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Schatten über Polen

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Das kommende Gipfeltreffen hat bereits eine wichtige Doppelwirkung ausgelöst, die man, wird dies vorgezogen, auch als Nachwirkung von Camp David bezeichnen kann. Sie bekundet sich in Polen, das gewissermaßen als Test, als Versuchsobjekt für eine weltumfassende Politik der Entspannung und der Koexistenz oder, wie das Herter bescheiden-unheimlich definiert hat, des gemeinsamen Ueberlebens dient. Das Warschauer Regime begrüßt den zwiefachen Aspekt dieser Probe mit uneingeschränktem Vergnügen; die polnische Nation betrachtet ihn-mit gemischten Gefühlen, je nachdem, ob er sich nach außen oder nach innen zeigt. Außenpolitisch läßt sich die Sache sehr einfach umschreiben: die Westmächte, und zwar sowohl die Angelsachsen als auch Frankreich, sind bereit, im Rahmen einer weltweiten Bereinigung die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Ob das nun durch einen formellen Akt geschieht, was zu bezweifeln ist, oder durch Erklärungen maßgebender Staatsmänner — wie das in Frankreich seitens de Gaulies und Debres geschah — oder nur stillschweigend, durch regelmäßige sogenannte konkludente Handlungen, ist von geringer Bedeutung. Bundeskanzler Adenauer gibt sich über diesen Sachverhalt klar Rechenschaft und trachtet einzig, einen formellen Schritt, ein paraphiertes Abkommen zu vermeiden, auf dem die großen Partner Bonns die jetzige De-factoGrenze zwischen der DDR und Polen ihrerseits anerkennen. Er tut das aus unmittelbaren Gründen, um innere Schwierigkeiten zu vermeiden und um das Prestige zu wahren, und aus fernblickenden Ursachen, um nicht Deutschland für eine hypothetische Zukunft zu binden. Wie dem auch sei; es heißt die Dinge klar beim Namen nennen und sie durch keine beschwichtigenden offiziellen und offiziösen Kommentare vernebeln. Daß diese Seite der Annäherung zwischen den USA und der UdSSR, der Diplomatie Mac-millans und der de Gaulles, von allen Polen begrüßt wird, darf nicht überraschen. Ganz anders steht es mit den Folgen, die sich aus der heutigen weltpolitischen Situation für Polens innere Lage ableiten.

Chruschtschow hat kurz nach seiner Rückkehr von den Fahrten in die USA und nach China vom 19. bis 25. Oktober Rumänien einen sechstägigen Besuch abgestattet. Am 17. Oktober tagte in Warschau das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (PZPR). Zu dieser Sitzung waren die beiden Politbüromitglieder und Minister Ochab (Landwirtschaft) aus den USA und Rapacki (Aeußeres) aus London heimgekehrt. Vor oder nach der Warschauer Zusammenkunft scheint Chruschtschow eine, der Oef-fentlichkeit verschwiegene Begegnung mit Go-mulka gehabt zu haben. Jedenfalls scheinen die Eindrücke, die der Moskauer Diktator bei seinen Aufenthalten in Amerika und im Reich der Mitte empfangen hat, ihn bewogen zu haben, sei es die Anregung, sei es die Zustimmung zu einem Anziehen der Zügel in Polen zu geben. Die Vermutung liegt nahe, daß die Sicherung der Westgrenze den Polen das Ertragen eines schärferen Kurses auf den drei heikelsten Sektoren — der Wirtschaft, zumal der industriellen Produktion und der bäuerlichen Leistungen, dann der Kirchenpolitik und des geistigen Schaffens — erleichtern soll.

Der Rückschlag in diesen Bezirken des nationalen Gesamtdaseins ist unverkennbar und unleugbar. Gerade darum wird er bestritten. An einem führenden Publizisten, dem Korrespondenten der „New York Times“, Rosenthal, hat die Warschauer Regierung ein Exempel statuieren wollen, weil dieser über den Wandel auf Grund tiefer Einschau in die polnischen Verhältnisse berichtete, wir geben zu, in für die Machthaber nicht gerade freundlicher Weise. Die Tatsache eines Anziehens der Zügel bleibt trotzdem bestehen. Sie wird dadurch nicht ausgelöscht, daß eben diese Hochgebietenden versichern, den im Oktober 1956 eingeschlagenen Weg weiterhin zu beschreiten. Man entsinnt sich eines betrüblichen Beispiels. In Oesterreich wanderten die Erben des tapferen kleinen Kanzlers so lange den Dollfuß-Kurs, bis es zu den bekannten Ereignissen im März 1938 kam...

In Polen sind zunächst die sachlichen Veränderungen zu betrachten. Der Belegschaft der Fabriken wird zugemutet, bei den, an Realwert sinkenden, elenden Gehältern und Löhnen die begreifliche „Bummelei“, das unentschuldigte Fernbleiben von den Arbeitsstätten aufzugeben und normierte Höchstleistungen zu vollbringen, zu denen Anreiz und physische Kraft fehlen. Auf dem Lande wird von den Bauern verlangt, die Lieferungen wiederum bei grotesken Preisen zu steigern und dazu erhebliche Steuerrückstände zu bezahlen, an deren Abdeckung niemand ernsthaft dachte und die beim ewigen Bargeldmangel auf dem Dorf sehr drückend sind, zumal da dem Säumigen Konfiskation seines Hofes droht.

