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Silberstreifen in Südtirol?

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Allen Unkenrufen zum Trotz hat die Neunzehnerkommission am 10. April ihre Arbeiten abgeschlossen.

Die vom sozialdemokratischen Abgeordneten Paolo Rossi umsichtig und taktvoll geleitete Kommission verdankt ihre Entstehung einer Anregung von österreichischer Seite. Sie wurde vom damaligen Südtiroler Kammerabgeordneten Dr. Riz aufgegriffen und am 13. Juli 1961 dem römischen Parlament vorgeschlagen. Einige Wochen später vom ehemaligen italienischen Innenminister Mario Scelba eingesetzt, trat sie am 21. September 1961 im Prunksaal der Bozener Handelskammer zu ihrer ersten Sitzung zusammen.

Während der zweieinhalbjährigen Arbeiten der Kommission, die oftmals sanft zu entschlafen drohte, erfuhr man von vielen Sabotageversuchen einflußreicher Trentiner und römischer Politiker. In der zweiten Jahreshälfte von 1962 fand keine einzige Sitzung statt. Erst eine Unterredung Dr. Magnagos mit dem heutigen Ministerpräsidenten Aldo Moro, in der der Südtir'oler Landeshauptmann eindringlich vor den Folgen dieser Versandiungisbe-strebungen warnte, und eine Intervention des Präsidenten der Unterkommission für das Südtirolproblem beim Europarat, Senator Struye, erweckte, zum Ärger vieler rechtsgerichteter Politiker, die Kommission aus ihrem Schlummer. Trotzdem trat sie auch später monatelang auf der Stelle. Nach mehr als 200 Sitzungen hat sie ihre Arbeiten nun endgültig abgeschlossen.

Durch Indiskretionen sind die Ergebnisse in unterrichteten Kreisen schon seit Monaten bekannt, Sie werden recht verschieden beurteilt. *

Der 75 Seiten starke Abschlußbericht, den Präsident Paolo Rossi am 10. April dem Regierungschef Aldo Moro überreicht hat, sieht hauptsächlich folgende Verbesserungen für Südtirol vor:

Die deutsche Sprache wird mit der Staatssprache grundsätzlich gleichgestellt. Der Gebrauch des Deutschen allein ist bei vielen Gelegenheiten (so bei Reklamezwecken) zulässig. Bei Gerieht herrscht die absolute Doppelsprachigkeit. Deutsche Anfragen an Behörden müssen in Zukunft in der Sprache des Antragstellers beantwortet werden

Alle noch offenen Streitfragen um die Wiedergewährung der italienischen Staatsbürgerschaft an Optanten (es handelt sich um insgesamt 302 Fälle) sollen nochmals „wohlwollend“ überprüft werden. Bekanntlich hatte dieses Zugeständnis der Kommissionsmehrheit den Groll des einflußreichen rechtsstehenden DC-Abgeordneten Lucifredi, der dann längere Zeit bei den Sitzungen fehlte, erweckt.

Der Anteil der Südtiroler an den Staatsstellen soll beträchtlich erhöht werden. Als Anhaltspunkt für die Verbesserung des gegenwärtigen Zu-standes wurde allerdings nicht — wie von den SVP-Vertretern verlangt — der ethnische Proporz vorgeschlagen, sondern das Verhältnis der Südtiroler Bevölkerung zu der italienischen Gesamtbevölkerung. In der Praxis soll der Prozentsatz der Süd-tiroler im Staatsdienst zirka 50 Prozent betragen. Nach Möglichkeit sollen sie nicht in andere Provinzen versetzt werden.

Der gesamte aus öffentlichen Mitteln geförderte Volkswohnbau (also auch INA-Casa) wird der Provinzverwaltung unterstellt.

Neben dem Volkswohnbau, durch den eine gewisse Kontrollmöglichkeit hinsichtlich einer eventuellen Zuwanderung besteht, sollen bei den Regional- und Gemeindewahlen nur solche Bürger zugelassen werden, die mindestens vier Jahre (bisher drei Jahre) in der Provinz ansässig sind. Bei den Parlamentswahlen soll die Beteiligung des in Südtirol stationierten Militärs nach Möglichkeit nicht den nationalen Durchschnitt übertreffen.

Im Schulwesen soll die Provinz die legislativen und administrativen Befugnisse auf den Gebieten der Schulfürsorge, der Kindergärten, der Berufsausbildung und des Schulbaues erhalten. Die Provinzverwaltung ernennt für jede der drei Volksgruppen einen Schulintendanten, der Staat auf Vorschlag einen Studienintendanten, der die Koordinierung mit dem staatlichen Schulwesen (die Lehrer bleiben auf eigenen Wunsch Staatsbeamte) besorgen soll.

Die Bevölkerung in der Provinz soll bei der Arbeitsvermittlung künftig den Vorzug bekommen. Die Landesverwaltung hat das Recht, Kontrollkommissionen zu ernennen.

Die vom Faschismus enteigneten Hütten des Südtiroler Alpenvereins sollen zurückgegeben oder durch eine Entschädigung abgelöst werden.

Die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen sollen so schnell wie möglich mit den ehemaligen Angehörigen des italienischen Heeres gleichgestellt werden.

Auch die Beleidigung der Südtiroler Tradition, Sprache und Kultur soll in Zukunft bestraft werden. Bisher war dies nur bei den ominösen „Schmähungen“ von Seiten der Südtiroler der Fall.

Die Kommission schlägt eine Erweiterung der Provinzautonomie durch die Abgabe verschiedener Zuständigkeiten von der Region an die Provinz Bozen vor. Diese betreffen vor allem die Land- und Forstwirtschaft, Fremdenverkehr, Bergbau, Jagd und Fischerei, Nachridhten-und Tranisportwesen und anderes mehr.

