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Schicksal in der Hand Englands

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Vergebens sucht man in den Annalen abendländischer Geschichte nach einem Präzedenzfall; es ist das erstemal, daß einer der historischen Nationalstaaten im schmalen Zeitraum eines Jahrzehnts zwei Angebote auf Reichs- oder Staatsfusion erhalten hat. Angebote auf Verschmelzung geschichtlicher Einheiten, die von Jahrhunderten geprägt wurden und in deren Polarität sich bis dahin das europäische Geschick erfüllt hatte. Der Staat heißt Frankreich, genauer: die Dritte und Vierte französische Republik, die Brautwerber waren zuerst Winston Churchill, dann Konrad Adenauer. Das Angebot des großen Briten konnte zunächst nur formaler und moralischer Natur sein. Denn nichts hätte in dem düsteren Jahr 1940 der letzte freie Staat Westeuropas, Großbritannien, mit dem letzten zu besetzenden, größtenteils schon besetzten Staat dieser Sphäre, mit Frankreich, gemein haben können, es sei denn die Feinde. Hätten aber damals die verstörten Männer von Bordeaux sich für die franco-britische Union erklärt, es wäre doch ein Schritt von eminenter praktischer Bedeutung gewesen. Nicht zuletzt deshalb, weil das Gefühl sicheren Geborgenseins in der angelsächsischen Gemeinschaft mit ihren weltweiten Hintergründen es den französischen Staatsleuten knapp zehn Jahre später ermöglicht hätte, zu einem ähnlichen deutschen Vorschlag Stellung zu nehmen, ohne von dem Gefühl bedrückt zu werden, der schwächere Partner im vorgeschlagenen Bund zu sein. Auch das deutsche Angebot ist aus einer geschichtlichen Anomalie entstanden, die den Eindruck eines verzerrten Spiegelbildes jener Lage erweckt, aus der heraus Churchill handelte. Diesmal ist Frankreich frei und ungeteilt, das werbende Deutschland okkupiert, in zwei Hälften gespalten, gedemütigt, dureh eine Zivilisationskatastrophe ohnegleichen geläutert, dabei noch immer von einem dumpfen Gefühl geschichtlicher Größe, Macht und Tragik erfüllt. Nicht allein das: Der Sprecher Westdeutschlands, Konrad Adenauer, ist de jure gar nicht ermächtigt, die noch nicht wiedererlangte Unabhängigkeit jetzt schon mit Frankreich teilen zu v/ollen, bleibt doch die Außenpolitik Prärogativ der hohen Kommissare, womit sie staatsrechtliche Ähnlichkeit mit den Souveränen des ausklingenden 19. Jahrhunderts erhalten haben.

Die französische Antwort auf Adenauers Angebot blieb aus, wochenlang, monatelang. Man sprach bittere Worte in Bonn, selbst in der engeren Umgebung des Bundeskanzlers, der schwieg und wartete. Man meinte, daß die Antwort vielleicht niemals eintreffen würde. Da, am Vorabend der Außenministerkonferenz von London, brach Paris endlich das über Westeuropa lastende Schweigen. Die Antwort aber ist nicht formaler, sondern meritorischer Natur. Es ist keine Antwort im strengen Sinn des Wortes, es wird nicht von der Union gesprochen, nicht von Souveränitätsbegriffen, Finggen, Wapnen und Staatssymbolen. Nichts von alledem, nur von der Eisen- und Stahlindustrie und dem Sockel von Kohle, auf dem sie hüben und drüben errichtet wurde, ist die Rede. Aber diese Industrie ist mit den nationalen Geschicken sehr eng verbunden. War England je mächtiger als zu der Zeit, da es mehr Eisen und Stahl produzierte als die ganze übrige Welt? Bleibt das Jahr 1892, in dem es von der USA überflügelt wurde, nicht ein schicksalhaftes Datum? Kann die Entwicklung nach 1923 verstanden werden, wenn man nicht weiß, daß von da ab der deutsche Stahlausstoß wieder über dem Frankreichs lag? War es nicht von größter Bedeutung, daß von diesem Zeitpunkt an die Produktion Deutschlands und Rußlands anstieg, die von Westeuropa zurückging? Besteht nicht eine kausale Verbindung zwischen der erstaunlichen Einflußlosigkeit Nordamerikas auf die Weltpolitik des Jahres 1938 mit dem katastrophalen Absturz der USA-Rohstahlgewinnung desselben Zeitraumes? War schließlich und endlich der deutschfranzösische Gegensatz nicht immer auch der Gegensatz der deutschen und französischen Stahlindustrie? Gerade das Besatzungsregime, das die okkupierende Macht ' immer zwingt zu befehlen und damit Absichten zu entschleiern, die sonst verborgener wirken, hat dies glasklar werden lassen. Was sind die ewigen Eiterherde der Relation zwischen Bonn und Paris? Die Saarpolitik, die Demontage, der französische Einfluß auf die Stahlguote und den deutschen Exportkohlenpreis. Stahl, Stahl und nochmals Stahl! Gerade in Bonn, wo man vom Bundeshaus die rheinischen Schleppkähne träge dahinziehen sieht und in der Stadt den ewig gleichen Rhythmus durchratternder Kohlenzüge vernimmt, spürt man den Sog der überdimensionalen Stahlwerke, die die Franzosen mit amerikanischem Geld errichtet haben und die nun jeder Pariser Regierung die Deutschlandpolitik zu diktieren schienen. Es ist das Verdienst des gegenwärtigen Außenministers, daß er den Versuch unternommen hat, sich diesem Diktat zu widersetzen, nicht die Konsequenzen der Lage zu ziehen, sondern die Lage zu verändern. Er scheint nach Deutschland hinüberrufen zu wollen „Lassen wir alle Äußerlichkeiten, klammern wir nur die Lebensadern unserer Volkswirtschaften an ein gemeinsames, mächtig pulsierendes Herz; Fleisch und Flaut wird später von selbst darüber wachsen!“ So jedenfalls glauben wir seine Worte deuten zu können. Es gibt allerdings auch eine andere Interpretation. Sie wird von jenen verfochten, die mit Bismarck meinen „Qui parle de l'Europe a tort“, frei übersetzt etwa „Wer von Europa spricht, der führt anderes im Schilde“. Ihnen zufolge haben die Franzosen im Augenblick nur eine alles überschattende Sorge: Indo-china. Dort halten französische Divisionen, beinahe 150.000 Mann, das Tonkingdelta und den schmalen Raum um Saigon. Zu stark, um geschlagen zu werden, zu schwach, um zu pazifizieren, entwickelt sich diese Streitmacht zu einer immer furchtbareren finanziellen und politischen Belastung. Militärisch und wirtschaftlich können in diesem Raum nur die Amerikaner helfen, und sie müßten es sehr bald tun, denn jeden Augenblick kann der Pariser Alptraum eines kommunistischen Generalangriffes Ho-Chi-Minhs Wirklichkeit werden. Also gilt es, den USA-Wünschen in Europa jede Konzession zu machen; Pläne, die einem in Wirklichkeit nicht passen, kann man später über Senat, Deputiertenkammer oder Petersberg noch immer vereiteln. Und man fügt hinzu: Ist es nicht auffällig, daß die Pariser Veröffentlichung so knapp vor der Londoner Konferenz erfolgte, daß sie in solcher Eile entworfen wurde, daß die betroffenen Industrien erst im nachhinein aufgefordert werden konnten, Gutachten auszuarbeiten? Das hört sich alles ganz überzeugend an, solange man den klaren, integren europäischen Willen Schumans nicht ins Kalkül zieht. Darf man gerade diesem Staatsmann einen so schäbigen Schachzug zutrauen? Kann nicht vielmehr die Abstimmung auf London eine viel plausiblere Erklärung finden?

Denn ein so weitreichendes Projekt muß zwangsläufig eine gewaltige Opposition auf den Plan rufen. Der Vorschlag muß daher mit einer ganz besonderen Anfangsrasanz ausgestattet werden, um sich aus dem politischen Gravitationsfeld erheben zu können. Sollten aber die Amerikaner und Engländer in London zustimmen, sollte der deutsch-französische Stahl- und Kohlenplan als Teil eine größeren, Hilfe für Indochina umfassenden Konzepts präsentiert werden kön nen, so wäre zumindest für die kritischen ersten Monate die Opposition wesentlich geschwächt. Hiemit beginnen sich die kritischen Aspekte zu verschieben. Die Frage ist im Grunde nicht die, ob die Franzosen ehrlich spielen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach tun sie es, die Frage ist auch nicht die, ob die Amerikaner zustimmen werden, denn aller Wahrscheinlichkeit nach haben sie ja den Plan inspiriert, die Schicksalsfrage ist die, ob England die Größe finden wird, das Spiel gelingen zu lassen. Denn niemand kann zweifeln, daß eine kombinierte deutsch-französische Stahlindustrie der englischen Exportindustrie härteste Konkurrenz bereiten würde, während das Ende des Krieges dem ältesten Stahlland der Erde alle Faustpfänder in die Hände spielte, um den Plan des französischen Außenministers scheitern zu lassen.

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