Auch von den geistig Schaffenden wird größere Disziplin und pünktlichere Anpassung an die Forderungen des sozialistischen Aufbaues verlangt. Die längst gestraffte Zensur verlangt nun nicht nur das Unterdrücken schädlicher Ansichten und das Verschweigen unbequemer Sachverhalte, sondern auch positives Eintreten für die wichtigsten Belange des kommunistischen Systems, also derzeit für sorgsame Achtung des gesellschaftlichen Eigentums, für fleißige Arbeit, für die Verteidigung des Sozialismus gegen bürgerliche Irrwege und für die Propaganda wissenschaftlicher Denkart gegenüber dem „religiösen Obskurantismus“. Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler haben sich an diese Richtlinien des fröhliche Urständ feiernden Sozrealismus zu halten. Sonst drohen ihnen zwar noch nicht Haft und sonstige Strafen, doch der Boykott durch die allmächtige Staatsmaschinerie, damit aber Hunger und die Unmöglichkeit, öffentlich zu wirken. Der Kirche wird der Kreis ihrer über den Gottesdienst hinausgreifenden Tätigkeit immer mehr eingeschränkt. Gefährdet erscheint vor allem der nach 1956 wieder eingeführte Religionsunterricht an den Staatsschulen. Ueber die eben genannten greifbaren Verschlimmerungen hinaus ist die Verschlechterung der allgemeinen Atmosphäre zu beklagen. Die Mehrheit der Intelligenz, die Gläubigen, die Bauern verspüren ein banges Unbehagen, das nicht nur die schon vorhandenen Unannehmlichkeiten betrifft, sondern auch — und noch heftiger — von befürchteten weiteren Bedrängnissen herrührt. Dazu tritt die üble Wirtschaftslage, die im Winter kaum eine Verbesserung erfahren wird. Bei der ehemaligen Mittelschicht und bei den geistig regeren Arbeitern gesellt sich dieser gedrückten Stitttmöng hinzu, daß man das Empfinden hat, von den USA preisgegeben worden zu sein, und daß von dort außer schönen Worten höchstens eine umgrenzte, von Ochab bei seinem dortigen Aufenthalt verabredete Hilfe an Nahrungsmitteln, Maschinen und industriellen Rohprodukten zu erwarten ist; selbstverständlich im Rahmen dessen, das bei den Russen kein Aergernis erregt. Jede andere Perspektive wird durch die personellen Umbesetzungen untersagt.

Während das Reinemachen in der Literatur und in der Universität nur die allerdings in Polen so angesehene Intelligenzschicht unmittelbar angeht und den breiten Massen wenig spürbar, größtenteils auch gleichgültig ist, sind die Berufungen auf leitende Verwaltungsposten der wirtschaftlichen Departements und im Verteidigungsministerium schwerwiegend für jedermann und von maßgebendem Einfluß auf das gesamte öffentliche Leben.

Als einstige Stalinisten oder, sagen wir, als markante Gestalten der Bierut-Epoche bekannte Persönlichkeiten stehen nun wieder in der vordersten Reihe: die zu stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannten Tokarski und Szyr, der Stellvertreter des Planungslenkers, Gede, und der ehemalige Adlatus Rokossowskis, Wita-szewski. Eugeniusz Szyr war der Vertraute und Lieblingsschüler des verhaßten und hochbegabten fanatischen Wirtschaftsdoktrinärs und Wirtschaftsdiktators Hilary Mine, zeitweilig Vorsitzender der Planungskommission; er mußte nach den Posener Ereignissen und noch vor dem Oktober 1956 seinen Platz an den Freund Cyrankiewiczs, Jedrychowski, abtreten. Julian Tokarski war Minister für Motorenindustrie und Maschinenbau, in dieser Eigenschaft für die eben erwähnten Posener Unruhen vom 28. Juni 1956 verantwortlich und ihretwegen durch Cyrankie-wiez verabschiedet worden. Tadeusz Gede, Außenhandelsminister und Vizepremier, fungierte ein Lustrum hindurch als Botschafter in Moskau, wo er sich die besondere Gunst Chruschtschows erwarb. Am peinlichsten aber haftet neben Tokarski Kazimierz Witaszewski in der Erinnerung. Dieser ehemalige Großmeister der kommunistischen Propaganda in der Armee verdiente sich den Beinamen „General Gasröhren“, als er im Oktober 1956 anriet, gegen die Mißvergnügten die Maschinengewehre (gazrurki) anzuwenden. Nun sind sie alle wieder da, die lieben, vertrauten, unvergeßlichen Gestalten der begraben gewähnten Bierutschen Aera. Und es besagt wenig, daß man beschwichtigend verkündet, sie hätten sich gewandelt.

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