Der Provinz wird eine eigene Fahne und ein eigenes Wappen zugestanden. Sie hat künftig das Recht, statistische Erhebungen anzustellen. Die „Retorten“bezeichnung „Tren-tino-Tiroler Etschland“ soll in „Tren-tino-Südtirol“ verändert werden.

Auf der anderen Waagschale liegen folgende unerfüllt gebliebene Forderungen der Südtiroler:

Die Region Trentino-Südtirol bleib: weiterhin bestehen. Die Forderung der SVP-Delegierten nach Bildung einer eigenen Region Südtirol fand keine Mehrheit.

Die „legislativen Kompetenzen für eine Reihe der das gesellschaftliche Leben am meisten beherrschenden Faktoren“ — Kreditwesen, Handel und Industrie — bleiben weiterhin bei der Region.

Die Befehlsgewalt der Landesregierung (des Landeshauptmannes) über die Polizei wird abgelehnt.

Die Arbeitsvermittlung bleibt weiterhin staatlich.

Der ethnische Proporz für die Besetzung der Staatsstellen wird nicht angewendet.

Aber auch die von der Kommission gewährten Zugeständnisse, die noch von der Regierung und vom Parlament gebilligt werden müssen, also einen noch recht langen und mühevollen Weg vor sich haben, weisen Schönheitsfehler auf. Denn solange etwa die Kenntnis der italienischen und deutschen Sprache nicht allen Staatsbeamten der Provinz obligatorisch vorgeschrieben wird, dürfte ihre formelle Gleichstellung nur wenig praktische Auswirkungen zeitigen. Ähnlich verhält es sich bei der Besetzung der öffentlichen Stellen. Solange für die Südtiroler, die in den Staatsdienst eintreten wollen, nicht eigene regionale Stellenpläne aufgestellt werden, dürften die neuen Bestimmungen praktisch nicht viel Erfolg haben.

Heftige Diskussionen gab es um das Problem der sogenannten Garantien für die „italienische Minderheit“ in der Provinz Bozen. Wenngleich die Südtiroler Vertreter oftmals erklärten, diese Frage keineswegs auf die leichte Schulter nehmen zu wollen, konnten sie sich doch nicht mit den Forderungen der italienischen Kommissäre, die praktisch das Vetorecht bei der Genehmigung des Haushaltplanes und der Landesgesetze forderten, einverstanden erklären. Das Ergebnis der langen Debatten war schließlich ein Kompromiß.

An der Frage, wie die Ergebnisse der Neunzehnerkommission zu bewerten sind, dürften sich die Gemüter noch heftig entzünden. In Südtirol herrscht fast einstimmig die Meinung vor, daß mit den Vorschlägen der Kommission die Lösung des Südtirolproblems zwar noch keineswegs erreicht, aber doch ein gutes Stück nähergerückt ist. Man sieht in ihr eine „Maturaarbeit“, der Respekt und eine „gute Zensur“ zugebilligt werden muß. Obmann Doktor Magnago hat erst kürzlich erklärt: „Wenn diese einstimmigen Vorschläge (aber viele sind keineswegs einstimmig gemacht worden) loyal und rasch verwirklicht würden, könnten wir als Volksgruppe mit diesem ersten Ergebnis ehrlich zufrieden sein. Obwohl uns viele autonome Rechte, welche andere italienische Regionen längst besitzen, auch diesmal verweigert wurden, darf dieser Vorschlag der Neunzehnerkommission als ein erster großer Fortschritt, den wir Südtiroler begrüßen, gewertet werden.“

Während man in Südtirol also allgemein der Meinung ist. die Ergebnisse der Neunzehnerkommission stellten sozusagen einen Markstein auf dem dornenvollen Weg zur echten Landesautonomie dar, denkt man in Rom und Trient offensichtlich anders darüber. Dort scheint man mit wenigen Ausnahmen (Saragat dürfte dazugehören und einige Politiker der Nenni-Sozialisten) der Auffassung sein, mit den Ergebnissen der Neunzehnerkommission müßte das Südtirolproblem als abgeschlossen und gelöst betrachtet werden.

Diese Forderung ist unannehmbar.

Jedem einsichtigen Politiker muß es doch klar sein, daß es „endgültige Lösungen“ in seinem Metier nicht gibt. Dr. Magnago hat diese Erkenntnis bei seinen Schlußerklärungen anläßlich der Unterzeichnung des Berichtes klar zum Ausdruck gebracht. „Im menschlichen Leben“, so sagte der Südtiroler Landeshauptmann, „und in den menschlichen Beziehungen ist nichts endgültig und ewig. Und diese weitergehende Entwicklung, die sich über die Starrheit der Paragraphen hinwegsetzt, wird neue Bedürfnisse, neue Aspekte und Probleme schaffen, die aufgegriffen und im Geist des Verständnisses gelöst werden müssen.“

Der Abschluß der Neunzehnerkommission, der für Italien einen wirklich bedeutsamen Fortschritt darstellt, ist ein „Meilenstein“ in der Geschichte Südtirols. Als solcher soll er aufrichtig und ehrlich begrüßt werden. Eine endgültige Lösung des Südtirolprofolems hat auch die Neunzehnerkommission nicht bringen können. Es bedeutet aber schon viel, daß man sich zweieinhalb Jahre mit dem „gordischen Knoten“ beschäftigt hat. Dies und ein gewisser Abbau des gegenseitigen Mißtrauens läßt viele Südtiroler etwas hoffnungsvoller in die Zukunft seihen.

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