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Sind es wirklich schon 600 Jahre?

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Dem Kalender nach ist nicht daran zu zweifeln: am 26. Jänner 1363 hat Margarethe Maultasch für den Fall ihres Ablebens ihren Vettern, den Herzögen Rudolf, Albrecht und Leopold von Österreich, „die würdigen und edlen Grafschaften zu Tirol und zu Görz, das Land und die Gegend an der Etsch und das Inntal“ urkundlich abgetreten, Im Namen aller „anderen, Geistlichen und Weltlichen, Edlen und Unedlen, Armen und Reichen, in Städten und auf dem Lande“ wurde die Urkunde von 13 Angehörigen des Adels mitunterzeichnet.

Man hat oft versucht, die Unterschriften dieser Adeligen im demokratischen Sinn zu deuten. Einer genauen Prüfung kann diese Deutung jedoch nicht standhalten, da vom Adel zu dieser Zeit in erster Linie private Interessen, nicht aber die Interessen des Landes oder gar der Bevölkerung vertreten wurden. Die Mitunterzeichnung war notwendig, weil sich die auf der Urkunde unterschriebenen Herren nur neun Tage vor dem 26. Jänner von Margarethe Maultasch die Versicherung geben ließen, daß diese ohne ihr Einverständnis nichts ist Landesangelefenheiten unternehmen werde. Dieser evers sollte aber vornehmlich die materiellen Vorteile sichern, die sich die Adeligen nach dem am 13. Jänner 1363 erfolgten Tod Meinhards III. zu verschaffen wußten. Es ist wohl mit Sicherheit der persönlichen Erscheinung, der Verhandlungskunst und der Entschlossenheit Rudolfs IV. sowie dem großen Ansehen und der militärischen Stärke der Habsburger zuzuschreiben, daß die Mächtigen des Landes so schnell bereit waren zu schwören, „eben diesem Fürsten aus Habsburgs Stamme gegen jedermann Treue und Wahrheit zu halten, ihren Nutzen und ihre Ehre zu fördern, ihren Schaden zu wenden und in allen Dingen als ihre Herren, wie es billig und recht ist, sie zu erkennen“.

Es ist heute nicht unbedingt notwendig, die näheren Umstände, die zum Vertragsabschluß geführt haben, in allen Einzelheiten zu schildern; allein die Tatsache, daß dieser Vertrag nun 600 Jahre Gültigkeit hat, bezeugt dessen Güte und Zweckmäßigkeit. Jedenfalls hat das Volk schon sehr bald seine Anhänglichkeit und Treue zum neuen Landesfürsten bewiesen. Rudolf selbst berichtet darüber: „Als wir bei unserem Einsang in die Grafschaft Tirol' nach Hall kamen und etliche Mächtige und Gewaltige wegen ihrer frevelhaften Obergriffe straften, da entstanden wegen dieser Bestrafung so harte und feindliche Anläufe, daß wir eine Weile im Zweifel unseres Lebens waren. Aber die Bürger von Hall liefen einhellig mit unseren lieben und treuen Bürgern von Innsbruck zu uns, wohlgerüstet und gewaffnet, mit männlichem Mut und wehrhaften Händen, legten ihr Gut, Leib und Leben für uns auf die Waagschale und halfen uns so mit fester Kühnheit, daß wir durch die Gnade des Allmächtigen Gottes, von dem aller Segen fließt, die frevelhaften Anläufe, Widerspenstigkeit und Ungehorsam so vollständig überwanden, daß wir davon ewigen Nutzen und Ehre gewonnen haben.“ Diese Tat der Bürger von Hall und Innsbruck stand am Anfang der 600 Jahre, die wiederholt Gelegenheit geboten haben, die Treue der Tiroler zu Österreich unter Beweis zu stellen.

Und dennoch muß die geistige Grundlage dieses 600jährigen Vertrages immer wieder neu errungen werden. Das Verhältnis Tirols zu Österreich ist heute noch nicht so. wie man es nach 600jähriger Gemeinsamkeit vermuten würde. Das ist auf historische und geographische llrsachen zurückzuführen. Drei Jahrhunderte lang waren die Beziehungen zwischen Tirol und Österreich ziemlich locker, weil wir in Innsbruck einen eigenen Landesfürsten hatten. Erst ab 1665 wurde mit dem Aussterben der tirolischen Linie unser Land zusammen mit österreichischen Ländern regiert. In Zeiten der Not war aber Tirol fast immer auf die eigene Kraft angewiesen. Die Ereignisse des Jahres 1809 haben das Verhältnis Tirols zu Österreich ziemlich belastet. Es sei nur an das Handbillett von Wolkersdorf erinnert, in dem Franz I. durch sein „heiliges Wort“ verspricht, nie zuzugeben, daß Tirol von Österreich getrennt werde. Die Enttäuschung über die Nichteinhaltung dieses voreilig gegebenen Versprechens hat im Lied ihren Niederschlag gefunden: ,, I bin verlassen ganz vom Römischen Kaiser Franz.“

Das war aber nicht alles. Der Aufstand der Tiroler wurde auch von Wien aus mit der Tatsache gerechtfertigt, daß die Bayern die Landesfreiheiten mißachtet haben. Aber auch Wien wollte nach 1814 von diesen Landesfreiheiten nur mehr wenig wissen. Das alles wird man in Rechnung stellen müssen, wenn man das Verhältnis Tirols zu Österreich bis zum Ausbruch des Weltkrieges untersuchen will. Krieg und Frieden verlangten dann von Tirol die größten Opfer. Andere Bundesländer verloren Randgebiete; Tirol verlor das Herzstück. Das Verhältnis zur Ersten Republik war von Anfang an getrübt. Nicht nur Tirol, auch andere Bundesländer, fühlten sich durch die Verfassungsbeschlüsse der provisorischen Nationalversammlung vom 30. Oktober und und vom 12. November 191 g überrumpelt. Die Pragmatische Sanktion, das Band, das Tirol mit den österreichischen Ländern verbunden hat, trat mit dem Zusammenbruch der Monarchie außer Kraft. Auf diese Tatsache machte Tirol die Wiener Zentralregierung im Februar 1919 aufmerksam, und in der Landesordnung vom 8. November 1921 wurde die vorsichtige Formulierung gebraucht: Tirol ist ein selbständiges Land, das jetzt einen Teil der demokratischen Republik Österreich bildet. Besonders fühlbar war es in Tirol, daß es den Politikern der Ersten Republik nur in einem gänzlich unzureichenden Maße gelungen ist, das Ideal des gemeinsamen Vaterlandes und schon gar nicht den übernationalen Österreichbegriff von der Dynastie auf die Republik zu übertragen.

Was für andere Bundesländer gilt, gilt im großen und ganzen auch für Tirol: Als es Österreich nicht mehr gab, wurde bewußt, was man verloren hatte. Nach 1945 gab es für Tirol — im Gegensatz zum Jahre 1918 — keinen Zweifel über die staatliche Zugehörigkeit. Schon die erste Länderkonferenz, die am 24. und 26. September 1945 im Niederösterreichischen Landhaus in Wien stattfand, führte trotz der Vierteilung zu sofortiger Anerkennung der Staatsgewalt. Im Jahre 1953 erhielt der Artikel 1 der Tiroler Landesordnung seine definitive Fassung: „Tirol ist ein selbständiges Land der demokratischen Republik Österreich.“ Das bessere Verhältnis Tirols, zu Österreich kommt in dieser Änderung zum Ausdruck. Ein ausgezeichnetes Mittel zur weiteren Stabilisierung ist die Aktion „Tirols Jugend lernt die Bundeshauptstadt kennen“. Diese vom Bundesministerium für Unterricht ins Leben gerufene Aktion hat mitgeholfen, den Komplex vom „roten“ Wien zu beseitigen, der die Beziehungen der Bundesländer zur Bundeshauptstadt zur Zeit der Ersten Republik belastet und zu einer Zweiteilung des kulturellen Lebens (bürgerliche Kultur in den Ländern im Gegensatz zur sozialistischen Arbeiterkultur Wiens) geführt hat. Der anzustrebende Idealzustand ist aber noch nicht erreicht. — Tirols geographische Lage erschwert den Weg zu Österreich. Österreich muß sich, wenn es seiner Mission treu bleiben will, mit allen Mitteln dagegen wehren, Brückenkopf zu werden. Da Tirol hauptsächlich als Nord-Süd-Brücke fungiert, haben die Tiroler für die lebensnotwendige Ost- und Westverbindung Österreichs vielleicht nicht das Verständnis, das im Gesamtinteresse erforderlich und wünschenswert wäre. In dieser Hinsicht darf man sich allerdings über die Haltung der westlichen Bundesländer nicht sehr wundern. Selbst in Wien, wo man (wenn es nicht darauf ankommt) viele salbungsvolle Worte über die Brückenfunktion Österreichs hören kann, weiß man anscheinend nicht, ob man nicht im letzten Österreich als „Festung“ verstehen soll. Und das zu einer Zeit, die offensichtlich den Beginn einer Auflockerung der starren Ost-West-Front anzeigt.

Mag auch für manche der etwas utopische „Weltbürger“ das Idealmodell des Zukunftsmenschen darstellen, zum Allerweltsbürger, der wohl einen Staatsbürgerschaftsnachweis besitzt, aber weder Heimat noch Vaterland kennt, sollten wir Tiroler uns nicht degradieren. Deshalb müssen wir der Erhaltung unseres österreichischen Lebensstils eine größere Beachtung schenken. Das Glück der Zukunft hängt nicht ausschließlich von der Produktivität, von Im- und Exportziffern ab, da der Wohlstand allein nicht über das Wohlbefinden zukünftiger Generationen entscheidet. Wir müssen bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen in bewußter Selbstbescheidung bereit sein, auf die letzte Steigerungsstufe des Lebensstandards zu verzichten, wenn wir unsere Art zu leben und zu wirtschaften nicht preisgeben wollen. Die Verteidigung der Grenzen allein genügt nicht. Es muß auch der Inhalt verteidigt werden. In seinen äußeren Grenzen haben wir das Vaterland schon einmal verloren, aber im Herzen haben wir es damals bewahrt. Heute sind wir von der umgekehrten Gefahr bedroht. Lassen wir Grillpar-zer zu Wort kommen:

„Nun aber Österreich sieh dich vor, es gilt die höchsten Güter! Leih' nicht dem Schmeichellaut dein Ohr, und sei dein eigner Huter!''

Deshalb, aus gegebenem Anlaß, die Erinnerung und Verpflichtung: Tirol unsere Heimat, Österreich unser Vaterland!

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