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Schauen ohne Schwellenangst

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Im Jahr 1907 gründete Kaiser Franz Joseph das „Versatz- und Fragamt zu Wien”. Personen, die in finanzielle Bedrängnis geraten waren, konnten hier gegen Versatz eines Pfandes und Abstattung geringer Zinsen ein Darlehen erhalten. Diese Einrichtung hatte die Aufgabe, den damals überhand nehmenden Zinswucher einzudämmen. Anfallende Zinsen sollten wohltätigen Einrichtungen zugute kommen und wurden an das Großarmenhaus der Stadt weitergeleitet.

Aber ganz so sozial wie es ursprünglich gemeint war, entwickelte sich das „Versatzamt” in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens nicht. Aufgrund einer Wertuntergrenze für Pfänder waren es in erster Linie wohlhabende Bürger und Adelige, die von dem neugeschaffenen Versatz- und Fragamt profitierten und nicht selten Wertgegenstände verpfändeten, um ' ihre diversen Spielschulden abzudecken.

Erst 80 Jahre nach seiner Gründung, 1787, ermöglichte Kaiser Joseph II. die entscheidende Öffnung des Hauses für alle Bevölkerungsschichten. Als Anekdote wird berichtet, daß Joseph II. verkleidet als armer Bürger ins Versatzamt gekommen sein soll, um dort seinen Hut zu versetzen. Der diensthabende Beamte habe nur darüber gelacht, sich geweigert, einen Gegenstand von so geringem Wert als Pfand zu nehmen. Daraufhin habe sich der Kaiser zu erkennen gegeben, sämtliche Beamte entlassen und verfügt, daß in Zukunft auch Pfänder minderen Wertes anzunehmen seien.

Ob die Geschichte wahr ist oder nicht, die Reformen von Maria Theresias Sohn brachten einen neuen Aufschwung. Die Zahl der Kunden im Versatzamt vervielfachte sich, der alte Standort in der Annagasse erwies sich bald als zu klein. Aufgrund einer kaiserlichen Verordnung wurde das Versatzamt in das gerade aufgehobene Kloster zur Heiligen Dorothea verlegt, daher der Name „Dorotheum”.

Weitere tiefgreifende Veränderungen brachte das ausklingende 19. Jahrhundert: Geschäftsbereiche hatten sich erweitert, immer mehr gewannen die freiwilligen Auktionen an Bedeutung, die es wohl von Anbeginn an gegeben hatte. So entschloß man sich, das den Anforderungen nicht mehr entsprechende Dorotheerkloster abzureißen und an seiner Stelle nach den Plänen von Emil Förster, einem Ringstraßen-Architekten, ein neues Gebäude errichten zu lassen. In Anwesenheit Kaiser Franz Joseph I. wurde das neue Dorotheum ftOl feierlich eröffnet.

Heute beschäftigt das Dorotheum über 500 Mitarbeiter - der überwiegende Teil davon, nämlich 60 Prozent, ist weiblich - und verfügt über 24 Unternehmensstandorte in ganz Österreich. Auch die Internationalisierung des Unternehmens, die Ende der achtziger Jahre mit Kontakten nach Japan erfolgreich begonnen hat, wird fortgesetzt. Mit der Gründung einer Tochtergesellschaft in Prag im Jahre 1992 verfügt das Dorotheum nun auch über seine erste Niederlassung außerhalb Österreichs. Im November wird hier die erste Auktion abgehalten.

Seit dem Vorjahr ist das Unternehmen, daß seit fünfzehn Jahren von Generaldirektor Alfed Karny geführt wird, Mitglied der „International Association of Idependent Auctioneers”. Durch diese Zusammenarbeit mit renommierten Auktionshäusern wie dem britischen Bonhams, dem führenden Versteigerungsunternehmen an der Westküste der USA, But-terfield & Butterfield, und Swann Galleries, dem New Yorker Spezialisten für Bücherauktionen, ist das Dorotheum in ein weltweites Marketing-Netz eingebunden. Mit der Firma Toshi International hat das Haus einen eigenen Auktionsrepräsentanten in Japan.

1994 wechselten im Dorotheum rund 538.000 Kunstgegenstände, Antiquitäten, Sammelobjekte und Schmuckstücke ihren Besitzer. Der Umsatz des vergangenen Jahres betrug 1,5 Milliarden Schilling, der Reingewinn 30,1 Millionen! Spitzenergebnisse erzielten etwa bei den Gemälden Cornelis Cornelisz van Haarlems „Fröhliche ^Tischgesell-schaft” (3,2 Millionen), Olga Wisin-ger-Florians „Apfelbäume” (2,9 Millionen) und Egon Schieies „Zwei nach rechts Geneigte” (6,5 Millionen).

In den beiden neu adaptierten Auk-tionssäälen in der Wiener Zentrale werden täglich Versteigerungen abgehalten. 532 waren es 19,94 insgesamt. Alfred Karny dazu: „Ich möchte den Menschen die Schwellenangst nehmen. Es darf einfach nicht mehr sein, daß man Angst hat, das Haus zu betreten, weil man glaubt, sofort mitsteigern zu müssen. Das Dorotheum ist für jedermann offen: Egal, ob man Schmuckliebhaber, Briefmarkensammler oder Kunstkenner ist.”

Karny weiter: „Um wirtschaftlich auf Erfolgskurs zu bleiben, wird es aufgrund der Größe des Marktes notwe-dig sein, in Zukunft dem Haus neue Kundenkreise zu erschließen. Gemeinsam mit der international Association oflndependent Auctioneers' ist die Errichtung einer Bepräsentanz in Hongkong und die Durchführung einer Auktion in Singapur geplant.” Neuen Glanz sollen auch Ausstellungen und andere kulturelle Veranstaltungen ins historische Palais in der Dorotheergasse bringen.

Anfang September eröffnet das Dorotheum die Herbstsaison mit zwei großen Auktionen: Am 12. September mit „Glas und Porzellan” und am 13. September mit „Ölgemälden und Aquarellen des 19. Jahrhunderts”. Liebhaber von Porzellan und Glas können Alt-Wiener Tafelporzellan, Vasen, Porzellanbilder und Historismus-Gläser sowie Glasfenster und Glasscheiben erwerben. Eine große Du Paquier-Schüssel mit Blütenmalerei und verschiedene Sorgenthal-Vedutentassen von Anton Kothgasser sind hier die Höhepunkte Einen Tag später kommen Meisterwerke wie Gotthardt Kuehls „Hochzeit in der Asamer Kirche in München”, Heinrich Hermanns „Fischmarkt in Amsterdam” und Theodore Gerards „Das Tischgebet” unter den Hammer.

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