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Schrei aus einem Lohnparadies

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In der letzten Zeit werden in ganz Jugoslawien private Villen und Weekendhäuser für Erholungszwecke gebaut. Diese Bauten sind für 25 Jahre von der Steuer befreit. Diesen Bauluxus können sich aber nur die Leute erlauben, die die Wohnungsfrage schon auf ihre Art gelöst haben: hohe Funktionäre, Fachleute, Sportler, Sänger und Handelsleute. Die Häuser werden die meiste Zeit über an Touristen und Erholungssuchende verpachtet, während zur selben Zeit die meisten jugoslawischen Arbeiter nicht einmal 30.000 Dinar monatlich verdienen und in sehr schlechten und teuren Wohnungen wohnen.

Die Diskrepanz zwischen den gutbezahlten Berufen und dem „kleinen Mann“ wird immer offenkundiger. Deshalb ist der Ruf nach höherem Lebensstandard in der breiten Masse zur Parole Nummer eins geworden. Alle jugoslawischen Zeitungen sind überfüllt mit Zuschriften der Arbeiter aus den Betrieben. Manche Proteste der Arbeiter werden nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch gewertet. Die Grundlage, auf der die jugoslawische Wirtschaft und Selbstverwaltung beruhte, scheint nach dem VIII. Kongreß ganz den Boden zu verlieren. Man weiß nicht mehr, wessen Beschlüsse im Betrieb zu befolgen sind und wer jetzt eigentlich für den gesamten Arbeitsprozeß zuständig ist, die Arbeiterräte, die Direktoren, die Gewerkschaft oder das Parteisekretariat. Die Interessengruppen führen einen unbarmherzigen Kampf um die Macht.

Den entschiedenen Antrieb dafür gab der VIII. Kongreß. Der Wunsch nach Lösung der gesellschaftlichen Konflikte ruft wachsende Unzufriedenheit hervor. Ein typisches Beispiel in einer Fleischfabrik in Woj-wodina veranschaulicht die Situation treffend. Nach „Borba“ vom 5. Februar 1965 ist neulich dort eine Versammlung abgehalten worden, wo in Anwesenheit von 500 Arbeitern von diesen auch solche Fragen gestellt wurden: „Aber alle diese schönen Referate kritisieren immer nur den Arbeiter. Es wurde noch nie ein Arbeiter gelobt, obwohl er viel arbeitet.“ „Ihr kritisiert uns ständig, fragt aber nicht, unter welchen Bedingungen wir arbeiten und ob unsere Arbeit mit 25.000 Dinar richtig entlohnt ist.“ „...Unser hygienischtechnischer Dienst ist schlecht, und nur deshalb kommen so viele Erkrankungen vor. In der Abteilung, wo ich arbeite, steht mir das Wasser bis zu den Knien, ohne daß sich jemand über die Betriebsmodernisierung Sorgen machen würde.“ „In dieser Fabrik ... müssen die Arbeiter für die Schuld der Techniker büßen.“ — „Ich möchte sagen, daß wir öfter 16 und mehr Stunden pro Tag arbeiten, und dafür zahlt uns niemand, obwohl wir eine entsprechende Forderung gestellt haben. So, wie gearbeitet wird, ist es kein Wunder, daß unser Schmalz schlecht ist und daß es wegen der schlechten Qualität oft waggonweise zurück kommt.“ — „... Wir arbeiten ohne Organisation. Man weiß nicht, wer was will und wer die Verantwortung trägt.“

All dem kommen die Aufsätze von Soziologen, Philosophen und Publizisten zu Hilfe. So hat sich der serbische „Marxist“ Svetozar Stojano-vit in der kroatischen Zeitschrift „Praxis“ vom Dezember 1964 offen für das Recht des Arbeiters auf Streik eingesetzt. Er schrieb: „ ... ich glaube, daß die De-facto-Anerkennung des Rechts auf Streik in Jugoslawien eine der größten Errungenschaften in der weiteren Dezentralisierung nach der Einführung der allgemeinen gesellschaftlichen

