6700600-1963_27_05.jpg
Digital In Arbeit

Schule der Demokratie?

Werbung
Werbung
Werbung

Dieses Beispiel mag für viele andere derselben Art stehen: Eine Mutter äußert sich vor einem großen öffentlichen Forum sehr skeptisch über die Erziehung der Jugend für die Werte und Ideale der Demokratie an unseren Schulen. „Auf die Schule kann man wenig Hoffnung setzen! Daher muß jede Mutter ihre Kinder selbst so erziehen, daß sie dereinst als Erwachsene nicht den Schalmeien irgendeines politischen Rattenfängers erliegen!“

Vorwürfe solcher Art werden in der Öffentlichkeit nicht selten laut, und man ist geneigt, Pauschalurteile über die „Verantwortlichen“ zu fällen. Höchst selten scheint man sich die Gewissensfrage zu stellen: Ist die Schule von heute in ihrer spezifischen Organisation überhaupt in der Lage, jenen Aufgaben gerecht zu werden, die die Öffentlichkeit von ihr erwartet? Ist der Vorwurf ihres „Versagens“ bloß ein Versagen einzelner „Repräsentanten“ oder eine Schwäche, ein Grundübel des „Apparates“ schlechthin?

Es ist eine Tatsache: In letzter Zeit versucht man von behördlicher Seite die Vermittlung staatsbürgerlichen Wissensgutes an die Jugend zu intensivieren. Man kann annehmen, daß den Bemühungen ein gewisser Erfolg beschieden sein wird: Es wird wohl in Zukunft weniger Schulabgänge als bisher geben, die etwa den Namen des Bundespräsidenten nicht zu nennen wissen oder einen gewissen Heinrich Himmler für einen amtierenden österreichischen Bundesminister halten. Es steht also außer Frage, daß man mit schulbehördlichen Erlässen und Verordnungen mittelbar die staatsbürgerliche Bildung des jungen Österreichers heli““ kann.

Man scheint sich aber über eines zu wenig Gedanken zu machen: Die erfolgreiche Vermittlung von staatsbürgerlichem Wissensgut ist keinesfalls identisch mit Erziehung zur Demokratie, sie bildet höchstens eine Ausgangsbasis dafür. „Demokratie“ läßt sich nämlich nicht mit Erlässen und Verordnungen „lehren“ und „lernen“, wenn man darunter mehr versteht als die formelhafte mechanische Handhabung gewisser Spielregeln, deren Beachtung wohl auch zur Demokratie gehört, die aber nicht ihr Um und Auf verkörpern. Echte Demokratie — Ortega y Gasset nennt sie die „edelste Losung, die auf dem Erdball je erklungen ist“ — vermag nur dort zu gedeihen, wo einer möglichst großen Zahl von Menschen jene Grundhaltung der Toleranz zu eigen ist, die „überall eine Stelle für jene frei sein läßt, die anders denken und fühlen, und wo man den Entschluß wahrmacht, mit dem Feind, mehr noch: mit dem schwachen Feind zusammen zu leben.“

Werden an unseren Schulen die jungen Menschen bewußt in solch einem Geiste erzogen und gelenkt? Wir müssen es bezweifeln. Warum? Weil sich die österreichische Schule in ihrer Struktur bis heute nur höchst unvollkommen den Erfordernissen des demokratischen Zeitalters angepaßt hat. weil sie ihren eigenen Prozeß der Demokratisierung nicht hinter sich, sondern noch vor sich hat — trotz neuen Schulgesetzen! Auch für sie gilt, was für viele andere Institutionen unseres Staates gilt: man spielt das Spiel der Demokratie,

Von der Masse der Lehrer ein auf eine demokratische Gesellschaftsordnung hin besonders akzentuiertes Wirken zu erwarten, hieße sie überfordern. Denn auch der Pädagoge vermag nicht wurzellos, gleichsam in einem ..Vakuum“, erfolgreich für die Demokratie zu wirken und zu erziehen. Was ihn vor allem daran hindert, sind die antiquierten Äußerungsformen des alten Obrigkeitsstaates, von denen die Schule der Gegenwart noch immer geprägt ist.

