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Schuldemokratie in den Niederlanden

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Drei große Nationen, deren wahrhaft demokratische Einstellung niemand bestreiten kann, haben ihre moderne Lösung der Schulfrage gefunden, zwei davon durch einen jahrzehntelangen erbitterten Schulstreit, der zu einem Friedensschluß führte, an dem dort niemand mehr rütteln kann und will. Die Vereinigten Staaten haben ihre Sonderentwicklung und gehen ihre eigenen Wege, aber Großbritannien und die Niederlande haben auf fast gleichen Wegen eine sehr ähnliche Lösung gefunden, die mittlerweile in beiden Staaten sich jahrzehntelang erprobt hat. Wenn uns auch das amerikanische Beispiel wichtig ist, so sind uns die beiden anderen Beispiele noch wichtiger wegen ihrer Gleichsmnigkeit. Hier wollen wir uns von den Niederlanden belehren lassen.

Der Schulkampf (Schoolstrijd) beginnt in den Niederlanden mit dem Schulgesetz von 1806, das Privatsdiulen fast unmöglich machte und den Religionsunterricht aus der Schule wies. Aber der Widerstand gegen diesen Zustand setzte schon bald ein. Einerseits brachte die Vereinigung der vormals österreichischen Niederlande mit den Generalstaaten eine starke Zunahme der Katholiken und die Nötigung, diesen die vollen bürgerlichen Rechte, die ihnen jahrhundertelang vorenthalten worden waren, zuzuerkennen. Aber auch auf protestantischer Seite wurde der Einfluß der strenggläubigen Richtung gegenüber den Rationalisten immer stärker. Der Kampf um das Verfassungsgesetz von 1848 bradate Freiheit für die Privatschulen, zeigte aber eine eigenartige Gruppierung der Parteien und Ansichten: Konservative und Liberale traten für eine „gemeinsame Staatsschule“ ein, die Opposition verlangte „konfessionell getrennte Staatsschule“. Einer der Führer im Kampfe, der ja weiter ging, erklärte 1856: „Die Freiheit der Privatschulen bedeutet eine Preisgabe des Rechtes der Gesinnungsgemeinschaften auf die öffentliche Schule.“

Wegbereiter der künftigen endgültigen' Lösung wurde der Ministerpräsident Van der Brugghen. Er trat für eine öffentlidie Schule ein mit gesinnungsmäßiger Sektionie-rung nach dem Wünsch der Bevölkerungsgruppen. Die erste private Lehrerbildungsanstalt der Niederlande wurde von ihm gegründet. Dem. Rechte der Eltern war, seiner Meinung nach, nicht durch die Einführung von Religionsstunden gedient, sondern sie hatten das Recht, die allgemeine weltanschauliche Haltung des Unterrichtes zu bestimmen. Sein Vorschlag ging dahin, den Privatschulen hinreichend Staatsunterstützung zu gewähren. Dieser Gesetzesvorschlag wurde von der Mehrheit ver- 1 worfen. Aber Van der Brugghen brachte das zündende Schlagwort vom „Volk hinter den Wählern“, das nicht mehr verstummte, vom Volk, das nicht gezwungen werden könnte, eine Schule zu erhalten, in die es seine Kinder nicht schicken wollte. Es dauerte bis zur Verfassungsreform von 1917 und bis zum De-Visser-Gesetz von 1920, bis sich die Vorschläge Van der Brugghens in den wesentlichen Zügen durchsetzten. Seine ideale Forderung aber war eine Schule mit völliger gesinnungsmäßiger Einheit von Eltern, Kindern und Lehrern.

Die Arbeit der Bevredigingscommissie (Be-friedigungskommisson) unter Dr. D. B o s führte endlich zum „Unterrichtsfrieden“ (Onderwijspacificatie), der durch die Verfassungsreform von 1920 mit dem Elemen-tarunterriditsgesetz De-Visser besiegelt wurde. Die Opposition spradi von einem Kuhhandel zwischen der Rechten und der Linken, weil Kompensationen auf beiden Seiten zugestanden wurden und gleichzeitig das allgemeine gleiche Wahlrecht beschlossen worden war. Wir stellen fest, daß mit diesem Gesetz ein wahrhaft moderner demokratischer Grundsatz anerkannt worden war: Das Redit der Eltern, .selbst die Riduung des Unterrichtes ihrer Kinder zu bestimmen.

Mit diesem Friedensschluß verliert der niederländische „Schulstreik“ nicht an Interesse für uns, im Gegenteil ist es wichtig für uns, die Phasen dieses Kampfes und seine Ergebnisse im einzelnen zu verfolgen. Denn es gibt kein Argument für oder gegen irgend eine Lösung der Schulfrage, das in diesem Kampfe nicht vorgebracht und ausführlich erörtert worden wäre *.

Die Niederlande waren das erste Land in Europa (1798)), das einen eigenen Unterrichtsminister hatte. Unter ihm war das Vermögen der aufgelösten Staatskirche als Unterrichtsfonds eingezogen und aller Unterricht außerhalb der Staatsschule unmöglich gemacht worden. Das hatte eine segensreiche Folge, weil Katholiken und Protestanten im Schulkampf lernten, in einer Front zu kämpfen. Auch für die anderen Weltan-schauungs- und Gesinnungsgemeinschaften kam damit eine Klärung. Wollte man sich selbst, seine Gesinnungsgenossen und die Kinder vor erzieherischer Vergewaltigung auf die Dauer schützen, dann mußte man auch die Möglichkeit preisgeben, einmal künftig, nach Gewinnung einer Mehrheit, die Gesinnungen anderer Elterngruppen zu vergewaltigen. Somit führte die scharfe Vertretung der eigenen Gesinnungsgemeinschaft zur Toleranz gegen andere Gesinnungsgemeinschaften. Wieder ein Zug wahrer Demokratie.

Die endgültige gesetzliche Regelung hatte gewisse Vorstufen. Schon 1889 wurde den

Eine demnächst in der Amandus-Edition erscheinende Broschüre wird die gesetzlichen Bestimmungen aller drei Länder, der Niederlande, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, und den Verlauf des Schulstreites in den Niederlanden und in Großbritannien bringen.Privatschulen der Anspruch auf Staatszuschuß zugebilligt und ebenso den privaten Lehrerbildungsanstalten, und 1905 übernahm der Stäa: zugleich mit Kostenzuschüssen für die Schulgcbäude die Gehälter und Pensionen der Lehrpersonen an Privatschulen. Mit dgr Verfassungsreform von 1917 wurde die völlige Gleichstellung von Staats- und Privatsdiulen festgelegt. Von da an und erst recht mit dem Volksschulgesetz (Lager onderwijs wet) von Dr. J. Th de Visser von 1920, begann ein rasches Aufblühen der Privatschulen, während das Wachstum der Staatsschulen zum Stillstand kam.

Dieses Gesetz unterscheidet Heimunterricht, der nicht mehr als die Kinder dreier Familien umfassen darf, und den Schulunterricht, der jede andere Unterrichtsform begreift. Es werden zwei Stufen unterschieden, von denen die höhere etwa unserer Bürgerschule entspricht. Bei den Schulen wird unterschieden zwischen „öffentlichen Schulen“, die von Staat und Gemeinde eingerichtet und geleitet werden, und „Sonderschulen“, die von Vereinigungen und Einrichtungen unterhalten und geleitet werden.

Für die allgemeinen (öffentlichen) Schulen gilt als Grundsatz, daß „der Lehrer sich hüten muß, etwas zu lehren, zu tun oder zu unterlassen, was der Ehrfurcht gegenüber den religiösen Überzeugungen Andersdenkender widerspricht“. Der Religionsunterricht wird den Religionslehrern überlassen, die Sphulräume sind dazu zur Verfügung zu stellen. Der Staatsunterricht ist überall dort einzurichten, wo sich hinreichender Bedarf zeigt, das heißt genügend Schüler angemeldet sind. Die I eiumg der Staatsschule untersteht der Gemeindebehörde welcher der Staat Geholter, Pensionen usw. ersetzt. Hier ist nun die nicht unberechtigte Einwendung erhoben worden, daß in einer solchen öffentlichen Schule der Eltern- und Schülerkreis gemischt ist, das Personal aber von der Schu““irung, also der Gemeinde bestellt wird. Trotz der gesetzlichen Gleichstellung von Staats- und Sonderschulen ergibt sich dann ein Nachteil für die Eltern der Schulkinder der Staatsschule, wenn die Gemeindeverwaltung in den Händen einer Mehrheit von Anhängern der Sonderschulen ist, weil dann diese, und nicht wie in den Sonderschulen letzthin die Elternschaft, die Schulleitung in Händen hat.

Für die Einrichtung einer Sonderschule wird als Voraussetzung gefordert, daß eine Schulvereinigung über die Erklärungen der Eltern einer hinreichenden Anzahl Schüler verfügt, daß sie für diese Kinder diese bestimmte Sonderschule wünschen. Sobald diese Erklärungen vorgelegt werden, haben die Behörden die Pflicht, bei der Errichtjag der Sonderschule mitzuwirken. In Gemeinden von 100.000 und mehr Einwohnern müssen für die Unterstufe mindestens 100 (heute 150), für die Oberstufe mindestens 60 (heute 90) Schüler angemeldet werden. Bei 50.000 bis 100.000 Einwohnern müssen 80 (heute 120), beziehungsweise 48 (heute 72) angemeldet werden; bei 25.000 bis 50.000 60 (heute 90), beziehungsweise 36 (heute 54); bei weniger Einwohnern 40 (heute 60), beziehungsweise 24 (heute 36). Ist das Ansuchen mit der hinreichenden Zahl Erklärungen belegt, dann hat die Behörde nicht weiter zu untersuchen, sondern muß ein Gebäude errichten oder zur Verfügung stellen und der Schulvereinigung die Einrichtungskosten vergüten. Dafür muß die Schulleitung eine Bürgschaftssumme in der Höhe von 15 Prozent der Schu'gründungskoäten in die Gemeindekasse einzahlen, welche verzinst wird. Sinkt die Anzahl det Schüler unter das Minimum, dann verfällt diese Summe, wird das Gebäude nicht bestimmungsgemäß verwendet, oder sinkt die Anzahl der Schüler allzu stark, dann verfällt auch das Gebäude.

Alle Vergütungen belaufen sich auf dieselben Summen wie in den Staatsschulen. Jedes dritte Jahr muß ein Rechenschaftsbericht vorgelegt werden und Überschüsse gehören der Gemeinde. Alle Vergünstigungen von Fachlehrefbewilligungen an Staatsschulen, muß die Gemeinde auch den Sonderschulen gewähren In Gehältern und Pensionen herrscht völlige Gleichstellung. Um eine Konkurrenzierung auszuschließen, dürfen aber von den Sonderschulen auch nicht höhere Gehälter und sei es auch auf eigene Kosten derScbulvereinigung bewilligt werden.

Somit hat jede Elterngruppe von nur einiger Bedeutung das gesetzlich gewährleistete Rechtau fdenvonihrgewün sehten Unterricht für ihre Kinder. Wenn auch die meisten Sonderschulen konfessionell sind, so werden sie doch nie von den Kirchen, sondern von Schujvereini-gungen begründet Der aufgestellte Lehrplan, die Wahl der Schulbücher und die Ernennung der Lehrpersonen durch die Schulvereinigungen gewährleisten den gewünschten Geist des Unterrichtes.

Der Staat trägt dafür Sorge, daß die Qualifikation und Ausbildung der Lehrpersonen, die Güte des Unterrichts und die Mindestforderungen an den Lehrplan in der Anzahl der Schulwochen und der Schulstunden für die einzelnen Fächer sowie die vorgeschriebene Anzahl Lehrper;onen gewährleistet sind. Andererseits kann die Schulleitung Fächer, die Zusammenhang mit der'Unterrichtsrichtung haben, in den Lehrplan aufnehmen und Fachlehrer für sie ernennen.

In der Lehrerbildung ist das De-Visser-Gesetz noch nicht völlig durchgeführt. Wenn die Schulvereinigungen auch volle Freiheit in der Ernennung der Lehrer haben, so müssen diese doch in Ausbildung und Fähigkeiten den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Wer nicht die entsprechenden Berechtigungen erworben hat, kann auch nicht ernannt werden. Auch der Sonderschullehrer erhält sein staatsgültiges Ernennungsdekret und hat alle jene Sicherungen, über welche auch der Lehrer an Staatsschulen verfügt. ■

Ich verfüge ntyr über eine Statistik aus dem Jahre 1936. Danach war das Verhältnis zwischen Staatsschulen und Sonderschulen

das folgende:

Unterstufe: Schulen Schüler

Staatsschule 3175 472.072

onderhulen 4378 1,199.533

Oberstufe:

Staatsschulen 269 32.978 _

Sonderschulen 533 44.262

Somit gingen also bei der Unterstufe 36 Prozent der Schüler in Staatssciiulen und 64 Prozent in Sonderschulen, bei der Oberstufe 44 Prozent in die Staatsschule und 56 Prozent in die Sonderschule. Das Verhältnis hat sich seither noch weiter zu Ungunsten der Staatsschule verschoben. Besonders auf dem flachen Lande und in de ' Landstädten breiten sich die Sonderschule;1 immer mehr aus.

Beim Mittelschu! unter rieht ist die gesetzliche Regelung anders, dort überwiegen die Staatsschulen bei weitem.

Nach den Wekanschauungsgemeinschaften aufgeteilt ergeben die Sonderschulen das folgende Bild:

Unterstufe: Kathol. Pror. Israel.' Andere Schulen 2343 1894 4 137

Schüler 450.165 304.275 708 17.373

Oberstufe:

Schulen 272 223 37

Schüler 20.404 19.660 — 2068

Bei den nichtkonfessionellen Sonderschulen handelt es sich weitgehend um besser-situierte Elternkreise. Von ihnen waren 25 Schulen nach Montessori, 47 nach Dalton und einige nach anderen pädagogischen Grundsätzen geführt; 16 arbeiteten als Freiluftschulen.

Die Befriedung des niederländischen Schulstreites war eine wirkliche Friedensbringung. Keine Partei würde dort mit dem Plan einer Änderung des Geistes dieser Gesetzgebung in den Wahlkampf gehen wollen. Weder die Kirchen noch die Parteien werden von den .Schulfragen her in KonHikte hineinsevogen. Freilich muß der Wunsch, die eigene Weltanschauungsgemeinschaft vor Vergewaltigung zu schützen, verbunden sein mit der Bereitschaft, auch andern Weltanschauungsgemein-schiften die gleiche Sicherung zuzugestehen. Haben wir Katholiken in Österreich die gleiche Bereitschaft und den gleichen Wunsch?

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