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Schonzeit für die EWG!

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Die wirtschaftliche Integration des freien Europa erlitt durch den Abbruch der Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EWG einen schweren Rückschlag, dessen Folgen und Nachwirkungen weiter reichen, als es die Öffentlichkeit im ersten Augenblick angenommen hatte. In Brüssel sind nicht nur die Besprechungen mit der Türkei ins Stocken geraten, sondern es wurden auch die Verhandlungen mit dem Iran abgesagt und die Unterzeichnung der Abkommen mit 18 afrikanischen Ländern infolge des Vetos Hollands und Italiens auf unbestimmte Zeit vertagt. Gleichzeitig erklärten sieb die Vereinigten Staaten gegen alle Zollerhöhungen und jeden Protektionismus. Entscheidend aber blieb der Umstand, daß Frankreich und Westdeutschland, Holland, Belgien und Italien bisher noch keine Einigung über den künftigen Kurs erzielen konnten. Selbst bei den einzelnen Teilhäbern des Römer Vertrages herrschen durchaus verschiedene Anschauungen über die Interpretation der Grundsätze und die praktische Handhabung der verschiedenen Klauseln. Umstritten sind besonders die Anerkennung der Neutralität und die Folgerungen daraus. Der monotone Hinweis auf die bisher praktizierten Dogmen gilt eher als eine Ausrede, um Debatten zu vermeiden und vor allem Zeit zu gewinnen. Die Dauer der Stagnation läßt sich nicht beurteilen. Alle Probleme und Streitfragen, deren Regelung die Öffentlichkeit von der EWG-Kommission erhofft hatte, wurden daher zunächst auf die lange Bank geschoben.

Verhängnisvolle Erbschaft

Obwohl der Außenhandel vorerst noch eine sehr günstige Entwicklung nimmt, lastet — angesichts der feindlichen Diskriminierung durch die EWG — auf Österreich die ernste Sorge um die künftige Gestaltung der Exporte. Leider verzögern die gründlichen und daher langsamen Veröffentlichungen unseres verdienstvollen Statistischen Zentralamtes die unbedingt notwendige rasche Beurteilung der Lage. Die Handelsstatistik berücksichtigt zwar in zunehmendem Maße alle Details sämtlicher Kategorien, aber die vollständige amtliche Länderstatistik erscheint erst mit einer Verspätung von vier Monaten. Selbst die „Statistischen Nachrichten“, die jeweils zur Berechnung der provisorischen Endsummen herangezogen werden müssen, sind oft im Rückstand.

Nach wie vor beanspruchen natürlich Westdeutschland und Italien ihren traditionellen Vorrang, so daß etwa von Jänner bis November 1962 auf die EWG 59,3 Prozent aller Importe und 50,6 Prozent sämtlicher Exporte entfielen. Trotz ihrer zentralen Lage leidet auch die Schweiz unter ähnlichen Verhältnissen; denn im Vorjahr betrug, den Daten der Eidgenössischen Oberzolldirektion zufolge, der Anteil der EWG am Import 63,1 Prozent und am Export 42 Prozent. Auffallend blieb unter allen Umständen die chronische Einseitigkeit des österreichischen Außenhandels. Vom Gesamtexport nach der EWG gingen nämlich nach Westdeutschland 55,9, Italien 30,7 und Holland 6,2 Prozent, dagegen nach Frankreich überhaupt nur 4,1 Prozent! Dieser ungesunde Zustand erscheint als eine Erbschaft der Ersten Republik, die sich auf den Handel mit den sechs Nachbarn gestützt und die meisten anderen Staaten vernachlässigt hat. Die Zweite Republik, die ihre volle handelspolitische Freizügigkeit eist nach dem Staatsvertrag erlangen konnte, steht daher vor der schwierigen, aber gewiß sehr dankbaren Aufgabe, den Radius ihres Warenverkehrs möglichst weit zu spannen, um den im Staatsinteresse unvermeidlichen Übergang zum Welthandel zu vollziehen.

Die Importe aus der EWG zeigten alle Symptome einer Konjunktur für Konsumgüter. Zwar erlitten Erze und Schrott, Eisen und Stahl, Wolle, Kup-

Photo: Klinsky fer und Maschinen einige Rückschläge, während Kohle und Koks, Lastkraftwagen und elektrische Apparate eine bemerkenswerte Stabilität aufwiesen, aber der erhöhte Lebensstandard begünstigte die Importe von Obst und Gemüse, Fischen und Personenautomobilen. Nach der „Statistik des Außenhandels, Teil A“ wurden in neun Monaten, von Jänner bis September, aus der Wirtschaftsgemeinschaft 185 Omnibusse, 1310 Traktoren, 2271 Motorräder und Motorfahrräder, 4962 Lastkraftwagen und — 49.808 Personenautomobile eingeführt, so daß die Kraftfahrzeuge erstmals die Textilien überflügeln konnten. Trotzdem hat der Export besser abgeschnitten, weil seine Zuwachsrate in Prozenten und in absoluten Zahlen höher lag als beim Import. Damit wurde aber auch die pessimistische Agitation der oppositionellen Freiheitlichen Partei widerlegt, wonach Österreich durch die Verluste seiner Exporte nach den sechs Staaten der Wirtschaftsgemeinschaft bereits von einer Katastrophe bedroht sei. Man fragt sich unwillkürlich, welchen Sinn es haben mag, die Situation des Außenhandels systematisch in den düstersten Farben zu malen, während Handel, Gewerbe und Industrie eine streng objektive Darstellung benötigen, die den erreichten Fortschritt schildert und möglichst rasch auf die schwachen Stellen hinweist, die bei rechtzeitiger Anwendung geeigneter Methoden zweifellos verteidigt werden können. In Wirklichkeit zeigten sich beim Export nach der Wirtschaftsgemeinschaft nur leichte Einbrüche bei Holz, Magnesit und Zellulose, eine gewisse Stagnation bei Textilien, Metallwaren und elektrischem Strom, indes Maschinen und Molkereiprodukte, Aluminium und elektrische Apparate greifbare Erfolge erzielten. In Übereinstimmung mit der allgemeinen Entwicklung wurden Ausfälle in wichtigen Kategorien sogar mit Hilfe einer Expansion in den niederen Rängen behoben, etwa bei Kunststoffen, Leder- und Kautschukwaren. Die erst vor kurzem eingeleitete Erweiterung der Warenangebote nahm sichtlich einen günstigen Verlauf.

