linksextremen Flügel über. Während des Krieges spielte er in der linksradikalen Aktionspartei eine Rolle und verschaffte sich dort sofort den Ruf eines Sektierers, obwohl jene Partei aus nichts anderem als Sekten bestand. Wie heute bei den Linkssozialisten, so versuchte Lombardi in dem zwischen den Exponenten Lussu und La Malfa ausgebrochenen Streit in der Aktionspartei das Zünglein an der Waage zu spielen. Die Aktionspartei zerbrach jedoch und ihre wichtigsten Persönlichkeiten suchten in anderen Parteien Unterschlupf: La Malfa, Sizilianer wie Lombardi, trat den Republikanern bei, wo es ihm bald gelang, Randolfo Pacciardi, eine garibaldinische Figur und einer der Anführer der internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg, zur Seite zu drängen und der Partei einen linksextremen Drall zu geben; der Sarde Lussu und Lombardi ersuchten um Aufnahme in der Nenni-Partei; Lussu hing sich an den linken Flügel der Kommunistenfreunde an, Lombardi sah seine Zukunft eher an der Seite Nennis. Zu Nenni stießen auch die Überläufer anderer Parteien, wie Antonio Giolitti, piemontesischer Kommunist, und der einstige Sozialdemokrat Zagari. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß die Verschwörung der St.-Gregors-Nacht nicht etwa von alten Sozialisten ausging, sondern von dieser Gruppe politisch Heimatloser.

Nenni in Saragats Spur

Immer noch wird die Sozialistische Partei Italiens oft als Nenni-Partei bezeichnet, aber in Wirklichkeit ist Nenni nur noch Anführer einer Minderheitsgruppe. Er befindet sich heute etwa in der Situation, in der sich 1947 sein großer Gegenspieler Giuseppe Saragat befunden hatte: an der Spitze des rechten Parteiflügels und als Antagonist einer Mehrheit, die aus doktrinären Gründen die gemeinsame Aktion mit den Kommunisten vertritt. Damals, auf dem Kongreß im Palazzo Barbe-rini in Rom, zog Saragat die Folgerung, und es kam zur Losspaltung der Sozialdemokraten; würde Nenni 1963 in der Kongreßhalle in Rom die gleichen Konsequenzen ziehen? Wer Nenni kennt, zweifelt daran. Eher würde er seiner politischen Laufbahn ein Ende setzen.

Die Bedrängnis des 72jährigen Sozi-alistenführes reicht Jahre zurück, aber offenbar wurde die Schwäche seiner Position auf dem 34. Parteikongreß in Mailand vor zwei Jahren. Seine Gruppe erhielt zwar noch die Mehrheit, sie war aber beträchtlich zusammengeschrumpft: im ZK standen den 45 „Autonomisten“ 35 Angehörige des linken Flügels gegenüber. Aber auch dieses Verhältnis erschien noch günstiger als es in Wahrheit der Fall war. Denn Nennis Autonomistengruppe ist keineswegs eine geschlossene Einheit, sondern teilt sich in zwei Strömungen:

• Venerio Cattani auf dem rechten Flügel verteidigt Positionen, die jenen Saragats ähnlich sind;

• Nenni hält sich im Zentrum, und auf der linken Seite hat es der Wirtschaftsfachmann der Partei,

