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Skizze aus Deutschlands Westen

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Um die Lage der Bevölkerung in der englischen Zone Deutschlands zu kennzeichnen, bedürfte es im Grunde nur der Wiedergabe folgender Londoner Meldung vom 8. November, die in die Schweizer Presse Eingang fand:

„Verantwortlidie britische Stellen erklären, ein Zusammenbruch der Brotversorgung stehe noch nicht fest. Die britische Regierung sei jedenfalls nicht gewillt, für England bestimmte Lebensmittel nach Deutschland abzuzweigen. Die britischen Getreidevorräte seien geringer als vorgesehen. Dringende Lebensmittel- und Kohlenlieferungen für Deutschland werden seit dem 1. November durch einen Dammbruch des Dortmund-Ems-Kanals aufgehalten. Britisdie Pioniere werden, wie man hofft, den Damm bis zum 20. November repariert haben, bis dahin bleibt der gesamte Schiffsverkehr zwischen Rhein und Ems gestört.“

Mit wenigen Sätzen ist in dieser englischen Meldung die Situation im Rhein-Ruhrgebiet klar umrissen. Seit dem Frühjahr ist es im Rhein-Ruhrgebiet immer schlechter geworden. Ein grauenhafter Winter steht bevor. Das rheinisch-westphälisohe Industriegebiet war, so paradox es klingt, buchstäblich schon ohne Kohle, bevor der Dammbruch des Dortmund-Ems-Kanals geschah. Wohl liefen noch Kohlenzüge nach allen Seiten der Windrose, die Bevölkerung aber hat keine Kohle, um sich auch nur ihr Essen zu kochen, geschweige denn zu heizen. Idi selbst habe unterwegs, als ich mich als Heimkehrer bei der Familie eines Freundes ein paar Tage aufhielt, mit meinem Freunde zusammen Kohlenstückchen um Kohlenstückchen aus dem zerstörten Ruhr-Lippe-Kanal geholt, sie in einem Tümpel vom Schlamm gereinigt, sonst wäre kein Brennstoff dagewesen, um das Essen au bereiten. Zugeteilt wurde der Bevölkerung nur unzureichender Koksaibfall, hier, wo rundum unter der Erde Kohle und noch einmal Kohle ist. — Auch die Lebensmittelnot hat sich verschärft. Menschen, die ich noch im Herbst 1945 gesund antraf, fand ich nun mit täglichen Schwächeanfälle kämpfend. Seit vorigem Jahr ist dieses Gebiet von tausenden und abertausenden Evakuierten, Ausgewiesenen und Flüchtlingen aus dem Osten in einer wahren Völkerwanderung überschwemmt, die ihresgleichen in der europäischen Geschichte sucht. Das Zusammentreffen dieser Notstände im englisch besetzten Gebiet übersteigt auch die Kräfte einer gutwilligen Verwaltung für eine geregelte Wirtschaftsplanung. Es ist anzuerkennen, daß die oberen Stellen der Besatzungbehörden der drei westlichen Zonen das Ihre zu tun tradi-ten. Sie mußten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ganz von vorne anfangen, da der Nationalsozialismus mit seiner Personalpolitik den ganzen Verwaltungsapparat in die Parteimaschine hineingezwungen hatte und in dem Augenblick, als diese zum Stehen kam, ein leerer Raum geschaffen war, in dem alles von Neuem unter den schwierigsten Umständen eingerichtet werden mußte. Diese Hindernisse werden da und dort durch eine untergründige Sabotage vermehrt, die in dem großräumigen Deutschland schwierig zu übersehen und zu fassen ist.

Politik, positive, aufbauende Politik gegenüber diesen Erscheinungen? Politik sei die Kunst des Möglichen, hat einmal einer gesagt und seitdem sagen es viele immer wieder. Politik im heutigen Nachkriegsdeutschland? Die Menschen aller Ridnungen, Konfessionen und Berufsschiditen sind durch den Extremismus de- verflossenen Regimes der Teilnahme am öffentlichen Leben in einem Maße entfremdet worden, das zuweilen erschreckend ist. Von Hamburg bis Freiburg, von Köln bis München hört man immer wieder: „Wir sind durch die NSDAP ins Elend gebracht worden, wir trauen niemandem mehr!“ Bei Wahlen wirkt noch die überlieferte Disziplin mit, daß man zur Wahl geht. Aber hinter dem äußeren Bilde der Wahlstatistiken verbirgt sich ein SkeptizisJ mus, den nur die Zeit und die Bewährung der Parteien überwinden wird. Parteiversammlungen sind schlecht besucht und kein Seltenheit ist es, daß von tausend Wahlberechtigten einer sonst politisch aufge-* schlossenen Gemeinde zehn bis zwanzig, kn besten Falle vierzig bis fünfzig Menschen als Versammlungsbesudier festzustellen sind. Es wird noch eine gute Weile brauchen, bis diese Ermüdung einer freudigen oder auch nur zweckbedingten Mitarbeit gewichen sein wird. Und dies, obwohl die Parteien gegenüber der Vergangenheit bedeutend wirklichkeitsnäher geworden sind. Da es bis jetzt keine Reichsregierung gibt, besteht seit Kriegsende eine Art förderativer Regionalismus mit der Tendenz der stammesmäßigen Aufgliederung des Reichsgebietes in Bundesländer. Das Fehlen der Zentralregierung macht jeden fruchtbaren Ausgleich schwieriger als anderswo. Wenn eine einheitliche Transformatorenstation für die Umspan-nung der verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Kraftströme fehlt, dann sind nur zu viele Zufälligkeiten vorhanden, die den Lauf der Dinge stören. Das fallweise Zusammentreffen der verschiedenen Ministerpräsidenten der Einzelländer, mit dem man heute die gemeinsamen Interessen zu bestreiten sud.it, ist ein Notbehelf, über dessen fragliche Nützlichkeit sich heute auch alliierte Stellen nicht im unklaren sind.

In Österreich beklagt man sich über che Behinderungen, die dem Verkehr und dem Wiederaufbau durch die Zonengrenzen gesetzt sind. Gewiß sind diese Behinderungen empfindlich. In Deutschland gibt es aber auch Grenzen innerhalb der Zonen. Ohne eigenen Passierschein ist es zum Beispiel dem Südwürttemberger oder Südbadcner nicht möglich, in ihre Landeshauptstadt Stuttgart beziehungsweise Karlsruhe zu gelangen. Es kann ohne Formalitäten und Hindernisse kein Obst aus dem Badischen ins Württembergische gebracht werden, obwohl es sich nur um Transporte innerhalb der französischen Zone handelt. Ebenso schmerzlich wurde bisher die geistige Abgeschlossenheit empfunden, die bis heute den Zeitungsverkehr mit dem benachbarten Ausland verhindert. Immerhin beginnen sich jetzt diese Fesseln zu lockern; namentlich in dem immer schon demokratisch orientierten Westen und Südwesten, in den an die Schweiz und an Frankreich grenzenden Gegenden findet bereits ein lebhafter Austausch von Geistesgütern statt, werden frühere Beziehungen wieder neu geknüpft. Die Universitäten Tübingen und Freiburg im Breisgau führen in der Herstellung dieser geistigen Zusammenarbeit. Gastvorlesungen bedeutender französischer Wissenschaftler bringen alte Erinnerungen zum Klingen, so als der feinsinnige Professor Graf d'Har-court in deutscher Sprache über Goethe und seinen Einfluß auf Frankreich sprach. Um-sdiulungstagungen von Schulmännern aller Kategorien, wie sie in der französischen Zone des Südwestens immer wieder stattfinden, knüpfen an die besten Traditionen früherer Zeiten an. Neue Schulbücher, ausgerichtet an guten Vorbildern aus der benachbarten Schweiz, helfen die Jugend in neuem Geiste friedlicher Art zu erziehen. So sind bei allem Elend der Nachkriegszeit doch auch Lichtblicke festzustellen, nicht zuletzt auf religiösem Gebiet, wo die wohlwollende Toleranz ein geistiges Hand-in-Handgehen von Katholiken und Protestanten zur Förderung gemeinsamer Interessen und ein freundlicher Ideenaustausch nicht bloß eine vorübergehende Erscheinung nach den schweren Zeiten der Verfolgung ge blieben sind, sondern sich wachsend bewährt haben. *

Nach und nach ergibt sich eine beiläufige Übersicht über die schweren Verluste, die der Krieg der Wissenschaft auf dem Gebiete des wissenschaftlichen deutschen Bücherei-“wesens zugefügt hat.

In der Preußischen Staatsbibliothek und der Universitätsbibliothek Berlin sind einige der kostbarsten und nicht ersetzlichen Abteilungen vollkommen vernichtet; vor allem sind sämtliche Inkunabeln, die Erstausgaben der deutschen Literatur bis 1830, die illustrierten Bücher bis etwa 1850 verloren. Sehr schwer getroffen ist die ältere Literatur zur englischen und italienischen Geschichte, zur Soziologie. Philosophie und die kunstgeschichtlichen Tafelwerke. Die Handbibliothek des großen Lesesaals der Preußischen Staatsbibliothek, ungefähr 300.000 Bände. Nachschlagewerke, Lexika. Bibliographien, Wörterbücher, Handbücher, die wichtigsten Lehrbücher und Textausgaben aMer Fächer, ist vollständig zerstört. Auch mit dem Verlust der Handbibliothek der Inkunabelnabteilung, 2200 Bände, muß gerechnet werden.

Die Münchener Staatsbibliothek hat von ihrem Bestand von rund 2,250.000 Bänden etwa 1-800.000 gerettet. Etwa 50 0.0 00 sind beim Brand des Gebäudes in der Ludwigstraße verlorengegangen, darunter alle Werke über die Geschichte der Antike, der Völkerwanderung und des byzantinischen Reiches, fast die ganze theologische Literatur, die durch besondere Vollständigkeit berühmte Bibelsammlung, die ganzen Abteilungen für Volkswirtschaft und Kunstwissenschaft. Auch die Schriften sämtlicher Akademien der Erde und die Dissertationen von 1910 bis 1940 sind restlos zerstört worden. Unter den geretteten Schätzen befinden sich die Handschrift des Wessobrunner Gebets und die älteste Handschrift des Nibelungenliedes.

Die Stuttgarter Landesbibliothek hat von ihren 1,125.000 Bänden rund die Hälfte verloren. Die gesamte in-und ausländische Literatur seit 1930, einschließlich Zeitungen und Zeitschriften, ist vernichtet. Erhalten sina aber die alten Handschriften, alte Drucke, Bibeln und einige geisteswissenschaftliche Fachgebiete.

Die Würzburger Universitätsbibliothek verlor durch den Krieg 180.000 Bände und 160.000 Dissertationen.

Schwere Verluste hat die Bibliothek der Technischen Hochschule Aachen erlitten: ungefähr 45 Prozent ihres Bestandes sind vernichtet worden, und zwar gerade die ausgelagerten, wichtigsten Bände. Die Technische Hochschule Dresden hat den größten Teil ihrer Bibliothek verloren. Zum Glück blieben fast zur Gänze die Bibliothek des Germanischen Museums in Nürnberg und die 60.000 Bände des Frankfurter Goethe-Hauses gerettet. *

In einem Bericht an die Provinzialsynode der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg entwirft Bischof D i b e 1 i u s ein erschütterndes Bild der Zerstörungen an sittlichem Volksgut, denen sich in dem ehemaligen Zentrum der nazistischen Herrschaft che Seelsorge gegenübersieht:

„Wer einen tieferen Einblick in die Lage nehmen kann, steht immer wieder fassungslos davor, was aus dem deutschen Volk geworden ist. Mütter verlangen ihre geschlechtskranken Töchter aus ihrem Berliner Krankenhaus heraus, weil sie ohne deren sündhaftes Gewerbe nicht existieren könnten; rund um Berlin plündern große Mengen von Menschen Kohlenzüge aus und setzen allen Vorhaltungen des Pastors entgegen, daß man endlich einmal zu seinem Recht kommen müßte. Ständig mehren sich die Fälle von Kindermißhandlungen. Unter den halbwüchsigen Jungen bis zu den Siebenjährigen hinunter stehen dunkle Tauschgeschäfte im Vordergrund des Interesses. Und bei denen, die sich von den größten Verfehlungen fernhalten, sind Ungezählte, die immer noch nicht willens sind, sich unter das Gericht Gottes zu stellen .. . Und über den andern wiederum, die dazu wirklich bereit sind, liegt der Bann einer unendlichen Hoffnungslosigkeit, der sie an etwas Ernstes nidit mehr denken läßt... In ein solches Volk hinein hat die evangelische Kirche das Evangelium von Jesus Christus zu tragen.“

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