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Schuldig — „Schuldigsein“

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Das österreichische Strafgesetz entstammt der gleichen Zeit wie das ABGB., nämlich der Napoleonischen Aera. Es wurde zwar am 27. Mai 1852 kundgemacht, doch stellt es eine nur verbesserte Ausgabe des Strafgesetzbuches über Verbrechen und schwere polizeiliche Uebertretungen vom 3. September 1803 dar. Während man aber vom ABGB zwar wesentliche Teile einer völligen Neuregelung unterzog, nicht aber an eine Totalreform heranging, betrachtete man das Strafgesetzbuch von allem Anfang an als Provisorium. So begannen auch bald die Reformen. Heute stehen wir glücklich vor dem neunten Verbuch dieser Art. Die vergangenen hundert Jahre beweisen, daß eine Reform, einmal begonnen, zwar gründlich überlegt, aber nicht endlos hinausgezogen werden darf. Sie beweisen aber auch, daß die Praxis in der Lage ist, mit einem veralteten Gesetzbuch, wenn nötig, zu arbeiten. Bei der Strafrechtsenquete am 2. April 1954 wurde auf diesen Umstand besonders vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofes, Dr. Handler, und vom Generalprokurator Dr. Bulla hin-gewiesen. Letzterer erklärte, daß den Praktikern ein allerdringlichstes Bedürfnis, das Strafrecht in seiner Gesamtheit zu reformieren, noch nie untergekommen sei.

Wenn man somit nicht die Behauptung aufstellen kann, daß das geltende österreichische Strafrecht geradezu schädlich und rechtsverhindernd sei, so bleibt dennoch die Frage, ob sich ein moderner Staat mit einer derartigen Krücke begnügen darf. Die Grundfrage, um die die Enquete kreiste, war: Reform des gesamten Strafrechtes oder nur Reform einzelner Teile. Unter dem Begriff Gesamtreform verstanden einige die Herstellung eines Strafrechtes auf völlig neuen Grundlagen' und nach neuen Prinzipien, während andere, z. B. Univ.-Prof. Doktor Rittler, auch bei einer gänzlichen Ueber-arbeitung die alten Grundlagen beibehalten wollen. Daß die Gesamtreform Jahre in Anspruch nehmen würde, war Experten und Abgeordneten klar, es wurde aber bei der Diskussion mehrmals und mit Recht darauf hingewiesen, daß „lange“ keineswegs endlose Verzögerung bedeuten müsse.

Die Grundübel des derzeitigen Strafrechtes sind Unübersichtlichkeit, Uneinheitlichkeit, Unsicherheit der Rechtsprechung und Strafdrohung in zu vielen Gesetzen. Das Straf recht enthält Widersprüche. Teilnahme beispielsweise ist bei Diebstahl und Veruntreuung strafbar, bei Betrug nicht. Bei Diebstahl und Veruntreuung kann Straflosigkeit durch tätige Reue erworben werden, bei anderen Vermögensdelikten nicht. Ebenso ist das Gesetz veraltet. K a d e c k a betont mit Recht, daß die Vergeltungsstrafe als solche veraltet ist. Der Vorstand des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Wien, Prof. Dr. Sch war za eher, wies auf die Anzeigepflicht für Aerzte in allen ihnen zur Kenntnis gelangenden strafbaren Handlungen hin; das widerspreche der christlichen Ethik. Vor allem sind Aenderungen nötig bei den Delikten des Betruges und Diebstahls, der Erpressung und Nötigung, der schweren uqd leichteren Körperbeschädigung. Der Abgeordnete Prof. Dr. Gschnitzer zeigte zwei besonders, schwere Mängel auf: In Oesterreich werden Kindermißhandlungen im Strafgesetz zu gering behandelt, und die Tierquälerei scheint überhaupt im Strafgesetz nicht auf.' Präsident Dr. Handler gab diese beiden Uebel-stände zu. Auch auf die zu geringen Strafen bei Kinderschändungen wurde von den Abgeordneten hingewiesen. Kindermißhandlung und Kinderschändung müßten als besonderer Tatbestand im Strafgesetz herausgehoben und mit einer besonders schweren Strafdrohung ausgestattet werden. Aus seiner Einstellung zum Tier ist die totale Ueberalterung des Strafgesetzes klar ersichtlich: Das Tier wird in diesem Zusammenhang überhaupt nicht erwähnt, da es entsprechend der Auffassung früherer Jahrhunderte eine Sache, res, sei. So haben wir heute den grotesken .Zu-

stand, daß Tierquälerei als Verwaltungsübertretung auf Grund einer Verordnung aus dem Jahre 1855 mit lächerlich geringen Strafen geahndet wird — sollte sie überhaupt geahndet werden. Die Rechtsprechung ist in Oesterreich nicht tierfreundlich. Ein neues Strafgesetz wird hier den Ergebnissen der modernen Tierpsychologie folgen müssen.

Wohl einer der Grundmängel des derzeitigen Strafrechtes ist, wenn man so sagen kann, seine schlechte Psychologie. Es stammt denn auch aus einer Zeit, in der Psychologie als Wissenschaft noch nicht existierte. Allgemein wurde der Paragraph 2 (Ausschließungsgründe des dolus) als überholt bezeichnet. Schon der Berichterstatter Abgeordneter Dr. Tschadek betonte, daß die Frage der Zurechnungsfähigkeit nach den Erfahrungen der modernen Psychiatrie klarer zu formulieren sein wird. Nach Meinung des Psychiaters Univ.-Prof. Dr. Stránský würde es eine Wohltat bedeuten, wenn dieser Paragraph anders textiert werden könnte. Einen sehr richtigen Gesichtspunkt warf Privatdozent Dr. Gebauer vom Institut für Kriminologie der Universität Wien auf, wenn er erklärte, daß es mehr als unbefriedigend sei, wenn ein Richter eine Verurteilung eines Verhaltens wegen fällen muß, von dem er selbst erst nach langem Suchen feststellen kann, daß es tatsächlich strafbar ist. Unverschuldete Unkenntnis des Gesetzes erscheint heute in einem anderen Licht als früher. Das für die Entwicklung eines jungen Menschen sehr entscheidende Alter von 18 bis 21 Jahren ist im Strafrecht zu wenig berücksichtigt. Univ.-Prof. Dr. Horrow

aus Graz erklärte, daß ein junger Mensch dieses Alters nach Begehung eines schweren Verbrechens, richtig behandelt, noch ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft werden könnte. Läßt man ihn aber in Strafanstalten mit Erwachsenen zusammen, dann bildet die Strafanstalt eine Hochschule für Verbrecher.

Wie zu erwarten, stießen die gegensätzlichen Meinungen über die Paragraphen 144 bis 148 Fruchtabtreibung hart aufeinander. Der große Pastoralmediziner Univ.-Prof. Dr. Niedermeyer vertrat einen kompromißlosen integralen Standpunkt gegenüber jedweder Lockerung. Von sozialistischer Seite wurden ihm Argumente entgegengesetzt. Die Diskussion verlief fruchtlos, da das Problem mit medizinischen, biologischen oder gar statistischen Argumenten überhaupt nicht zu lösen ist. Das Problem ist kein rationales, sondern ein weltanschauliches und letzten Endes religiöses. Bei einer Reform des Strafrechtes wird vielleicht eine Annäherung in vereinzelten Teilbereichen dieser Materie möglich sein, als Ganzes wird man aber die Frage ausscheiden müssen. Weltanschaulich sind derzeit die Gegensätze zu groß.

Univ.-Prof. Dr. Graßberger von der Universität Wien betonte, daß kurze Freiheitsstrafen für einmalige Delikte im allgemeinen ein Uebel seien. Sie sind nicht geeignet, zu bessern. K i dec k a bezeichnete die Unterscheidung zwischen schwerer und einfacher Kerkerstrafe und zwischen strengem und einfachem Arrest derzeit als sinnlos, ebenso die Bestimmungen über die Verschärfung der Kerkerstrafe durch Fasten, hartes Lager usw. Geteilt war die Meinung, ob man die Ueber- tretungen überhaupt auflassen solle, d. h. sie teils als Vergehen zu erklären, teils als Verwaltungsdelikte.

Eine Minderheit, aber eine gewichtige Minderheit war gegen eine Gesamtreform und für eine Teilreform. Das oben angeführte Argument, daß sich die Praxis mit dem alten Gesetz durchaus zurechtfinde, wurde durch ein zweites Argument ergänzt, daß genügend Auslegungsmöglichkeiten bestünden, um dem Fortschritt Rechnung zu tragen. Die Abgeordneten konnten sich dieser Meinung nicht anschließen. Eine Teilreform ist nicht gut möglich, da es ja gerade die wichtigsten Punkte sind, die einer Reform bedürfen. Nach welchen Gesichtspunkten soll diese Tcilreform durchgeführt werden? Ist man sich jedoch über diese Gesichtspunkte klar, dann kann man auch die Gesamtreform durchführen. Ganz richtig erklärte Prof Dr. Rittler, daß eine Teilreform den Willen zur Gesamtreform ertöten würde. Und da Generalprokurator Dr. Bulla darlegte, daß die Praxis durch die jetzige Lage nicht behindert würde, kann bis zur Gesamtreform noch zugewartet werden. Höchstens wäre zu erwägen, ob nicht in der Zwischenzeit der Strafvollzug modernisiert und sichernde Maßnahmen eingeführt werden könnten. Das Wesen der Gesamtreform wird der Abgang von der Vergeltungsstrafe zur Zweckstrafe sein, die Einführung von Sicherheits- und Besserungsmaßnahmen, die Errichtung moderner Anstalten und — um noch einige Beispiele zu für jeden Kühlschrankbesitzer, daß eine bekannte Fachfirma neben ih;er Erzeugung auch zwei große Reparaturwerkstätten unterhält, in welchen alle Marken und Systeme, auch gekapselte Kühlaggregate mit Garantie instand gesetzt werden.

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nennen — die Einführung eines außerordentlichen Verschärfungsrechtes an Stelle eines außerordentlichen Milderungsrechtes.

Wie schwer jedoch das Problem bei näherer Untersuchung ist, hat Prof. Dr. Nowakowski aus Innsbruck sehr deutlich dargestellt. Er führte aus, daß in der Allgemeinheit im Vordergrund noch immer die unmittelbare Verbindung des „Schuldig“, das aus dem Munde des Strafrichters ergeht, und des „Schuldigseins“ im Sinne der Ethik, Moral und Theologie steht. Die Wissenschaft ist aber zu dem Ergebnis gekommen, daß man dem Schuldspruch im Sinne des Rechtes einen anderen Akzent geben muß. Wir können — so sagt Prof. Dr. Nowakowski — ein neues Strafgesetz auf Grund psychiatrischer und medizinischer Einsichten schaffen, aber wir werden dann am allgemeinen Rechtsgefühl vorbeigehen. Oder wir können eine neue Fassung des Strafgesetzes versuchen, wie es dem allgemeinen Rechtsgefühl entspricht, dann werden wir aber von der Wissenschaft schon in diesem Augenblick überholt sein.

Die Enquete endete mit einem Bekenntnis zur Gesamt reform. Trotz aller Schwierigkeiten wird die Arbeit in Angriff genommen werden müssen. Wir werden keine Zeit der äußeren Sicherheit und inneren Ruhe mehr erleben, die für ein großes Reformwerk an sich nötig wäre. Aber wir dürfen der Zeit nicht unterliegen, sondern müssen versuchen, sie zu gestalten.

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