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„Selbstmord“ des heiligen Löwen

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Hätte der berühmte Le Corbusier außer der Musterstadt Chandigarh auch gleich für den hinduistischen Haryana-Staat eine Metropole gebaut, so gäbe es einen Grund weniger für die Separationsbestrebungen der indischen Sikhs. Doch was der französische Architekt vor rund einem Jahrzehnt nicht wissen konnte, will die von den meisten politischen Kommentatoren durchwegs als „säkularistisch“ apostrophierte indische Zentralregierung bis heute nicht wahrhaben: daß die Sikhs im Kampf um den Besitz einer Hauptstadt für sich allein vor radikalen und spektakulären Maßnahmen nicht zurückschrecken, wie es eine Selbstverbrennung trotz der allgemeinen und erschreckenden „Inflation“ dieser Selbstmordart immer noch darstellt. Dreimal bereits zurückgeschreckt ist allerdings der Mann, dem der unbarmherzige Ehrenkodex der Sikhs die letzte Chance einer Rehabilitation gewährt; allerdings eine recht fragwürdige Chance, da dem Chairman der religiösen Sikh-Partei, Sharomani Alkali Dal, nur die Wahl zwischen leiblichem und politisch-religiösem Tod bleibt. Der mit seinen 130 Kilogramm Lebendgewicht für einen Hungerstreik nicht unprädesti-nierte Fateh Singh ließ sich bereits vor neun Jahren durch eine vage und dann auch nicht eingehaltene Versprechung Jawarhalal Nehrus aus einer für 23 Tage anberaumten Fastenkur „erlösen“. 1965 enttäuschte er seine Anhänger, indem

er die angekündigte Nahrungsabstinenz einem ausgemergelten Sikh-Bauern überließ und sich wegen seiner Herzbeschwerden um die Hungerkur drückte. Allerdings waren damals die Augen der Weltöffentlichkeit auf die kurze Panzerschlacht zwischen indischen und pakistanischen Truppen gerichtet, die in rund 25 Kilometer Entfernung von dem goldenen Tempel Amritsars tobte. Den Kaschmirkonflikt konnten die militanten Sikhs, die nahezu ein Drittel der Streitkräfte Indiens stellen und vor allem im Offlziers-corps übermäßig stark vertreten sind — von zirka 550 Millionen Indern stellen sie, die „Schüler“, nur etwa 10 Millionen —, infolge besonderer „Tapferkeit vor dem Feind“ zur Erringung unbestimmter Autonomiezusagen nutzen. Indira Gandhi fühlte sich an das noch von Shastri gegebene Versprechen gebunden und teilte 1966 Haryana vom Pandschab, vergaß aber, der unionsstaatlichen Spätgeburt eine eigene Hauptstadt zu geben; so hungerte Fateh Singh im nächsten Jahr wieder einmal und kündigte seine Selbstverbrennung an. Mit der Erklärung, von Indira Gandhi schriftliche Zugeständnisse erhalten zu haben, pausierte der heilige Mann gerade noch rechtzeitig, bereits ins gelbe Totenhemd gekleidet und angesichts der gierigen Flammen des Scheiterhaufens.

Das Leben hatte er gewonnen, aber die Glaubwürdigkeit verloren; wieder sprang ein Glaubensgenosse in die Bresche und fastete sich durch 74 Tage in den Märtyrerruf und in den Tod. Doch Fateh Singhs wiederholt gebrochenes Wort belastet noch immer die Ehre der Sikhs. Den von seinen Anhängern als günstig angesehenen 500. Geburtstag des Religionsgründers Guru Nanak ließ er ungenützt verstreichen, als dann aber Strohpuppen mit seinem Namen verbrannt wurden, rettete er den Rest seines Prestiges mit der Verlautbarung einer viertägigen Fastenkur mit anschließender Selbstverbrennung.

Auftakt in London

Quasi als Einleitung einer neuen Publizitätskämpagne für einen eigenen Staat der Sikhs verweigerte in London der 62jährige britische Sikh-Chef Sardar Puran Singh acht Tage lang die Aufnahme fester Nahrung, woraufhin er, arg geschwächt, einen Demonstrationszug vom Trafalgar Square zur Indian High Commission im Rücksitz eines Rolls-Royce anführte. Unter anderem wiesen die Manifestanten, die sich laut ihrem Pamphlet von der indischen Zentralregierung kulturell, sozial und wirtschaftlich unterdrückt und von den Briten, für die immerhin 82.000 Sikh-Krieger in den beiden Weltkriegen fielen, Im Stich gelassen fühlen, darauf hin, daß sie von „einer brutalen Hindumajorität mit der Ausrottung bedroht werden“. Doch auch London ist mit der Zeit demonstrationsgewöhnt. Den größten Widerhall fand das Ereignis in Pakistan, wo die meisten Blätter groß über alles berichten, was den indischen Rivalen unangenehm ist. Und da aus Bengalen wieder Truppenkonzentrationen der Union im umstrittenen Grenzgebiet des Punarbhaba-Flusses gemeldet werden, sieht man vom muselmanischen Nachbarstaat mit Schadenfreude nach Amritsar herüber, wo sich Fateh Singh notgedrungen die Weichen gestellt hat: entläuft er wieder im letzten Moment dem Scheiterhaufen, so ist seine Führerrolle wohl endgültig ausgespielt, gewährt In-

dira Gandhi im letzten Moment wieder Zusagen, so hat schon der Hindufanatiker Krishan Kumar Toofan seinen Flammentod angedroht;

In Anbetracht dieser Situation steht nicht zu erwarten, daß die derzeit ohnehin von einer Menge anderer Sorgen geplagte Ministerpräsidentin zu ernsthaften Konzessionen bereit sein wird. Ihr verzweifeltes Ringen innerhalb der seit November 1969 gespaltenen Kongreßpartei drängt das Fasten Singhs an Mahatma Gandhis Todestag vorläufig in ein innenpolitisches Schattendasein, aus dem allerdings die Flammen des Scheiterhaufens zur Initialzündung für Separationsbestrebungen — nicht nur der Sikhs — im Gebiet der vom Autonomiefleber geschüttelten Indischen Union werden können, wenn Fateh Singh nicht den Tod seines Prestiges dem Ende seines fülligen Leibes vorzieht.

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