I Eine neue Art der „Linksöffnung“

Wie konnte es aber geschehen, daß sich Lombardi und die Seinen zu solchem Einfluß emporarbeiten konnten? Lange Zeit hatte man Lombardi nur als Theoretiker und reinen Wirtschaftsmann betrachtet, dem die politische Praxis fehle, eine verhängnisvolle Unterschätzung, der sich Nenni zuschulden gemacht hat. Lombardi konnte es als Lobbyist mit jedem anderen aufnehmen. Er führte die Exponenten des linken Flügels in die leitenden Organe der Partei zurück, denen sie aus Protest ferngeblieben waren. Politisch war seine Aktion darauf gerichtet, eine „Linksöffnung“ bei der Democrazia Cristiana herbeizuführen, allerdings eine besonderer Art: die Initiative sollte von den Sozialisten ausgehen, und die Christlichdemokratische Partei sollte in die Zwangslage versetzt werden, einem programmatischen Diktat der Sozialisten zuzustimmen. Dies wäre nicht ohne radikale außenpolitische Kursänderung Italiens möglich gewesen. Tatsächlich waren es zwei Punkte gewesen, die Lombardis Dissidentengruppe in dem zwischen Nenni und Moro vereinbarten Regierungsprogramm absolut nicht akzeptieren konnte. Der eine betraf die Haltung absoluter Loyalität gegenüber dem Atlantikbündnis, der zweite die Haltung gegenüber den Kommunisten. „Unser Neutralismus ist kein harmloses Spielzeug, mit dem wir uns die Zeit vertreiben“, erklärte Lombardi, während er bezüglich der KP eine nicht leicht zu erklärende antikommunistische Haltung bezog, als ob eine Partei, die ein Viertel der Wählerschaft hinter sich hat, mit dem Agnostizismus abgetan werden könnte. Lombardis Antikommunismus beschränkt sich darauf, die Kommunisten zu ignorieren, vielleicht weil er dem Kommunismus keine Zukunft gibt.

Lombardi geht aufs Ganze

Unter den 45 Autonomisten Nennis, denen 35 Angehörige des linken Flügels gegenüberstehen, befinden sich mindestens 15, die dem Wort Lombardis gehorchen. Wertvoll ist für ihn auch die Unterstützung des sozialistischen Vizesekretärs in dem kommunistisch geführten Allgemeinen Gewerkschaftsbund, Fernando Santi. Santi hat auf politischem wie gewerkschaftlichem Gebiet alles getan, um das Zustandekommen einer Regierung der linken Mitte Moros mit Unterstützung Nennis zu verhindern, einer Regierung also, die wirklich imstande gewesen wäre, den Erwartungen der Arbeiterschaft mit den entsprechenden gesetzlichen Regelungen entgegenzukommen. Jetzt, da die Koalition DC-Linkssozialisten zu Fall gebracht ist und das Verwaltungskabinett Leone keine größeren Verpflichtungen auf sich nehmen kann, greift der Allgemeine Gewerkschaftsbund zu Streiks, Agitationen und Kundgebungen jeder Art, um die Lösung von Problemen zu erzwingen, die nur eine Regierung der linken Mitte hätte bringen können. „Diese Haltung“, hat Bruno Stortt, Sekretär des Bundes freier Gewerkschaften, gesagt, „entspricht vollkommen der kommunistischen Strategie, die ein Interesse daran hat, so viel Kampffronten wie nur möglich zu eröffnen und das Land in einem Zustand dauernder Aufregung zu halten.“ Neben Santi steht auch die Senatorin Tullia Carettoni an Lombardis Seite: sie kontrolliert die sozialistische Frauenorganisation, während in den Jugendorganisationen der kommunistenfreundliche linke Flügel dominiert. Da Lombardi aus Prinzip gegen jede Entscheidung ist, die nicht auch die Zustimmung oder wenigstens die Duldung des linken Flügels findet, ist er in der Lage, die Aktion Nennis weitgehend lahmzulegen. Genau das ist in der Nacht auf den 17. Juni geschehen: nachdem Lombardi die Verhandlungen Nennis mit der DC bis zu ihrem Ende mitverfolgt hatte, verweigerte er im letzten Augenblick das Vertrauen und brachte Nenni dadurch in die Minderheit. Es ist heute klar, daß den Parteikongreß nur gewinnen kann, wer Lombardi auf seiner Seite hat. Nach einer verbreiteten Meinung will sich jedoch der sizilianische Politiker nicht mehr damit begnügen, Schiedsrichter: zwischen den Gruppen zu sein, sondern zielt darauf hin, Nenni abzulösen. tirr ilerbs

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