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Silberkuppel und Uhrenschlag

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VOR SIEBZIG JAHREN empfing eine Sonder- vereinigung des Niederösterreichischen Gewerbevereines, zumeist aus jüngeren Fabrikanten und Gewerbetreibenden der westlichen Wiener Bezirke bestehend und den Namen „Reformverein“ tragend, die Anregung, eine „Urania" ins Leben ru rufen. Am 16. April 1897 wurde das „Syndikat Urania" gegründet, und damit trat ein Name in das Volksbildungsleben der Stadt, der seither nicht mehr wegzudenken ist. Vor siebzig Jahren freilich, als man mit einem „Ausstattungsvor- trag“, betitelt „Ein Ausflug nach dem Monde“ im Deutschen Volkstheatcr vor die Oeffentlich- keit trat, lag — symbolisch dem Titel des Vortragei entsprechend — ein eigenes Gebäude für den neuen Bildungskreis wirklich im Monde. Im Kai erjubiläumsjahr 1898 behalf man sich mit einem provisorischen Uraniagebäude auf dem Gelände der Ausstellung. Was gab es damals zu sehen und zu hören? Nun — dem Wesen nach — waren die Motive späterer Arbeit schon angeschlagen. Da zeigte man ein „naturwissenschaftliches Drama“ unter dem Namen „Der Kampf um den Nordpo1“ — und wie oft in den rpäteren Jahrzehnten ist dem Ringen um die Pol der Erde von der Urania Beachtung verschafft worden — in dem Institut, wo sogar ein Nordenskjöld, der Erzwinger der Nordöstlichen Durchfahrt, sprach! Sehr großen Erfolg erzielte damals der technologische Vortrag „Das Eisen" und der Lichtbildervortrag „Quer durch Oesterreich“. Indes: die Sorgen der Volksbildung sind schon in jenen Jahren nicht ausgeblieben. Im Jahre 1904 schien es, als bräche die ganze, mit idealem Schwung erfüllte Idee in sich zusammen. Die damalige Urania konnte die Schuldenlast in ihrem Heim, dem sogenannten „Storchenbasar“ in der Wollzeile, nicht mehr tragen und wurde obdachlos; das Inventar wanderte in eine Mietwohnung im dritten Bezirk. Wäre damals nicht die große Anteilnahme des Bürgermeister Doktor Lueger gewesen — wer weiß, ob wir heute die silberne Kuppel hoch über Kai und Donaukanal schimmern sähen.

DIE SILBERNE KUPPEL ist ein Wahrzeichen Wiens gewesen, auch als sie von Staub und Ruß keineswegs silbern hoch über dem Asphalt eine für die Stadt ungewohnte Silhouette in den Himmel zeichnete. Ein Wahrzeichen wie der Stephansturm, wie das Riesenrad, die man möglichst schnell von den Wunden des Krieges geheilt sehen wollte, und ein Wahrzeichen wie die Kuppel der Rotunde bis zu dem Tage, da sie für immer im Flammensturm zusammenbrach. Damals aber war Frieden. Als die alte Uraniakuppel verschwand, aber Krieg. Ein Volltreffer

— der eigentlich dem Heeresministerium gegolten hätte — beförderte an einem Novembertag des Jahres 1944 die Kuppel in den Donaukanal. Als der Krieg aus war. diente die Vorhalle der „Urania“ den Pferden der Besatzungssoldaten als

Stall.'Aber schon am 6. August 1945 wurde der Filmbetrieb aufgenommen, und am 10 September 1946 gab es wieder „Uraniazeit“. Im folgenden Jahre kam der Vortragsfilmbetrieb in Schwung und im Herbst 1947 lief das Kursprogramm — übrigens von keinem Mann, sondern von einer Frau (Hilde Hannak) betreut — auf vollen Touren. Während im Zeitraum 1945/46 insgesamt 21 Kurse mit 1120 Teilnehmern, 896 Filme mit 155.376 Besuchern und 163 Vorträge sowie Einzelveranstaltungen mit 39.103 Frequentanten gezählt wurden, hießen die Ziffern zehn Jahre später: 379 Kurse mit 10.462, 1617 Filme mit 495.717 und 608 Vorträge mit 68.584 Besuchern. Eigentlich fehlte nicht mehr... Ja, doch: das Wahrzeichen des Hauses. Erst vor kurzer Zeit legten die Monteure letzte Hand an, und gleich nach ihnen standen wir hoch oben und hielten Auslug.

WENN MAN DIESEN AUSLUG betritt, umfängt den Kommenden magisches Halbdunkel. Nur wenige, in die Wand eingelassene Lampen erhellen den Kuppelraum, der in unmittelbarer Nähe viel gewaltiger wirkt als vom Donaukanal ufer aus. Der Observator legt einen kleinen Hebel um. Wie mit Geisterhänden bewegt, beginnen sich die zwei Halbkugelsegmente aus-, einanderzuschieben und einen Spalt für das Fernrohr freizugeben. Man kann diesen Vorgang mit zwei Geschwindigkeiten, langsamer und schneller, vollziehen. Plötzlich bricht strahlendes Sonnenlicht, von Süden her einfallend, in den Beobachtungsraum. Spielend leicht läßt sich das große Rohr, das wie ein Geschützlauf aussieht — es schießt aber friedlich nur nach den Sternen, dem Mond und der Sonne — mit einer

Hand nach allen Richtungen schwenken. Eine weitere Schaltbewegung, und die Aluminiumkuppel beginnt sich zu drehen. Man kann sich die gesuchte Himmelsrichtung wählen. Jetzt, zur Mittagsstunde, können wir freilich am, besten nur eine „Rundblickreise“ wählen: vom hochragenden Turm zu St. Stephan zum Rathausmann, zum Ringturm, zur Reichsbrücke, zum Riesenrad, zum Schornsteinwald von Simmering und über den Laaer Berg wieder zurück. Hinter dem allen, in sanftem Blau, von dem blassen Silber der Frühlingssonne überglänzt, die Höhen des Wienerwaldes, die grüngraue Weite des Marchfeldes und wie dunkle Finger im Osten die Höhen der Kleinen Karpaten und die Porta hungarica. Man denkt nach, während das Uhrwerk eingeschaltet wird, welches das Satori- Spiegel-Teleskop, Brennweite 26 Zentimeter mit Zeißsucher nach Sternzeit bewegt, so daß das beobachtete Himmelsobjekt immer im Gesichtsfeld bleibt, man denkt nach, wann es eigentlich das letztemal war, daß man hier oben stand, und kommt darauf — das war gerade so vor dreißig Jahren. Damals, es war später Abend, lag der hellste Fixstern des Himmels. Sirius im Sternbilde Canis maior unter dem Filter, welcher die Spektralfarben des Lichtes auf fächerte, das seinen Weg vor neun Jahren begonnen hatte. Man schrieb damals 1927 — das Licht ging zu einer Zeit auf Reisen, als noch der erste Weltkrieg tobte.

WAS DIE ZEIT von heute ab in neun Jahren bringt, wissen auch die drei Uhren im Uhrenraum der Urania nicht. Aber wenn niemand spricht, niemand mehr über Zeitunterschiede, über Greenwich und Sternzeit redet, wenn es ganz still im großen Zimmer ist: dann hört man die Sekunden ticken. Es ist, als fielen goldene Tropfen in eine silberne Schale. In jeder dieser, von Stromstößen angeregten Zeitmaße werden Millionen Menschen geboren, sterben Millionen, ringen ein paar tausend dem Tod ein verloren geglaubtes Leben ab — und sinnieren ein paar

Dutzend Menschen, wie man am schnellsten das Leben vernichten könne zur „Sicherung von Humanität und Weltfrieden“.

FRIEDLICH ist es, wie im Uhrenraum, auch in der Bücherei, und von Humanität reden glaubhafter die großen Namen der Dichter und Denker. Wir sind gerade in die Ausleihezeit gekommen und können einige Beobachtungen machen. Auffällig ist das Interesse für die zeitgenössische Literatur, für Reise- und Forschungsbücher und das ungemein unterschiedliche Fachschrifttum. „Was lesen denn die jungen Mädchen?“ fragen wir mit einem Seitenblick auf zwei Besucherinnen die Bibliothekarin. „Hemingway, Faulkner, ja Sartre werden schon von Teenagers verlangt“, heißt die Antwort. „Unsere Aufgabe ist es, taktvoll zu sondieren und eine Art negativer Beratung zu üben. Wir schulmeistern niemand, aber wii wissen gleich wirkliches literarisches Interesse von dem angehörten zu trennen. Im übrigen ist ein Buch von Doderer selten im Regal, meist auf Ausleihe, werden Thomas Mann, Hofmannsthal, Musil und Kafka viel verlangt — der ,Krull‘ von Mann stand noch nie einen Tag im Regal.“ Bei der Urania-Bücherei handelt es sich um eine sogenannte „Freihandbücherei"; der Leser kann sich d?s gewünschte Werk selbst suchen und nach Herzenslust sch nö ern Dazji . ist; , der schöne Raum mit der Aussicht auf Kai und Donaukanal, der nahezu familiär wirkt, gerade recht und läßt keinen weiteren Wunsch auf- kommen.

ABER WEITERE WÜNSCHE hat gerade, was die Bibliothek angeht, der Direktor des Volks- bildungshauies, Dr. Speiser, doch noch. Er möchte, wie er uns sagte, „für regelmäßige Hörer etliche Räume mit Klubatmosphäre einrichten“. Gerade jene Hörer und Leser, die von weiterher kommen, sind für die Stille — und Wärme im Winter — einer familiär wirkenden Flucht von Zimmern dankbar. Von weiterher. Wie schade, daß der Plan eines Zweighauses im Westen (es wäre schräg gegenüber des neuen Westbahnhofes hingekommen, wo die innere Mariahilfer Straße sich von der Kaiserstraße zum Gürtel hin verbreitert) nach der Widmung des Baugrundes 1917 und des zustimmenden Beschlusses des Wiener Gemeinderates vom

24. Februar 1922 nicht Wirklichkeit geworden ist! Heute ist der prächtig geeignete Platz, wo sich früher eine kleine Gartenanlage befand, der Regulierung der Mariahilfer Straße zum Opfer gefallen. Dort schaut man nach keinen Sternen, sondern bestenfalls nach Verkehrsampeln aus... Dennoch wird man um eine Erweiterung und um eine Erfassung der stadtferner gelegenen Bezirke bemüht sein müssen. Die Volksbildungshäuser sind ebenso soziale Notwendigkeit wie Wohn- und Straßenbau, und auch die Wissenschaft braucht „Großraumwagen“. Der Urania-Vorstand, mit seinem Präsidenten Alfred Demel- mayer, dem Vizepräsidenten Stadtrat Thaller und dem zweiten Vizepräsidenten Dr. Uebelhör, scheint für solche Planungen gerade das nötige Gleichgewicht zu besitzen.

URANIA, seit Hesiod eine der neun Musen, seit dem Hellenismus mit den Attributen für Astronomie, dem Globus und dem Zirkel ausgestattet, gab dem epischen Gedicht Christoph August Tiedges den Namen. Wer weiß heute noch etwas von Tiedge und von den Worten, die er 1800 geschrieben hat: „Die Einsamkeit, die in der Flut des Weltgewühls wie eine stille verborgene Lebensinsel ruht... Da sieht der freie Blick den Strom vorübergleiten, sieht, wie das Küstenland verhüllter Ewigkeiten am fernen Horizonte sich erhebt. .. In u n s fängt sich für i.ns das Reich der Geister an . . ."

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