Selbstverwaltung sein soll.“ Mladen Caldarovic in dem Essay „Dissolu-tionsprozesse in der Selbstverwaltung“ („Praxis“, Jänner 1965) stellt die Frage, ob sich der jugoslawische Sozialismus, samt seiner sogenannten Selbstverwaltung, die sich immer mehr als besondere Heuchelei des Regimes ausweist, nicht in einem Degenerationsprozeß befinde, wofür er genug Beispiele aus dem „sozialistischen“ Wirtschaftsleben anführt.

Die neuen Gedankengänge der „marxistischen“ und neoliberalisti-schen oppositionellen Kreise in slowenischen, kroatischen und serbischen Zeitschriften und Zeitungen werden immer drängender. Alles spricht dafür, daß wir es heute in Jugoslawien wegen der Desorientierung der Kommunisten und des Wirtschaftsbankrotts mit einem größeren Selbstbewußtsein der Massen und Intellektuellen zu tun haben.

Jene Gruppe unter den Kommunisten, welche die „gute alte Zeit“ nach dem Krieg ersehnt und am liebsten wieder das gesamte öffentliche Leben kontrollieren möchte, ist nicht zu unterschätzen. Besonders jetzt ist diese Gruppe wieder laut, nachdem sich im Prozeß der Umstellung auf das „neue“ Wirtschaftssystem viele schmerzliche Begleiterscheinungen als Folgen der „alten“ extensiven Wirtschaft zeigen. Eine davon ist der niedere Lebensstandard. So hat neulich eine Statistik ergeben, daß es 62 Prozent der befragten Arbeiter mit niederen Monatseinkommen wegen der allgemeinen Preissteigerungen schlechter geht als vor drei Jahren, ebenso 61 Prozent der befragten Fachkräfte, während von den Personen mit hohen Einkommen nur 22 Prozent der Befragten eine Verschlechterung ihrer Lebenslage feststellen. Weil die zahlreichen und mächtigen Befürworter der extensiven Wirtschaft diese Tatsachen einfach ignorieren, werden die Anhänger der extensiven Wirtschaft und Investitionen noch sehr viel zu tun haben, um aus diesem Dilemma als Sieger hervorzugehen, wofür es aber noch wenig Anzeichen gibt.

Die alltägliche Praxis in Jugoslawien bewegt sich sehr stark in entgegengesetzter Richtung zu den proklamierten Prinzipien über die Dezentralisierung der Mittel. Noch lange werden die Folgen der „politischen Fabriken“ nachwirken; ebenso wird es noch lange Zeit dauern, bis man sich von dem „Aufbau“ der zahlreichen total unwirtschaftlichen Kraftwerke erholt.

Es ist also illusorisch, über einen höheren Lebensstandard in Jugoslawien zu sprechen, solange die Ursachen für die niederen Löhne nicht radikal beseitigt werden und die Wirtschaftsführung aus den Händen der kommunistischen Berufspolitiker nicht in die Hände der gut geschulten Fachkräfte übergeht. Wenn der „kleine Mann“ in Jugoslawien 50 Prozent seines Monatseinkom-mems nur für die dringlichsten Lebensmittel ausgeben muß, ist der Verbraucher nicht in der Lage, seinerseits durch ein größeres Konsumieren der produzierten heimischen Ware den Fluß der Wirtschaft zu unterstützen. Jedenfalls ist es unmöglich, über die größere materielle Basis des entlohnten Arbeiters und der Unternehmungen überhaupt zu sprechen, da nach offiziellen Angaben durchschnittlich mehr als 75 Prozent des Nettogewinnes der Betriebe auf Grund der bestehenden Gesetze noch immer automatisch aus der Produktion an die Instanzen in Belgrad oder der einzelnen Republiken und Gemeinden fließen. Der Betrieb kann also mit dem eigenen Ertrag nicht ohne weiteres arbeiten.

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