Der „Untertan“

Man muß sich eines ins Gedächtnis rufen: Unsere Schule steilt dem inneren Aufbau nach ein Produkt des aufgeklärten Absolutismus dar. Da bei ihrer Organisation Maria Theresia und Friedrich der Große Pate gestanden sind, erhielt sie ihre entscheidende Formung durch absolutistische Prinzipien. Also verkörperte der einzelne Lehrer das unterste Glied in einer hierarischen Ordnung. Wohl entsprangen in der Folge wiederholt Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat hinsichtlich der obersten Leitung

und Führung, doch wirkte sich dies nur kaum nennenswert auf die Struktur der Schule als solcher und auf die Stellung des Lehrers aus. Er verblieb immer in einem ausgesprochenen „Untertanenverhältnis“, also ohne Mitspracherecht. Wohl räumte das Reichsvolksschulgesetz 1869 den Lehrern gewisse demokratische Rechte ein, doch später wurden diese teilweise wieder beschnitten.

Für die Gegenwart muß festgestellt werden: die allgemein rechtliche und soziale Stellung des Lehrers blieb im wesentlichen seit hundert Jahren ziemlich unverändert. Das Subordinationsverhältnis wurde über die wechselnden politischen Systeme* hinweg stets frisch lebendig hinübergerettet — bis herauf in die Zweite Republik, in der das hierarchische Prinzip auf Schulebene keineswegs — wie man in einem demokratischen Gemeinwesen eigentlich annehmen müßte — eine Einschränkung erfahren hat. Es tritt heute hingegen in manchen Bereichen verstärkt in Erscheinung. Das läßt sich durch Beispiele belegen: Im neuen „Pflichtschullehrer-Dienstrecht“ etwa wird der Schulleiter oder Direktor (es ist kein Geheimnis, daß dieses Amt immer mehr der Honorierung parteipolitischer Gefolgschaftstreue vorbehalten ist) angewiesen, über jeden Lehrer alljährlich einen „Geheimbericht“ zu verfassen, der sich offiziell „Mitwirkung an der Dienstbeschreibung“ nennt, und der in seiner praktischen Auswirkung Denunzianten- und Naderertum einerseits und Servilität anderseits Tür und Tor öffnet. Die Schulaufsichtsorgane wiederum haben weiterhin die Leistung des Lehrers — Arbeit am lebendigen Menschen — nach einem fixen Notenschema zu „klassifizieren“, in einer Form, die den Erkenntnissen der Psychologie um ein Jahrhundert nachhinkt. Bediente sich jedoch ein Lehrer seinen Schülern gegenüber in derselben Weise dieses Prinzips, würde er von der Schulbehörde mit Recht der Unfähigkeit geziehen werden.

Der Schulleiter wird künftig weitgehend der Unterrichtserteilung entbunden — dies in einer Zeit größten Lehrermangels! Mit dieser Maßnahme findet die Verbürokratisierung der Schule bereits auf der untersten Ebene Eingang, und der Schulleiter übt vor allem die Funktion eines „Schulaufsehers“ aus. Oder: Es blieb eigenartigerweise der Zweiten Republik vorbehalten, mit einer in der Öffentlichkeit viel belächelten „Amtstitelverordnung“ aufzuwarten, die eine wahre „Sintflut“

von Lehrertiteln im Gefolge hatte, während man im besagten Obrigkeitsstaat mit nur ein paar „Amtstiteln“ durchaus das Auslangen fand.

Der britische Philosoph Lord Bertrand Rüssel bezeichnet den Lehrer als den „Träger der Zivilisation“ und sieht im freien Lehrer einen Garanten für Toleranz und Demokratie, da gerade dieser wie kaum ein anderer dafür prädestiniert erscheint, die ihm anvertrauten Schüler zu einer hochherzigen Geisteshaltung zu erziehen. „Die einzige Methode, den Totalitarismus in unserer durchorganisierten Welt zu verhindern, ist die Gewährung eines gewissen Maßes an Unabhängigkeit für solche Körperschaften, deren Tätigkeit für die Allgemeinheit von Wert ist, und unter ihnen verdient wohl die Lehrerschaft einen besonderen Platz.“ Er hebt hervor, daß der Lehrer so wie der Künstler, Schriftsteller oder Philosoph nur dann seine Aufgabe voll erfüllen könne, wenn er sich als Eigenpersönlichkeit fühlt, die von einem inneren schöpferischen Impuls gelenkt und nicht von einer äußeren Obrigkeit beherrscht und gehemmt wird. Doch unter den heutigen Umständen seien viele Lehrer außerstande, wirklich ihr Bestes zu leisten. — Feststellungen, die nicht nur im Heimatland des Philosophen Aktualität besitzen!

Die Schweizer Schule

Es erhebt sich die Frage: Wie könnte das österreichische Schulwesen — und mit ihm der Lehrerstand — neue Impulse empfangen, um es nicht anachronistisch erstarren zu lassen?