Die Zeit ist nicht günstig

Schon seit einem Jahr wird von einem „Arrangement mit der Wirtschaftsgemeinschaft“ gesprochen, worunter man entweder partielle Zollvereinbarungen mit Brüssel oder eine Assoziierung unter voller Berücksichtigung der Punktationen von Rättvik versteht, auf die sich Schweden, Österreich und die Schweiz geeinigt haben. Nachdem in Genf die Ministerkonferenz der Europäischen Freihandelszone ihr Einverständnis zum österreichischen Experiment erklärte, zunächst in Bonn, Paris, Brüssel und Den Haag einige Sondierungen über die Aussichten einer isolierten Assoziierung einzuleiten, muß objektiv festgestellt werden, daß der Augenblick für einen „Alleingang“ nicht gerade glücklich gewählt ist.

Der Spekulation, die hohe Kommission in Brüssel sei nach ihrem Schwächeanfall gewiß zu einem Nachgeben gegenüber Österreich geneigt, steht die simple Tatsache entgegen, daß die EWG infolge ihrer inneren Krise und Uneinigkeit eine längere Schonzeit und Ruhepause benötigt, um sich vom erlittenen Prestigeverlust zu erholen und den Gefahren eines „Vetos am laufenden Band“ zu entrinnen. Selbstverständlich wird Bonn auf Paris, dann wieder Paris auf Brüssel hinweisen, wo im günstigsten Fall eine Kommission mit den Vorstudien betraut würde. Der Ballhausplatz verfügt über keine Mittel zur Beschleunigung des Prozesses, aber schon eine Eröffnung des sicher langwierigen Verfahrens würde einen gewissen Fortschritt bedeuten.

Die hohe Kommission dürfte jedoch jedem Präzedenzfall ausweichen und sich keinesfalls auf eine Diskussion über die Prinzipien der Neutralität einlassen, sondern orthodoxen Sinnes an ihrer eigenen Interpretation des Römer Vertrages festhalten, wonach Assoziierungen den unterentwickelten Ländern vorbehalten bleiben müßten. Nach der Politisierung der EWG, die im Widerspruch zu ihren ursprünglich proklamierten wirtschaftlichen Zielen steht, sind auf die Assoziierung Österreichs außerdem noch einige Schatten der Parteipolitik gefallen, wodurch der Sachverhalt nur kompliziert werden kann.

Ein realistischer Versuch

Bessere Aussichten als eine Assoziierung in Form eines Rahmenvertrages mit Brüssel bietet im Augenblick vermutlich die Methode des Ministers für Landwirtschaft, Ingenieur Eduard H a r t m a n n, der im Agrarsektor die Festsetzung 'von Exportkontingenten anstrebt. Nach Annahme der ominösen Agrarverordnungen sind die einzelnen Staaten der Wirtschaftsgemeinschaft, die ihre handelspolitische Souveränität eingebüßt haben, im Prinzip nicht mehr in der Lage, von sich aus individuelle Kontingente für längere Fristen zu gewähren. Ähnliche Vereinbarungen benötigen die ausdrückliche Genehmigung von Brüssel, die wiederum den formellen Antrag eines Vollmitgliedes voraussetzt; denn jeder Assoziierte und Außenseiter ist letzten Endes ein Bittsteller.

In der Praxis ergibt sich zur Zeit allerdings eine andere Konstellation, weil die Opposition Hollands, Italiens und Westdeutschlands gegen die Bürokratie Brüssels im Steigen begriffen ist. Früher oder später dürfte sich nicht nur eine Revision der Agrarverordnungen, sondern überhaupt eine Reform des Römer Vertrages als unvermeidlich erweisen.

Jedenfalls verlangt die gegenwärtige Lage eine sorgfältige Prüfung des Sachverhalts, wobei der drohende Zeitverlust nicht übersehen werden darf. Während der Verhandlungen Großbritanniens hat es sich nämlich herausgestellt, daß langwierige Besprechungen, die von widerspruchsvollen Emotionen und Kommentaren begleitet sind, zahlreiche Illusionen begünstigen und die maßgebenden Faktoren des Wirtschaftslebens oft zur Passivität verleiten, die unter allen Umständen schädlich ist.

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