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Sind rechtsstaatliche Prinzipien wieder fraglich geworden?

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Getreu ihrem Prinzip, künftig in jeder Hinsicht eine offene Politik zu betreiben, legten Ungarns Sozia-listen und Liberale in wochenlangen Geheimverhandlungen die Richtlinien ihres Koalitionsabkommens fest.

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Getreu ihrem Prinzip, künftig in jeder Hinsicht eine offene Politik zu betreiben, legten Ungarns Sozia-listen und Liberale in wochenlangen Geheimverhandlungen die Richtlinien ihres Koalitionsabkommens fest.

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Erfahren durfte der Bürger dank der sich bereits in ohnmächtiger Verzückung auf Regierungskurs schaltenden Medien nur vom Einvernehmen, den Fortschrit-ten und besten Aussichten.

Daß das Dokument auch verfassungswidrige Passagen enthielt, mußte bezeichnenderweise die vor kurzem noch sozialistische Tageszeitung „Nepszabadsäg" entdecken, die Tatsache nämlich, daß die neue Regierung - die Konstitution schlicht ignorierend - die Ernennung von Richtern plane.

Manche scheinen in den vergangenen vier Jahren offensichtlich wenig Zeit gehabt zu haben, sich mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit vertraut zu machen. Mehrere Sozialisten leiden sogar unter einem eigenartigen Gedächtnisschwund; sie verwenden wieder mit Vorliebe das seit 1990 auch noch auf Parteitagen peinlichst gemiedene Wort „Genosse" und pochen darauf, daß dies bei der westlichen Sozialdemokratie auch gang und gebe sei. Der kleine Unterschied, daß keine der gemeinten Parteien über vierzig Jahre kommunistische Diktatur nötig hatte, um ihre demokratische Zukunft zu entdecken, dürfte für Ansprechende und Angesprochene wohl kaum von Bedeutung sein.

Nun gilt es, den Gedächtnisschwund nach Möglichkeit auf breite Schichten der Gesellschaft zu übertragen; mit gutem Grund. Es wäre nämlich keineswegs förderlich, wenn sich jemand an die Worte von Pal Vastagh erinnerte, der im Herbst 1990 den damals aus der Partei gejagten Kommunisten jovial nachrief: „Wir werden uns sowieso bald wieder zusammenschließen und dann kommen all die Aufmüpfigen nach Recsk." -Recsk war eines der Todeslager in der Zeit der stalinistischen Diktatur. Der scherzende Politiker wird bald als Justizminister vereidigt.

In einem Lande, wo der Staatspräsident seit Wochen keine Gelegenheit versäumt, um seine Freude und Genugtuung über das Wahlergebnis und das Zustandekommen der sozial-liberalen Koalition zu bekunden, dürften bereits Prinzipien fraglich geworden sein, ohne die sich '

der Begriff Rechtsstaatlichkeit nur zu leicht nach Bedarf auslegen läßt.

Dem Alltagsbürger ist es allerdings nicht nach Interpretationen: er erwartet Ergebnisse und hat dabei ein äußerst strapaziertes Toleranzvermögen, das die kommende Be-gierung mit geschickter Manipulation am Leben halten muß, um ihre Ziele überhaupt nur ansteuern zu können. Diese lauten wie folgt: die Schaffung von Voraussetzungen für das Wachstum; die Sicherung einer gesunden Zahlungsbilanz, das Senken der Inflation, der Abbau der Arbeitslosigkeit sowie die Entschärfung der sozialen Spannungen.

Nun setzen aber die außenpolitischen Zielsetzungen, die EU-Integration und die NATO-Mitglied-schaft, die konsequente Fortsetzung des Überganges zu Marktwirtschaftsstrukturen voraus. Dies bedeutet jedoch die abhängigkeitsbedingte Zusammenarbeit mit internationalen Finanzinstitutionen wie der Weltbank und dem IWF.

Mit anderen Worten: es gilt auch weiterhin die Westverschuldung in der Höhe von über 26 Milliarden Dollar zu tilgen, die die christlich-itionale Koalition vor vier Jahren von den Kommunisten übernommen hat. Hinzu kommt auch noch die mittlerweile weiter angestiegene innere Verschuldung. So wird eine vierköpfige ungarische Familie mit nicht weniger als sechzigtausend Dollar pro Jahr belastet.

Die im Programm so großspurig angekündigten Ziele können in absehbarer Zeit freilich nicht erreicht werden. Das Gebot der Stunde lautet nämlich: Vermeiden des für den nächsten Sommer fälligen Zusammenbruches der Zahlungsbilanz.

Sozialistische Wirtschaftsexperten denken seit Wochen halblaut darüber nach, daß die Gesundung der Lage so manche „im Moment drastisch erscheinende Einschnitte" unerläßlich mache.

So lasse sich - freilich zum größten Teil infolge der „verantwortungslosen Manipulationen der nun scheidenden Konservativen" - ein Anstieg der Arbeitslosigkeit bis zum Jahresende genauso wenig vermeiden, wie das Stoppen der Verteuerungen.

Für den Ausbau des sozialen Netzes gebe es leider zur Zeit keine Mittel, man werde jedoch welche flüssig machen. Fest stehe, daß die erhofften Besserungen erst in zwei Jahren fällig sein könnten. Verlangt dafür werden von der Bevölkerung wieder einmal Opfer.

Noch wird dies äußerst zurückhaltend ausgesprochen; es wäre auch unklug, jetzt schon lauter zu werden, zuerst müssen ja die alten Strukturen mit den eigenen Leuten besetzt und gefestigt werden. Eine Berufungsgrundlage ist ja schon da; man kann ja jederzeit darauf hinweisen, die Wahrheit sei von Anfang an nicht verschwiegen worden.

Nur datiert sich dieser Anfang halt nach den Wahlen. Fest steht, daß der sich nun zwischen den Erwartungen der Bürger und den Möglichkeiten der Regierung anbahnende Widerspruch das politische Geschehen in Ungarn in der nächsten Zeit maßgeblich bestimmen wird.

Internationale Kommentatoren hatten bereits nach den Wahlen im Mai lediglich von einem Denkzettel-Urnengang für die alte Regierung gesprochen, der bald die Ernüchterung folgte, mit der möglichen Rückkehr seinerzeit von der Macht verdrängter Apparatschiks konfrontiert zu sein.

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