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Schwerindustrie und Leichtindustrie

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Die sowjetische Volkswirtschaft leidet an Gleichgewichtsstörungen, einer wirtschaftlichen Krankheitserscheinung, der vorwiegend eine Planwirtschaft unterworfen ist. Zuerst trat die landwirtschaftliche Krise in Erscheinung. Das bedeutet nichts anderes, als daß die Verteilung der Investitionen, Maschinen und Konsumgüter zwischen Industrie und Landwirtschaft nicht richtig gehandhabt worden war. Eiligst versucht nun die Sowjetregierung, durch Urbarmachung von 35 Millionen Hektar jungfräulichen Bodens die Ernährung des Landes in der Zukunft zu sichern. Das bedeutet nicht nur eine Neuverteilung der Kapitalien zwischen Stadt und Land, sondern auch eine Neuverteilung von Menschen. Gerade das aber wurde kaum einige Monate später als Beginn einer Krise empfunden, als nun von neuem der Primat der Schwerindustrie vor der Leichtindustrie verkündet wurde. Es schien beinahe so, als ob ein langer Kampf zwischen der Industrie der Rohstoffe sowie Produktionsmittel und den Produzenten von Konsumgütern zugunsten der ersteren entschieden würde und der unterlegene Gegner jetzt mit massiven Drohungen niedergehalten werden soll.

Die neue Schwenkung der sowjetischen Wirtschaftspolitik hat so viele Aspekte, daß es sich lohnt, rückblickend die Entwicklung noch einmal zu verfolgen. Am 8. August 1953 hielt der damalige Ministerpräsident Georgi Malen-k o w seine heute so oft erwähnte Rede. Diese Rede war nichts anderes als das Regierungsprogramm der nach dem Tode Stalins neu gebildeten Sowjetregierung. In den Monaten seit dem Tode Stalins bis zu dieser Rede wurde jener Instanzenweg durchschritten, der für alles wichtige politische und wirtschaftliche Geschehen im Lande der Sowjets vorgeschrieben ist. Die neu bestellte Regierung, richtiger gesagt das Parteipräsidium, arbeitete dieses Programm aus, das Plenum des Zentralkomitees der Partei trat zusammen und bestätigte es, und dann erhielt Malenkow den Auftrag, nunmehr dieses Programm der Oeffentlichkeit zu verkünden. In dieser Rede kündete Malenkow an, daß von jetzt ab, auf der Grundlage der bereits weit ausgedehnten Schwerindustrie, die. Produktion von Wohnraum und Konsumgütern bedeutend erweitert und verbessert wird. Die zukünftige Aufgabe der Sowjetregierung sah er in einer Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung, in einer Verbesserung der ganzen Lebensatmosphäre des Sowjetbürgers. Dieses Programm der Partei — und keineswegs Malenkows allein — hatte zu diesem Zeitpunkt natürlich seine Hintergründe.

Es war keineswegs etwa eine neue Politik.

Stalin hatte sie bereits 1935 begonnen, durch den Krieg ist sie nur unterbrochen worden. Früher oder später mußte sie wieder fortgesetzt werden. Der Antritt der neuen Regierung ohne Stalin war natürlich der denkbar geeignetste Augenblick dazu. Eine größere Produktion von Konsumgütern brauchte man zu diesem Zeitpunkt auf alle Fälle. Die Konturen der landwirtschaftlichen Krise zeichneten sich schon ab. Der Bauer ist nur dann zu intensiverer und besserer Arbeit zu bewegen, wenn man ihm als Gegenleistung mehr und bessere industrielle Konsumgüter bietet.

Mit keinem Wort sagte aber Malenkow in dieser Rede, daß die Schwerindustrie vernachlässigt werden soll. Obwohl er feststellte, daß die Sowjetunion jetzt eine so breite schwerindustrielle Grundlage habe, daß an einen forcierten Ausbau der leichten Industrie geschritten werden könne, stellte er fest, daß auch in Zukunft das Tempo der weiteren Entwicklung der Schwerindustrie nicht vernachlässigt werden würde.

Desto sensationeller mußte natürlich der Artikel vom 24. Jänner dieses Jahres in der „Prawda“ wirken. Verfasser dieses Artikels war der Chefredakteur der „Prawda“ selbst, Scheptilow. Doch diesen Artikel schrieb nicht der Chefredakteur Scheptilow, sondern das Mitglied des Parteipräsidiums.