Es ist hierzulande wenig bekannt, daß zum Beispiel das Schulwesen der Schweiz wesentlich anders organisiert ist als das österreichische. Der Schweizer Rechtssachverständige, Pädagoge und Publizist Max S c h ä r e r befaßte sich in der letzen Februarnummer des „Basler Schulblattes“ eingehend mit dem Aufbau der eidgenössischen Schule. Er kommt zum Ergebnis, daß man zum Unterschied vom Kanton Basel in „anderen Ländern“ eine Schulorganisation besitzt, die man in der Schweiz „einmütig ablehnen würde, nämlich eine obrigkeitliche Führung des einzelnen Lehrers, die wir bei uns als unannehmbar betrachten müßten.“

Der Verfasser weist darauf hin, daß in den besagten „anderen Ländern“ das Schulwesen analog zum Aufbau der Staatsverwaltung, also nach Prinzipien des reinen Verwaltungsrechtes organisiert worden sei, mit der „Hierarchie mit Dienstgewalt als Kernstück“. Das Schulwesen der Schweiz hingegen habe seine Stärke nicht im Glauben an Paragraphen und an die Durchsetzung eines regierungsrätlichen Willens in die hinterste und letzte Schulstube, sondern es baue darauf auf, daß bei sorgfältiger Auslese und guter Ausbildung ein Lehrerstand geschaffen werden könne, der zur richtigen Lösung seiner Bildungsaufgabe keiner obrigkeitlichen Führung bedürfe. Denn die Aufgabe des Lehrers unterscheide sich ja wesentlich vom Beamten darin, daß seine wichtigste Aufgabe die pädagogische sei, also eine weit mehr künstlerische als verwaltungsmäßige Aufgabe. In diesem schöpferischen Bereich wären enge Vorschriften geradezu Gift für das beste und kostbarste Wirken des Lehrers. Ferner erblicke man in der Schweiz in einer möglichst großen persönlichen Freiheit des Lehrers die beste Garantie für die Freiheit des Staatsbürgers schlechthin im „Jahrhundert der Propagandadiktaturen“.

Aus solchen Erwägungen heraus gibt es zum Beispiel an der Züricher Schule keinen „Schulleiter“ oder „Direktor“, sondern bloß einen „Hausvorstand“, der von den Lehrern als Gleicher unter Gleichen gewählt wird. In bezug auf die Schulführung kennt der Lehrer im allgemeinen keine Oberbehörden oder Vorgesetzten. Es gibt nur Aufsichtsbehörden, die darüber wachen, daß sich der Lehrer in seinem Wirken an den gesetzlichen Rahmen hält. Der zitierte Schweizer Schulfachmann vergleicht da* Verhältnis Lehrer—Schulbehörde mit jenem des Arztes zur Spitalsbehörde, das „niemals ein verwaltungsrechtliches Subordinationsverhältnis sein kann, sondern es ist ein Verhältnis zweier verschiedener Kräfte mit verschiedenen Kompetenzen und verschiedenen Aufgabenstellungen zu einem gemeinsamen Ziel.“ Es handelt sich also um ein Verhältnis der Zusammenarbeit und nicht um Über- und Unterordnung. „Dieses Nichtvorhandensein von fachlichen Oberbehörden ist kein Zufall. Das Volk wollte den freien Lehrer und nicht einen an der Leine geführten Unterrichtsbeamten.“

Selbstverständlich können Institutionen eines Landes nicht von ihrem spezifischen historischen Entwicklungspro-. zeß isoliert betrachtet werden, und historisch Gewachsenes läßt sich bekanntlich nicht immer mit gleichem Erfolg auf andere Verhältnisse übertragen. Es ist jedoch paradox, wenn man bei der Neugestaltung des österreichischen Schulwesens im „Kernland der Demokratie“ Bewährtes allzu sehr ignoriert, gleichzeitig aber unter demokratischem Vorzeichen auf Formen autoritärer Epochen beharrt und sie zu konservieren sucht.

Man sollte sich nämlich stärker dessen bewußt sein: Wenn es uns mit der Demokratie in unserem Staate wirklich ernst sein soll, so müssen vor allem die Residuen des Obrigkeitsstaates — verantwortungsbewußte Politiker, Soziologen und Rechtswissenschaftler sind sich darüber einig — endlich überwunden werden. Der Schule käme in diesem Prozeß nicht die unwichtigste Aufgabe zu, für deren Erfüllung sie jedoch zur Stunde ungenügende Voraussetzungen mitbringt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung