6749504-1967_21_16.jpg
Digital In Arbeit

Sieben Gerechte

Werbung
Werbung
Werbung

MENSCHEN STÜRZEN IN BRENNENDE HÄUSER, um anderen zu helfen. Menschen springen ins Wasser, um andere herauszuziehen, wagen sich aufs dünne Eis, um eingebrochene Kinder zu retten, verbringen ihre Freizeit im Dienst des Roten Kreuzes oder der Bergrettung, täglich und stündlich riskieren Menschen ihr Leben, um das Leben anderer zu erhalten. Man bewundert und ehrt die Retter, und die Zeitungen singen mit Recht Loblieder auf ihren Mut.

Die sieben Lebensretter, von denen hier die Rede sein soll, waren nicht in Gefahr, zu verbrennen oder zu ertrinken. Ihr Risiko war absurder. Es bestand darin, dafür, daß sie andere vor dem Tod bewahrt hatten, selbst an die Wand gestellt oder aufgehängt zu werden. Vor wenigen Tagen wurden sie mit einer der exklusivsten Auszeichnungen der Welt geehrt, mit Plakette und Ehrenurkunde der Institution „Jad Wäschern“ in Israel, gestiftet für Menschen, die vom NS-Terror verfolgten Juden geholfen haben.

Was sie taten, war gefährlicher als in ein brennendes Haus zu stürzen oder ins Wasser zu springen. Jeder von ihnen steht für andere, deren Namen niemand kennt, denn es gab viele Menschen, für die Menschlichkeit selbstverständlich blieb, während rundum die Bestialität als Norm proklamiert wurde. Einer von ihnen mußte für seine Menschlichkeit mit dem Leben bezahlen, auch er steht für viele, die dieses Schicksal erlitten. Hier die Namen der sieben:

Danuta und Dr. Ewald Kleisinger,

Julius Madritsch,

Julius Natali, >

Johannes Pscheidt,

Anton Schmid t,

Raimund Titsch.

IM MAI 1942 NÄHERTEN SICH ZWEI WEHRMACHTSFAHR-

ZEUGE, jedes mit einem Offizier und einem Fahrer besetzt, der Ortschaft Wlodzimierz. Sie hielten an, und der eine Offizier sagte zum anderen: „Herr Kleisinger, wir kommen jetzt durch einen Ort, wo Sie noch Juden sehen werden.“

Doch sie sahen keine Juden, sondern menschenleere Straßen, eingetretene Türen, eingeschlagene Fenster und zwei Mann von der Feldgendarmerie, denen sie die Frage stellten: „Sagt mal, wo sind die Juden?“ Die hatten sie abtransportiert. „Wie viele waren es denn?“ So an die 20.000, davon 4000 noch in den Wäldern, den Rest hatten sie bereits liquidiert. Jeweils fünf hatten sich zusammen ein Grab schaufeln müssen. „Und wie konntet ihr das machen?“ Sie hatten vorher natürlich getrunken.

Der eine der beiden Offiziere, Dr. Ewald Kleisinger, erinnert sich heute noch an jedes Wort, das damals gesprochen wurde. Es war das erste Mal, daß er mit Dingen, von denen er vorher immer nur reden gehört hatte, direkt in Berührung gekommen war. Benommen fuhren sie weiter, er und der Fahrer. Allein ging er in sein Quartier: „Ich scheue mich nicht, es zu sagen, daß ich damals einen Weinkrampf bekommen habe.“

Ein Jahr später wird Dr. Kleisinger in Warschau bei einer polnischen Familie einquartiert. Im Warschauer Ghetto ist zu dieser Zeit die Not schon sehr groß. Kinder werden durch die Kanäle herausgeschmuggelt und bei polnischen Familien versteckt. Auch Danuta, die Tochter der polnischen Familie, bei der Dr. Kleisinger wohnt, hat vier gute Bekannte im Ghetto. Bin bestochener deutscher Posten ermöglicht es ihr, sie zu besuchen. Die Flucht wird vorbereitet. Falsche Papiere liegen bereit. Nur die Unterbringung ist ein Problem.

Danuta eröffnet dem deutschen Offizier, dessen Einstellung sie bereits kennt, daß sein Zimmer für eine jüdische Familie benötigt wird. Der deutsche Offizier erschrickt: „Um Gottes willen, sind Sie sich nicht bewußt, daß hier Standrecht herrscht?“ Sie ist sich dessen bewußt. Auch der Offizier weiß, was ihm droht, wenn sie auffliegen. Er stellt sein Zimmer zur Verfügung. Er hilft, die Fremden in der Wohnung zu täuschen, in Warschau herrscht Wohnraumknappheit, und jeder, der eine größere Wohnung besitzt, muß zwangsweise einen Haufen Fremde aufnehmen.

Später gehen die vier Juden mit gefälschten Papieren als „ukrainische Fremdarbeiter“ nach Wien, wo ihnen die Eltern des deutschen Offiziers Unterschlupf gewähren.

Die vier Juden leben. Die Polin Danuta und der deutsche Offizier Dr. Ewald Kleisinger aber wurden Mann und Frau...

ALS DIE „ARBEITSUNFÄHIGEN“ JUDEN VON KRAKAU abtransportiert wurden, standen unter den SS- und Polizeiposten, welche die Tore des Ghettos abriegelten, zwei Zivilisten aus Wien, die sich nicht anmerken ließen, was sie empfanden. Hunderte der „Ausgesiedelten“ wurden erschossen. Auch auf dem Weg zum Bahnhof fielen Schüsse. Hinter den Kolonnen der zum Tod in den Gaskammern verurteilten Menschen fuhren zwei Lastwagen: einer mit Sand, der auf die Blutspuren geworfen wurde, einer für die Leichen.

Die beiden Zivilisten waren Julius Madritsch, der als privater Unternehmer mit tausenden von der SS zur Verfügung gestellten jüdischen Arbeitskräften Hemden für die Wehrmacht produzierte, und Raimund Titsch, sein engster Mitarbeiter. Die Hemdenfabrik hatte nur eine wirkliche Aufgabe: möglichst viele Juden zu beschäftigen und dadurch am Leben zu erhalten, denn ein Arbeitsplatz bedeutete für die Menschen im Ghetto das Leben.

Bei Julius Madritsch wurden jüdische Ärzte, Anwälte und Ingenieure als „Schneidereifachpersonal“ geführt, auch wenn sie mit der Nähmaschine überhaupt nicht umgehen konnten. Zeitweise arbeiteten mehrere tausend Juden für Madritsch. Natürlich verlangte die SS für jeden von ihnen Bezahlung. Trotzdem hat so mancher deutsche Großkonzern an den ausgemergelten jüdischen Arbeitssklaven Millionen verdient. Madritsch verwendete seine Überschüsse, um eine Mehrheit „unproduktiver“ Schützlinge durchzufüttern, um auf dem Schwarzen Markt Lebensmittel einzukaufen und um die kleinen und großen NS-Gewaltigen, von deren Gunst der Fortbestand des Refu-giums abhing, geneigt zu stimmen.

Madritsch und Titsch forderten Juden, die für die Gaskammer vorgesehen waren, als Arbeitskräfte an. Sie schmuggelten, als ihre Leute vom Ghetto in das Konzentrationslager übersiedeln mußten, Lebensmittel und Kleidung dorthin. Sie halfen zahlreichen Menschen, „unterzutauchen“. Sie schwindelten bei Zählungen und bestachen Posten. Und als sie Wind von der „Kinderaktion“ bekamen, vom Plan, die Kinder aller von der Ermordung vorläufig zurückgestellten, weil noch als Zwangsarbeiter verwendbaren Krakauer Juden, sofort auszurotten, betäubte der fast vergessene Wiener Polizeiwachtmeister Oswald Bosko jüdische Kinder und trug sie im Rucksack selbst aus dem Ghetto. Eines dieser „Kinder“ arbeitet heute als Psychologin an der Universität von Tel Aviv. Bosko wurde entdeckt und erschossen.

EIN ISRAELISCHER PASS, ausgestellt auf den Namen Adam Herstein. Der Paß ist echt, doch der Name ist falsch. Ein Mann namens Julius Natali ist mit diesem Paß nach abenteuerlichen Irrfahrten in seine Heimat zurückgekehrt, und seine Mitteilung, er komme zwar als Adam Herstein, heiße aber Julius Natali, stürzte die österreichischen Behörden in solche Verwirrung, daß sie ihn wegen „Irreführung der Behörden“ anklagten. Dabei war die Sache ganz einfach...

Julius Natali, ein Enkel des bekannten Wiener Kupferstechers Johann Neidl, lebte bereits seit seinem dritten Lebensjahr in Preßburg und war längst kein junger Mann mehr, als der NS-Terror begann. Man hat nicht den Eindruck, daß er auch nur eine Sekunde überlegen mußte, was zu tun war. Als die „selektiven“ Deportationen begannen, stellte er sofort zwei Juden in seiner Druckerei ein. Nach einem unangenehmen Besuch der Hitlerjugend („Sie haben hier Juden!“ — „Natürlich, aber das geht Sie nix an!“), läßt er seine beiden Angestellten zwischen den Papierballen schlafen. Eines Abends beschließen sie, doch wieder einmal heimzugehen, und kommen nicht wieder. Natali nimmt einen jüdischen Mitarbeiter, einen Medizinstudenten, der ihn um Hilfe gebeten hat, auf. Julius Natali ist ein Mann, dem man ansieht, daß es bei ihm nicht nötig ist, eine solche Bitte zweimal auszusprechen. Er ist der Typ Mensch, der in Notzeiten die Verfolgten um sich sammelt und wahrscheinlich selber nicht weiß, woher sie plötzlich alle kommen.

Jedenfalls ist er auf einmal für 17 Menschen verantwortlich, die sich unter, dem Boden eines Einfamilienhauses in der Vorstadt ein Versteck gegraben haben. Er versorgt sie mit Lebensmitteln, schmuggelt einen Rabbiner nachts, zu Fuß, in einem fast 18 Kilometer langen Marsch an den deutschen Posten vorbei zu den anderen in das Versteck. Er läuft tagelang in Preßburg herum, um die Tochter eines der Versteckten zu suchen.

Julius Natali kann aber einfach nicht alle verstecken, die sonst noch zu ihm kommen. Aber er kann etwas anderes für sie tun. Er ist schließlich Drucker. So beginnt er, in seiner Druckerei, die bereits wegen der Herstellung eines ülegalen Flugblattes ein Jahr strafweise gesperrt war und möglicherweise von den NS-Behörden beobachtet wird, falsche Papiere herzustellen. Hunderte Juden werden hier mit „arischen Papieren“ ausgestattet.

Natali gießt sich die Lettern, die er für NS-Ausweise braucht. Er druckt falsche Taufscheine aus Gemeinden, deren Matriken abgebrannt sind und wo keine Nachprüfungen möglich sind. Vor allem aber stellt er südamerikanische Pässe her. In wochenlanger Arbeit produziert er das Papier mit Wasserzeichen und Unterdruck, färbt das Leinen für den Einband, kopiert die Stempel, erzeugt Klischees. Niemand weiß, wie viele Menschen mit Natali-Pässen in die Freiheit fuhren, er hat jedenfalls hunderte gedruckt, und sie waren so gut, daß selbst die Behörden der Staaten, deren Namen auf dem Deckel stand, die Fälschungen nur auf Grund der Seriennummern erkannten. Zu diesem Zeitpunkt waren die Inhaber allerdings längst in Sicherheit. Oft kamen wildfremde, verzweifelte Menschen zu Natali. Sie hatten seinen Namen irgendwo gehört. Und sie bekamen ihre Papiere.

1949 floh Natali selbst aus der CSR. Juden überließen ihm jüdische Papiere, denn Juden durften nach Israel ausreisen. Natali wollte in Wien „abspringen“, doch der Transport fuhr eine unvorhergesehene Route über Ungarn uiid Rumänien. So mußte Julius Natali, der eigentlich nach Wien wollte, nach Israel mitfahren, wo er sechs Jahre geblieben ist, als Julius Natali für seine Freunde, aber als Adam Herstein für die Behörden.

DIE GERECHTEN WUSSTEN NICHTS VONEINANDER. Doch zwischen ihren Schicksalen besteht eine — allerdings keineswegs geheimnisvolle — Harmonie: sie sind Menschen, die sich in ähnlichen Situationen ähnlich verhielten. Anders als die Mehrheit, die tatenlos zur Kenntnis nahm, was geschah.

Auch Johannes Pscheidt konnte das nicht. Als Treuhänder für jüdische Unternehmen kam er 1941 nach Polen, wo er sofort aus eigenem Antrieb Kontakt mit Juden aufnahm, um möglichst viele von ihnen in seinen Betrieben vor der Überstellung in die Konzentrationslager zu bewahren.

Als Ende 1943 das Ghetto von Zaglembia umzingelt und liquidiert wurde, stellte sich Pscheidt an das Tor der von ihm verwalteten Fabrik und ließ alle, die entkommen waren, ein. Er versorgte sie mit Kleidern, Proviant und falschen Papieren und stellte für sie den Kontakt zur polnischen Untergrundbewegung her. Viele schickte er nach Wien, wo ihnen seine Schwester Unterschlupf in ihrer Wohnung bot. Mehr als 80 Menschen verdanken Johannes Pscheidt ihr Leben.

FÜR EINEN DER SIEBEN GERECHTEN konnte nur noch die Witwe die Auszeichnung in Empfang nehmen. Über ihn, Anton Schmid, den bewußten Christen, der als deutscher Feldwebel in das Ghetto von Wilna ging und in seiner Stellung als Leiter der Wehrmachtversprengtensammelstelle zweihundert, wenn nicht dreihundert Menschen das Leben gerettet hat, ist schon mehrfach berichtet worden. Verhaftet, verurteilt, hingerichtet am 13. April 1942 in Wilna — das war sein Ende. In einer Zeit, in der so viele Menschen sinnlos hingeopfert wurden, wußte er genau, wofür er starb: „Ich habe ja nur Menschen gerettet ...“, schrieb er in seinem Abschiedsbrief.

Wir haben ein paar Worte mit seiner Witwe gewechselt. Sie führt ein Geschäft. „Mein Gott“, hat sie gesagt, „so viele Leute kommen jetzt, jeder gibt ein Urteil ab, manche ein positives, manche ein negatives...“

Ein negatives Urteil über einen solchen Menschen — ja, auch das gibt es, das gibt es wieder. Es wäre eine tragische Illusion, zu glauben, daß das, was diese Gerechten getan haben, wenigstens heute ausschließlich Bewunderer findet. Natürlich, das offizielle Österreich beruft sich auf sie, wenn es ein Alibi braucht, wer künftig Österreich vorhält, es tue zu wenig gegen antisemitische Tendenzen, wird auf die sieben Gerechten hingewiesen werden. '

Doch die Medaillen mit der Inschrift „Wer ein einziges Menschenleben rettet, rettet eine ganze Welt“ kamen nicht aus Österreich, sondern aus Israel. Wir haben uns genau erkundigt. Nur einer der sieben Gerechten, Kommerzialrat Julius Madritsch, besitzt ein österreichisches Ehrenzeichen. Es wurde ihm als Innungsmeister und nicht als Gerechtem und Retter verliehen...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung