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Silberstreifen für Europa

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Frankreich ist nun zu seinem politischen Alltag zurückgekehrt, der trotz aller Kontinuität mit der Ära de Gaulle anders aussehen wird als vor dem selbstprovozierten Sturz des bedeutendsten französischen Staatsmannes unserer Zeit. Schon im diesem ehrenvollen und unbestreitbaren Titel, den sich der französische 'Widerstandsgeneral erworben hat, wird der große Unterschied zu seinem Nachfolger zu finden sein. Auch Pompidou ist ein hervorragender Staatsmann. Schon, wer fast 58 Prozent der Wählerstimmen seines Landes auf sich vereinigen kann, muß eine bedeutende Persönlichkeit sein! Aber sonst dürfte es zwischen de Gaulle und Pompidou kaum eine zweite gemeinsame persönliche Eigenschaft geben. Hier der Offizier, der unbeugsame Widerstandskämpfer, der — ob das gut war oder nicht, steht hier nicht zur Debatte — selbst einem Churchill Paroli bot, ein Mann, der auch in härtesten Kriegszeiten einen Bruch mit seinem treuesten Verbündeten riskierte, der Politiker, der es verstand, aus der innerpolitischen, gänzlich zerfahrenen Situation der Vierten Republik die Fünfte zu schaffen, und der schließlich auch dann noch an seinen Grundsätzen festhielt, als sich diese als überholt oder wenigstens reformbedürftig erwiesen. Mit einem Wort, eine politische Gestalt, die der größten und staatstragenden Bewegung auch ihren Namen aufgeprägt hat.

Dort nun sein treuer Paladin, der in seinem ganzen persönlichen und politischen Habitus, seinem Herkommen, seiner beruflichen Tätigkeit und seiner persönlichen Haltung keine dieser Eigenschaften prästiert, dafür aber die ganze Last aufgebürdet erhält, die Jedem Nachfolger eines großen Mannes aufgebürdet wird. Kaum jemals hat ein Politiker eine so schwierige Aufgabe übernommen wie Pompidou, von dem seine Wähler nun die verschiedenartigsten Erfolge erwarten. Es ist z. B. ein offenes Geheimnis, daß innerhalb all der Gruppen, die sich unter dem Gaullismus zu gemeinsamer politischer Aktivität zusammengefunden haben ,die divergierendsten Auffassungen über die künftige Europapolitik Frankreichs vertreten sind. Von der radikalsten Ablehnung jeder weiteren Entwicklung zu einem gemeinsamen Europa bis zur energisch geforderten Erweiterung der Europäischen Gemeinschaften, vor allem durch den Beitritt Großbritanniens, finden sich die verschiedenartigsten Vertreter — auch unter den Parlamentariern — innerhalb der gaullistischen Front.

Pompidou „unbelastet“

Mar. spricht von einem Silberstreifen, der sich nun aim europäischen Horizont zeigt — oder besser — erwartet wird. Die völlige Blockierung jeder Lösung dieses auch in seinen sachlichen Bereichen so überaus schwierigen Problems durch de Gaulle hatte ihre Wurzeln zu einem wesentlichen Teil in der persönlichen Haltung des General-Präsidenten gegenüber Großbritannien, die vielerorts sogar als Anglo-phöbie bezeichnet wurde. Dafür gibt es viele historische Beispiele. Churchill sagte einmal in launiger Weise, er hätte in seinem Leben zwei Kreuze zu tragen: das Victoria-Kreuz und das Lothringische, womit er einerseits seine höchste britische Auszeichnung und andererseits Schwierigkeiten meinte, die ihm von de Gaulle ständig bereitet wurden. Von einer „Anglophobie“ kann beim neuen Präsidenten selbstverständlich nicht die Rede sein, obwohl er seinerzeit als Ministerpräsident natürlich die „General“-Linie seines Präsidenten vertreten mußte und es unter Vermeidung jeder überflüssigen Schärfe auch redlich getan hat. Es kann angenommen werden, daß Pompidou ohne jede persönliche Be-

schwernis und nur mit objektiven Überlegungen an dieses Problem herangehen wird. Das wäre immerhin so etwas wie ein Silberstreifen!

Die Rolle Englands

Es werden nun also die objektiven Schwierigkeiten sein, die zu überwinden sind, wenn man in der euro-päischfc.. Politik weiterkommen will. Deren gibt es natürlich genug. Der Beitritt Großbritanniens und anderer Beitrittswerber zur EWG wirft eine große Zahl von echten Fragen auf, die alle zuerst beantwortet werden müssen, wenn eine wirkliche Lösung erzielt werden soll. Das zeigte sich auch schon in der Vergangenheit.

Nach britischer Auffassung sollte der Freihanidelszonenvertrag eine Wiederholung des Rom-Vertrages in der Form werden, daß alle Bestimmungen des Rom-Vertrages in abgeänderter, meistens wesentlich abgeschwächter Form auch für die Freihandelszone gelten sollten. Dies war ohne Zweifel eine Vornahme, die sich damals noch nicht realisieren ließ. Ein hoher französischer Beamter sagte gegen Ende dieser Verhandlungen einmal, daß man doch dem französischen Volk, das eben erst einen so weitgehenden Vertrag mit seinem „Erbfeind“ von ehedem abgeschlossen habe, Zeit lassen müsse, dieses neue „Wunder“ zu verdauen. Darüber hinaus aber mußte berücksichtigt werden, daß sich die EWG selbst erst im Anfangsstadium befand und noch niemand wußte, wie sich die Dinge wirklich im Rahmen des Rom-Vertrages weiterentwickeln würden. Der von österreichischer Seite gemachte Vorschlag, den der Verfasser in dieser Zeit auch in einem Vortrag vor der Generalversammlung des Europarates zu vertreten hatte, nämlich die Große Freibandeiszone zunächst nur auf den Abbau der Industriezölle zu beschränken und weitere Schritte zu einem späteren Zeitpunkt zu machen, fand weder bei den Franzosen noch bei den Briten Zustimmung.

Die Weiterentwicklung ist bekannt. Ein 1961 eingebrachter Antrag Großbritanniens auf Verhandlungen über einen Beitritt zur EWG verliefen negativ, obwohl zu diesem Zeitpunkt die britische Regierung bereit war, den Rom-Vertrag zur Gänze zu akzeptieren, sich jedoch, was der Sache nach natürlich unvermeidlich ist und in einem künftigen Vertrag auch unvermeidlich sein wird, eine entsprechende, mehrjährige Übergangsfrist ausbedungen hatte. Diesmal war

es das eindeutige französische Veto vom 14. Jänner 1963, das derartigen Verhandlungen ein Ende setzte. Und dieses Veto ist noch heute wirksam, weil sich bis zur Stunde an der strikten de-Gaulleschen Ablehnung eines britischen Beitritts nichts geändert hat.

Unter Zeitdruck

Wie werden die Dinge nun weitergehen? Können wir mit Recht schon jetzt von einem Silberstreifen am Horizont der europäischen Integrationsbewegung sprechen? Gibt es schon heute konkrete Anzeichen dafür, daß sich an der französischen Haltung unter der neuen Präsidentschaft etwas ändern wird? Wie oben schon erwähnt, läßt zunächst die nicht mehr durch persönliche Ressentiments belastete Stellung des neuen französischen Staatspräsidenten immerhin einiges erwarten. Das bedeutet aber noch nicht, daß man schon jetzt von sicheren Erfolgschancen sprechen könnte. Das Drängen der britischen Regierung, die am Tage nach der Wahl PomDidous neuerdinss in spektakulärer Form ihren Beitrittswunsch angemeldet hat — der britische Inte-graWonsminister sprach sogar davon, daß die Verhandlungen nicht länger als nur einige Monate in Anspruch nehmen dürften! —, ist aus der innerpolitischen Situation Großbritanniens zu erklären. Das gegenwärtige Labour-Regime hat logi-gischerweise ein großes Interesse daran, sein innerpolitisches Image durch einen Integrationsvertrag wieder zu verlbessern, und dazu hat die britische Regierung mit Rücksicht auf den nächsten Wahlterimim nicht mehr viel Zeit. Aber nicht die britische Absicht und der“gute Wille allein sind für_ den. Erfolg maßgeblich. Nach wie vor sind die sachlichen Probleme, z. B. die für Großbritannien ganz besonders schwierige Agrarfrage, zu lösen. Anderseits gibt es Elemente, die die Integrationspolitik nun wirklich in Schwung bringen könnten.

Hier ist zunächst einmal die Währungspolitik zu nennen: Die natürlich im allseitigen Interesse gelegene Solidarität zwischen den Sechs und Großbritannien gerade in dieser Frage zählt zu diesen Elementen. Die Hilfsstellung, die je nach den Notwendigkeiten einmal dem britischen Pfund, zum anderenmal dem französischen Franc gewährt wurde, darf, auch wenn sie jeweils im beiderseitigen Interesse gelegen war, nicht unterschätzt werden. Ferner ist zu berücksichtigen, daß bis zum

Ende dieses Jahres wichtige interne Beschlüsse der EWG zu fassen sind. Mit 31. Dezember 1969 läuft jene Übergangsfrist des Rom-Vertrages ab, die den Mitgliedern der Europäischen Gemeinschaft eine eigene Handelspolitik gestattete, und die Fortsetzung bzw. der Ausbau der Agrarfinanzierung erfordert bis zu diesem Tag neue Beschlüsse. Gerade am letzteren sind aber die Franzosen weit mehr interessiert als ihre fünf Partner. Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß bei den Verhandlungen über diese Frage u. a. auch eine französische Konzession, Gespräche mit Großbritannien wieder aufzunehmen, erwartet wird. Sollte das gelingen, so wäre dies als ein sehr bedeutsamer Fortschritt zu bezeichnen. Präsident Rey hat dies in einem Gespräch mit dem Verfasser erst vor wenigen Wochen ausdrücklich betont, indem er feststellte, daß sich die Kommission und mit ihr

die Fünf gegenüber Frankreich nun in einer bedeutend besseren Verhandlungsposition befinden. In diesem Zusammenhang müssen auch jene integrationswirksamen Fortschritte berücksichtigt werden, die sich gleichsam am Rande der eigentlichen Problematik abspielen. Z. B. die laufenden Verhandlungen über die Harmonisierung der Patent-und Markenschutzrechte. Wenn es sich hier auch, wie schon erwähnt, nur um Probleme handelt, die im Falle ihrer positiven Lösung noch keinen gemeinsamen, großen westeuropäischen Wirtschaftsraum erzeugen, so gehören sie doch zur Gesamtproblematik. Je eher man imstande ist, sie zu lösen, um so weniger Schwierigkeiten werden sich bei den Beitritts- und Assoziierungsverhandlungen ergeben.

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