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Der Staatsbesuch des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Heinrich Lübke, in Wien in diesem März 1962 ist der erste Staatsbesuch eines deutschen Oberhauptes in Österreich seit dem Besuch Wilhelms II. anläßlich des Regierungsjubiläums des Kaisers Franz Joseph im Jahre 1908. Es sei denn, man wolle den ,,Besuch“ des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler am 12. März 1938 in Wien in diesem Sinne qualifizieren. Hitler hatte am Vortag mit Keitel den Einmarsch-befehl unterzeichnet. Dieser schloß mit den Worten: „Sollte aber Widerstand geleistet werden, dann ist dieser mit größter Rücksichtslosigkeit zu brechen.“

Die Erscheinung des ExÖsterreichers Adolf Hitler, sein Vorspiel und seine Folgen mögen uns heute auf diese harte Tatsache aufmerksam machen: Es waren in diesem zwanzigsten Jahrhundert und in den Jahrzehnten zuvor oft Österreicher und Männer aus Österreich, die so schier unendlich viel zur Verunklärung der deutschösterreichischen Beziehungen beigetragen haben. Der Staatsbesuch des Oberhauptes der Bundesrepublik Deutschland in diesem März 1962 soll uns Anlaß zur Gewissenserforschung sein.

Nicht also ist hier zu sprechen von den Spekulationen alldeutscher Professoren und ihrer“ Schüler in der Politik und Armee, die nach 1870 und schon zuvor die Donaumonarchie als eine ansehnliche Beute ansahen. Nicht sollen hier heute die Überlegungen deutscher Militärkreise kurz vor und dann im ersten Weltkrieg erwogen werden, die meinten: Wenn das Deutsche Reich auch vielleicht den Krieg verlöre, aus den reichen Restbeständen des auf jeden Fall zerfallenden Zwölfvölkerstaates stehe Deutschland ein ansehnliches Erbe zu, das Verluste an anderen Grenzen wohl aufzuwiegen vermöge.

Der „Anschluß“ ist, sosehr er von wirtschaftlichen, militärischen und politischen Gruppen und Kreisen in Deutschland zeitweise befürwortet und ins Auge gefaßt wurde, ein sehr österreichisches Produkt der Geschichte. Genauer: ein deutsch-österreichisches Produkt jener Österreicher, die ihre eigene Vergangenheit und Gegenwart nicht verstanden und in eine imaginäre Zukunft flüchteten. Nicht an der Elbe und nicht am Rhein, nicht an der Oder und nicht an der Weser, auch nicht an der Isar, wo man mit kräftig bajuwarischem Ressentiment und Argwohn nach „Wien“ sah, ist dieser schlechte Wein als Rauschgetränk gewachsen. Wohl aber an der Donau, an der lange vor Hitler Lanz von Liebenfels die erste Hakenkreuzfahne hißte und seine Traktate herausgab, die den kommenden Sieg der ger-

manischen Herrenrasse verkündeten und die von dem Jungmaler, der 1907 nicht in die Akademie der schönen Künste aufgenommen wurde, gierig im Männerheim verschlungen wurden: von Adolf Hitler.

Es ist heute dringend notwendig geworden, die österreichische Seite des Anschlußkomplexes zu beleuchten, da dieser nicht nur ein historisches Problem, sondern eine Realität von Gegenwartsbedeutung ist. Österreich befindet sich hier, in <der Vernachlässigung der Erhellung seiner jüngeren Vergangenheit, in einer viel prekäreren Situation als die Bundesrepublik Deutschland. Dort, jenseits der Salzach, wurden in den letzten Jahren große, teilweise außerordentliche Anstrengungen unternommen, um die nahe und unbewältigte Vergangenheit zu erhellen. Vorbildlich und nicht übersehbar stellten sich dabei die Präsidenten der Bundesrepublik an die Spitze der „Aufklärer“: zuerst Theodor Heuss, dann Heinrich Lübke. Sie, und ihnen folgend, einige Politiker der Regierungsparteien und der Opposition, verstanden es, einen glaubwürdigen Patriotismus gerade dadurch zu bezeugen und einzuwurzeln in jüngeren Generationen, daß sie sich nicht scheuten, harte Tatsachen und unangenehme Wahrheiten der nahen und nächsten Vergangenheit als Gegenwartsfragen offen anzusprechen. Es sei hier hur an einige große Reden des deutschen Staatsoberhauptes etwa anläßlich der „Woche der Brüderlichkeit“ erinnert, in denen an nationalistische Überheblichkeit, Antisemitismus, Dünkel, falsche Einbildungen und Illusionen deutscher Volksgenossen und Bundesbürger mahnend erinnert wurde.

Nun, es ist nicht zu befürchten, daß eine solche Volksaufklärung und Volkserziehung von der Spitze an bei uns in naher Zukunft Schule machen werde. Der bevorstehende Wahlkampf wirft sichtlich seine Schatten voraus: In der Obhut dieser Schatten werden sich unsere Politiker hüten, die Tabus und heißen Eisen, die mit den deutsch-österreichischen Beziehungen zusammenhängen, ja feurig kleben, zu berühren. Die Anwesenheit einer so außerordentlich redlichen und nüchternen Persönlichkeit, wie der des Präsidenten Lübke, in Wien, dieser erste Besuch eines deutschen Staatsoberhauptes in Österreich nach mehr als einem halben Jahrhundert, sollte uns, freie unabhängige Menschen in Österreich, verpflichten, ihm und uns die Ehre zu erweisen: aufrichtig zu uns selbst zu sein. Das ist ja die Grundlage gesunder Beziehungen zwischen Mensch und Mensch, Mann und Frau, Volk und Volk, Staat und Staat. Tragik und bisweilen Tragikomödie im weltgeschichtlichen Rahmen und Raum unserer Zeit: überfordert, überanstrengt, überreizt, im Tempo der technisch-industriellen Entwicklung überfahren, scheinen es manche Politiker und Staatsführer in allen Kontinenten nicht zu wagen, dies Risiko einzugehen — und zunächst einmal schlicht und schlechthin gegen sich selbst aufrichtig zu sein. Sie übersehen dergestalt, daß nur der Mensch und das Volk ihrer wahren Kräfte und ihrer gesunden Stärke bewußt werden, die es als einzelne und als Volk in ihrer Führung wagen, eigene Schwächen ruhig ins Auge zu fassen.

Sprechen wir also ruhig von dieser großen uneingestandenen Schwäche vieler Österreicher, die uns heute im Inneren und Äußeren (nicht zuletzt im Südtirolkonflikt!) so unbeweglich, so provinziell macht: Seit Generationen sehen viele Österreicher Deutschland durch einen Nebel von Wunsch-

träumen und (oder) Ängsten; sie sehei faktisch — und das hat Bismarck seh genau durchschaut, als er den schwärm geistigen deutschnationalen Studentei aus Österreich entgegentrat und sii heimschickte — nur „ihr Deutschland“ wobei es da primär wenig ausmachte ob sie in Wunschträumen von 1848 von 1880, von 1918 oder 1938 befangen waren. Diese „Deutsch-Öster reicher“ hatten längst einen Eiserner Vorhang in sich selbst herabgelasser und sich gegen die Tschechen in Wien gegen die anderen Völker und Nationalitäten der Donaumonarchie abgeschirmt. Sie sahen zu „ihrem“ Deutschland hinauf wie zu einer Walhalla, und sahen auf „ihr“ Österreicf hinab.

Wer heute, so ein wenig unter die Haut, die Deutschlandbilder und die Österreichbilder gerade von relativ gebildeten Einwohnern unserer schönen Länder erfühlt, kann die erstaunliche und nicht genug bedenkenswerte Beobachtung machen: die hohe Kontinuität, die so viele Strukturen in Österreich auszeichnet und gelegentlich abzeichnet, tritt hier besonders zutage. Quer durch alle politischen, parteipolitischen und weltanschaulichen Formierungen hindurch haben sich Österreicher ein Deutschlandbild erhalten, das der Wirklichkeit' der Deutschen, der Realität der Bundesrepublik Deutschland, md' ihres Pankower Gegenspielers (von diesem letzteren ganz zu schweigen) in keiner Weise recht entspricht. Dies gilt nicht nur in bezug auf die völlige Unkenntnis, die in Österreich etwa bezüglich geistiger und geistespolitischer Ausein-

andersetzungen in der Bundesrepublik weithin herrscht. Nicht einmal die Namen recht bedeutender deutscher Autoren, Schriftsteller, politischer Köpfe und Publizisten sind hier bekannt oder geläufig. Für nicht wenige Österreicher hört die deutsche Literatur bei Gerhart Hauptmann und Josef Weinheber auf. Dasselbe gilt analog für innerdeutsche politische, nicht zuletzt wirtschaftspolitische Verhältnisse. So hat sich gerade erst in den allerletzten Jahren über inen Opernball und einige Visiten herumgesprochen, daß die Bundesrepublik Deutschland wirtschaftspolitisch, wie kulturell und geistig, durchaus nicht linear, monolithisch, als ein Einmannsystem zu verstehen ist, möge man nun diesen einen Mann mit der Chiffre „Adenauer“, „Hallstein“ oder „Franz Joseph Strauß“ abstempeln.

Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland, ist heute ein Raum voller Möglichkeiten und Leistungen; ein Raum, in dem hart gearbeitet und gestritten wird; ein Raum, in dem sehr vielfarbig gedacht, geplant, gebaut, geschrieben wird. Dieses Deutschland kennen sehr wenige Österreicher. Und wenn Österreicher heute Deutschland besuchen, suchen sie, unbewußt und fast ungewollt, sehr oft nur „ihr“ Deutschland. Sehen die einen rosig, rosenrot und kornblumenblau Deutschland in einem Frühling des Wirtschaftswunders, nationaler Geltung und internationalen Prestiges neu wiedererwachen, so sehen andere Österreicher ihr Deutschland als eine Armee rücksichtsloser, sich durchboxender Wirtschaftskapitäne, voll von kaum verhüllter Aggressivität und randvoll von unbewältigter Vergangenheit.

Eben hier könnte eine Achse gesunder Beziehungen gefunden werden: Deutschland und Österreich leiden beide an den Folgen unbewältigter Vergangenheit, in einer Gegenwartssituation, in der viele große und schwere Fragen bewältigt werden sollen. Beide Völker; beide Staaten können ihre Vergangenheit nur in Richtung Zukunft überholen: in weitschauender', kühner, wagemutiger Mitarbeit überall dort in dieser Welt, wo unsere Mitarbeit möglich ist. Vor nicht langer Zeit waren die deutschen Revuen und Zeitungen voll mit Bildern, die den Bundespräsidenten Lübke mit Gemahlin und die deutsche Regierungsdelegation in Afrika zdgten: tanzend (mit sehr schönen und sehr eleganten Frauen afrikanischer Staatsoberhäupter und Politiker), sprechend, immer in offener Begegnung. Bonn weiß heute, daß es für Berlin sich nur dann positiv einsetzen kann, wenn es sich selbst glaubwürdig präsentiert, nicht zuletzt in Afrika: als ein offe-

nes, kontaktwilliges, humanitäres, demokratisches Deutschland. Als ein Deutschland, das den anderen anhört, geduldig, gesprächsbereit, und als ein Deutschland, das den anderen als Partner versteht und akzeptiert. Ein anderes Deutschland, das brutal den „Kleineren“, den Schwächeren niederschreit und niederschlägt, hat in Berchtesgaden am 20. Februar 1938 der ExÖsterreicher Adolf Hitler dem Bundeikanzler Schuschnigg, der ich als Repräsentant des „zweite^ deutschen Staates“ verstehen wollt, präsentiert.

Genug der Wirrungen und Verwirrungen. Es fehlt heute oft nicht in der Bundesrepublik Deutschland an Deutschen, die befähigt und gewillt sind, ihre Interessen und die Interessen ihrer Regierung zäh, hart, umsichtig und entschlossen zu vertreten und gleichzeitig Rücksicht zu nehmen auf Partner, die es ihrerseits verstehen, in Verhandlungen ihre Interessen zäh, hart, umsichtig und entschlossen zu vertreten. Wohl aber fehlt es uns in Österreich, bei viel und gern zur Schau getragener Kraftmeierei, an Persönlichkeiten dieses Schlages, die, ohne falsche Österreicherei und ohne Deutschtümelei, diesen Deutschen und diesem energischen, dynamischen und erfolgsstrebenden Deutschland von heute und morgen selbstsichere Partner sind. Die Persönlichkeit des Bundespräsidenten Lübke könnte und sollte gerade auch in diesem Sinne bei uns anziehend wirken. Voll gesunder Selbstsicherheit, lädt sie uns Österreicher ein, ihr in derselben Haltung zu begegnen. Unbefangen, mit Recht, kommt das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland in diesem März zu uns, vierundzwanzig Jahre nach dem März Hitlers und vierund-fünfzig Jahre nach dem Besuch Wilf heims II. Gesunde deutsch-österreichi^ sehe Beziehungen haben sich in den Jahren nach dem Abschluß des Staats-vertraees und dem Ringen um das deutsche Eigentum in Österreich entwickelt. Es wird auf uns Österreicher ankommen, diese Beziehungen zu intensivieren und in ihren reichen positiven Möglichkeiten auszufalten, gerade in den schwierigen Auseinandersetzungen, die in bezug auf Österreichs Verbindungen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bevorstehen. In einem wirklich föderativen Europa, das d'e freie Assoziation, die Partnerschaft ernst nimmt, können die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich sich in vielfältiger Zusammenarbeit finden.

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