Am 25. Jänner 1955 hielt dann der Parteisekretär Nikita Chruschtschew eine Rede vor dem Plenum des Zentralkomitees. Diese Rede wurde dann vollinhaltlich veröffentlicht, mit anderen Worten: ihr Inhalt zum verbändlichen Parteibeschluß erhoben.

Der wichtigste Satz in dieser Rede lautet: „Die Partei betrachtet die Entwicklung der

Schwerindustrie als Hauptaufgabe.“

Und weiter:

„In Weiterentwicklung der Lehren Lenins betonte Stalin, daß es selbstmörderisch wäre, das Entwicklungstempo der Schwerindustrie zu verlangsamen, da dies die gesamte Industrie, auch die Leichtindustrie, untergraben würde. Das Ergebnis wäre, daß unser Land ein bloßes Anhängsel der kapitalistischen Weltwirtschaft würde.“

Wenn auch übersteigert, so sind doch diese Feststellungen für einen rechtgläubigen Kommunisten eine Selbstverständlichkeit. In der Sowjetunion herrscht Mangelwirtschaft. Obwohl die Schwerindustrie gewaltig ausgebaut wurde, reicht noch immer die Produktion an Eisen, Stahl und anderen Rohstoffen nur sehr knapp.

Auch die Maschinenindustrie kann kaum den Bedarf decken. Wenn nun tatsächlich die Industrie an Konsumwaren stürmisch forciert werden soll, dann wird natürlich auch diese Industrie eines Tages in Schwierigkeiten geraten, weil sie keine Maschinen und andere von der Schwerindustrie gelieferten Güter, wie etwa das Weißblech für die Konservenindustrie, in genügendem Ausmaß geliefert bekommen kann. Doch auch die landwirtschaftliche Entwicklung wäre gehemmt, denn heute schon genügt die Produktion landwirtschaftlicher Maschinen und Traktoren nicht, geschweige denn für einen weiteren Ausbau der Landwirtschaft. Genügt jedoch die landwirtschaftliche Produktion nicht, dann tritt nicht nur eine Verknappung der Lebensmittel ein, sondern einer der wichtigsten Zweige der Leichtindustrie überhaupt, die Lebensmittel- und Konservenindustrie wird gefährdet. Das alles berücksichtigt noch nicht die Bedeutung der Schwerindustrie für die Rüstungen. Aber die Schwerindustrie ist auch zu einem außenpolitischen Instrument der Sowjetpolitik geworden. Immer mehr muß die Sowjetunion China mit Maschinen und anderen Produktionsmitteln beliefern. Kann “sie das nicht, so muß China den Bedarf anderweitig zu decken suchen, wodurch das russisch-chinesische Bündnis von der wirtschaftlichen Seite her aufgelockert wird. Darüber hinaus versucht die Sowjetregierung, auf dem Weg über Maschinenlieferungen ihren Einfluß in Asien überhaupt zu festigen. Genügt die Schwerindustrie diesen inneren und äußeren Anforderungen nicht, dann muß eben die Sowjetunion ihren Import verstärken. Das bedeutet aber auch eine Forcierung des Exportes. Die Sowjetunion wäre also dann in die Weltwirtschaft voll eingeschaltet. Vom sowjetischen Standpunkt also eine katastrophale Entwicklung: Die unter so ungeheuren Opfern erkaufte Autarkie der sowjetischen Volkswirtschaft wäre dahin.

Für russische Ohren hat also Chruschtschew eine Binsenwahrheit ausgesprochen. Gegen wen wenden sich also seine folgenden scharfen Worte:

„Jede Abweichung und jede Verbreitung antileninistischer Ansichten ist unter den heutigen Verhältnissen, da die imperialistischen Staaten mit Feuereifer den Krieg vorbereiten, besonders unzulässig.“

Bestimmt sind die Worte Chruschtschews gegen keinen seiner Kollegen im Parteipräsidium gerichtet. Sie wenden sich vielmehr an eine breite Schicht im Lande.

Seit dem Tode Stalins tobt nämlich im Reich eine Art an der Oberfläche unsichtbarer Klassenkampf, ein Kampf gewisser wirtschaftlich interessierter Gruppen gegeneinander, dem das Plenum des ZK ein drastisches Ende zugunsten der Schwerindustrie bereitete.

Aus der seinerzeitigen Rede Malenkows hatte man vor allem die Parole der Förderung der Leichtindustrie herausgehört. Zweifellos eine populäre Parole. Nicht nur darum, weil jedermann jetzt billigere und bessere Waren erwartete. An der Förderung der Leichtindustrie und des Handels begann man viel zu verdienen. Die staatliche Schwerindustrie verkauft wieder an den Staat in Gestalt seiner Linternehmen. Auch in der Schwerindustrie wird natürlich inoffiziell verdient. Man frisiert Statistiken und Rapporte, um größere Prämien zu erhalten. Doch das sind schließlich begrenzte Möglichkeiten. Anders liegen die Verhältnisse in der sowjetischen Leichtindustrie. Die Produktion mündet hier auf dem Umwege über den Handel in den Markt und endet beim privaten Käufer. Bei den sowjetischen Verhältnissen gibt es unzählige Möglichkeiten und Kombinationen, die einen zusätzlichen Gewinn an alle, die am Wege der begehrten Ware stehen, ermöglichen. Angefangen von einer bevorzugten Belieferung gewisser Handelsorganisationen bis zur Bevorzugung des Käufers, gegen entsprechendes Entgelt natürlich, durch das Personal der staatlichen Verkaufsläden. Das macht natürlich das Programm der Förderung der Leichtindustrie noch populärer.

Der sowjetische Apparat, sei es die Hoheitsverwaltung, sei es die Wirtschaft, ist unelastisch. Er kennt nur die Einbahnstraße einer einfachen „Generallinie“. Sehr bald fanden sich zahlreiche volkswirtschaftliche Publizisten und die volkswirtschaftlichen Sachverständigen der wirtschaftlichen Aemter und staatlichen Großunternehmen, die diese gewünschte Richtung theoretisch untermauerten. Sie behaupteten einstimmig und mit Zahlen belegt, daß die schwer-industrielle Grundlage der Sowjetunion nun genügend groß sei und daß jetzt alle wirtschaftlichen Kräfte dem Ausbau der Leichtindustrie zugewendet werden müssen. Das sah nun in der Praxis, an Ort und Stelle, ungefähr folgendermaßen aus: Die Bankfilialen haben nach dem Staatsplan für Kredite eine bestimmte Summe zur Verfügung. In der Verteilung dieser Summe sind sie mehr oder weniger autonom. Jetzt erhielt die Schwerindustrie oft nicht die notwendigen Betriebskredite, oder mit Schwierigkeiten, alles verfügbare Geld erhielt die Leichtindustrie. Dasselbe geschah mit Rohstoffen, Baumaterialien und Zuweisung von

Arbeitskräften.

Diese Zustände waren der Anstoß, daß eine Revision der „Generallinie“, wie sie sich praktisch ergeben hatte, notwendig wurde. Da ja auch die landwirtschaftliche Krise noch nicht behoben ist, wurde eben nach zwei Jahren das Plenum des Zentralkomitees einberufen, um den neu-alten Maßnahmen des Parteipräsidiums und der-beschlossenen Reorganisation der Regierung selbst seine Zustimmung zu rteilen. Der Zeitpunkt wurde gerade jetzt gewählt, weil ja das neue Staatsbudget die größere Förderung der Schwerindustrie widerspiegelt. Von 562,9 Milliarden Ausgaben bei 589,6 Milliarden Einnahmen und 335,5 Milliarden Kapitalinvestierungen für dieses Jahr erhält die Schwerindustrie 190 Milliarden Rubel, davon 111,* Milliarden vom Staate, während den Rest sie selbst für die eigene Erweiterung aufzubringen hat. Der einberufene Oberste Sowjet hatte das Budget sowie die Veränderung auf dem Posten des Ministerpräsidenten einfach zu bestätigen.

Parteisekretär Chruschtschew streifte nur die außenpolitischen Aspekte der neuen Förderung der Schwerindustrie. Für den publizistischen und diplomatischen Gebrauch gab die Session des Obersten Sowjet, der ja öffentlich tagt, die Arena ab. Hier wurde bekannt, daß im Budget für die Verteidigung 112,1 Milliarden Rubel vorgesehen sind, also 11,8 Milliarden mehr als im vorigen Jahr. 1954 wurden für die Verteidigung 17,8 Prozent, dieses Jahr 19,9 des Budgets ausgeworfen. Bei Licht besehen, keine sensationelle Erhöhung des Budgets für Verteidigungszwecke. Das ist wohl eine starke Geste, jedoch nicht viel mehr. Die sowjetische Antwort auf die westliche Parole der Politik der Stärke, um in der diplomatischen Atmosphäre ein neues Gleichgewicht zu schaffen.

Viel neugieriger darf man darauf sein, ob die neue Parole des gleichzeitigen Ausbaues der Schwerindustrie und Leichtindustrie verwirklicht werden kann, oder ob jetzt wieder ein drastisches Abgleiten des Lebensstandards in der Sowjetunion kommen wird.

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