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Soziale Triebkräfte in der 1848er Revolution

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Welche Fragen und Hauptgründe bei Entstehung und im Ablaufe einer Revolution in ihrer Bedeutung den ersten Platz einnehmen, darüber wird Einhelligkeit der Meinungen wohl niemals zu erreichen sein. Der Reihe nach treten die Probleme meist neben- und durcheinander, in ihrem Hauptakzent jedoch hintereinander auf, um einander abzulösen und zu verdrängen oder auch zu überschneiden und zu durchdringen. Den Miterlebenden, aber auh den Nachfahren liegen nicht immer die gleichen Dinge am Herzen. Der Drang nach Freiheit und auch das Bedürfnis, eine bessere Ordnung der Verhältnisse herbeizuführen, bringt die Menschen dazu, die Lösung auf dem Wege einer Verfassung oder einer religiösen Reform, einer Sicherung der Rechte des Individuums oder einer sozialen Gesetzgebung zu suchen. Je mehr sich die Verhältnisse gegen eine gewaltsame Lösung hin zuspitzen, desto größer wird der Kreis der Menschen, die in der kommenden Umwälzung eine Chance und eine Gelegenheit erblicken, unerfüllte Wünsche zu verwirklichen. So ist jede Revolution — nicht in ihrem ganzen Ablauf, aber in einer bestimmten Phase — eine Massenbewegung, die auch mit den komplizierten Methoden der Massenpsychologie Verstanden, sein will.

In diesem Stadium wird das soziale Problem, die Frage des Verhältnisses des Menschen zum Menschen und des einzelnen zur Gesamtheit, brennend und dringend, mitunter sogar zum wichtigsten. Jede Revolution ist — neben ihrer Bedeutung in anderer Hinsicht — wichtig als Wirkung und auch als Ursache der Entstehung neuer, der Verdrängung alter Gesellschaftsscbichten und einer Veränderung im ganzen der Gesellschaft. Jede Revolution steht daher im Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Krise. Aus ihr, der Krise, steigen mitunter die wirkungsvollsten Kräfte für die Revolution und ihren Ablauf emyor.

Das ungeschulte soziale Bewußtsein des österreichisdien „Vormärz” ließ den Menschen dieser Zeit das soziale Problem nicht ganz deutlich werden. Das 18. Jahrhundert hatte Ansätze zu einer Lösung sozialer Fragen gebracht. Unter Maria Theresia war das Heer der Arbeiter durch die Manufakturen vergrößert worden, es gab gelegentlich Inspektion der Fabriken, auch in bezug auf Hygiene, unter Joseph II. kam es zu Gesetzen zum Schutze der arbeitenden Kinder und zur Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft. Unter Kaiser Franz waren diese Ansätze nicht ausgebaut worden. Die durch die napoleonischen Kriege angespannte wirtschaftliche Lage verschärfte sich nach 1815, die mächtige englische Konkurrenz hemmte die wirtschaftliche Entwicklung des Kontinents, so daß Österreich bis 1825 vorwiegend Krisenjahre erlebte. Metternichs Streben, das Volk durch wirtschaftliche Wohlfahrt von der politischen Tätigkeit fernzuhalten, konnte nicht verwirklieht werden. Das Erfinder- und Ma- sehinenzeitalter war angebrochen, es kam zur Gründung polytechnischer Institute — so 1815 in Wien —, aber der Wirtschaft fehlte die Möglichkeit zur vollen Entfaltung und ihre Methoden waren veraltet.

So tauchten neue soziale Probleme auf, bevor die alten befriedigend gelöst waren. Die Lage der Bauern war noch immer schwierig genug. Waren auch die Ganz-, Halb- und Viertellöhner recht ungleich gestellt — über 100 Tage im Jahre Arbeit für die Grundherrschaft waren nicht selten. Dazu kamen Abgaben sowie Belastungen durch das Jagdrecht und durch die grundherrliche Kriminaljustiz und -polizei, Erschwerungen durch Steuern und eine in der Regel 14 jährige Dienstzeit. Rechtsmittel oder Beschwerden kamen oraktisch nicht in Frage.

Es wird nicht leicht zu entscheiden sein, wer von beiden, der Bauer oder der gewerbliche Arbeiter, durchschnittlich ein schwereres Los zu tragen hatte. Bei allen Härten für den einzelnen spielte jedoch die Arbeiterfrage in Vorarlberg, in Niederösterreich und in der Nähe der Groß-

Städte in der Hauptsache nur eine lokale Rolle, während bei der damals überwiegend agrarischen Grundlage der österreichischen Monarchie in allen ihren Teilen das bäuerliche Problem tatsächlich zur Lebensfrage für den gesamten Staat wurde.

Die Situation änderte sich einschneidend etwa seit 1840. Der Dampf- und Maschinenbetrieb, bis dahin nur gelegentlich angewendet, nahm größeren Umfang an. Hatte die Tätigkeit der Fabriken bisher nur einzelne Zweige der Metallbearbeitung und der Lebensmittelindustrie, zum Beispiel die Zuckerfabrikation, umfaßt, so griff sie nun stärker auf die Textilindustrie, vor allem die Baumwollspinnerei über. Stärker wurde auch der Unterschied zwischen dem bürger- lichen und dem proletarischen Wien, der Hauptstadt und den Vorstädten, der sich 1848 in krassem Lidite zeigte. Dabei ist die starke Förderung der industriellen Unternehmungen nur zum geringen Teil ein Werk des Bürgertums gewesen. Als Besitzer von Glashütten und Bergwerken, als Begründer von Fabriken, als Förderer der seit 1828 erfolgreich veranstalteten Industrieausstellungen finden wir sehr zahlreich aristokratische Namen. In Politik und Wirtihaft zeigte sich ein großer Teil düs Adels den neuen Ideen aufgeschlossen.

Und die Haltung des Staates? Er zeigte guten Willen, ohne daß dabei vie) herausgekommen wäre. Noch immer war etwas von dem alten josephinishen Geiste lebendig, der die Förderung des allgemeinen Nutzens und der Volkswohlfahrt als seine Aufgabe betrachtete. Jedoch der Grundsatz: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk”, war auf ein sehr bescheidenes Maß reduziert worden. Wohl sehen wir auch die ständisch gegliederten Landtage nicht ganz untätig; in der Steiermark und in Niederösterreich,’aber auch in Vorarlberg und in Tirol sind soziale Probleme wiederholt zur Sprache gekommen.

Seit 1834 kam es unter dem Eindruck der zunehmenden Verkehrs- und Betriebsunfälle in Vorarlberg, Niederösterreich und Tirol zur Anregung einer Arbeiterschutzgesetzgebung, besonders für Kinder. Von einem Schutz für Erwachsene war keine Rede, nicht einmal die Höchstarbeitszeit von 13 Stunden konnte gesetzlich festgelegt werden. Für Jugendliche unter 18 Jahren wurde die Nachtarbeit, für Kinder unter 12 Jahren jede gewerbliche Arbeit überhaupt verboten. Doch noch immer wurden neun- und zwölfjährige Kinder zur Arbeit eingestellt und um 1840 war in den Baumwollspinnereien über ein Drittel der Beschäftigten noch nicht vierzehn Jahre alt. Dreimal stellte die Hofkanzlei in den Jahren 1843 bis 1846 den Antrag, Höchstarbeitszeit und Minimallöhne festzulegen — dreimal scheiterte sie an den Gegenvorstellungen des niederösterreichischen und des böhmischen Gewerbevereins.

So fand die 1848 ausbrechende Revolution in den industriellen Gebieten schon ein ausgesprochenes proletarisches Klassenbewußtsein vor. Noch gab es kaum Organisationen, man kannte kein Koalitionsrecht, Einstellung der Arbeit wurde schwer bestraft, Selbsthilfe war so gut wie unbekannt, nur bei den Buchdruckern und Schriftsetzern gab es Unterstützungsvereine.

Die Monate der Wiener Revolution vom März bis zum Oktober 1848 rollten zwei Seiten des Sozialproblems besonders vordringlich auf. Das erste war die soziale Lage der Studenten. Zum weitaus überwiegenden Teil armer Leute Kinder, gerieten sie bald in die dürftigste Lage. Das ohnedies arge Wohnelend traf sie besonders schwer. Zum Teil gänzlich ohne Unterkunft, verdienten sie ihren Lebensunterhalt meist durch Nachhilfestunden, die sich in der unruhigen Zeit meist von selbst aufhörten. So bildete sich ein geistiges Proletariat, dessen Haltung 1848 wesentlich zur Verschärfung auch der politischen Gegensätze beitrug.

Das zweite war das Erdarbeiterproblem. Ähnlich wie in Paris vergab auch die Regierung in Wien Gelegenbeits- und Erdarbeiten, um den etwa 10.000 bis 20.000 ungelernten Arbeitern Unterhalt zu gewähren. Der völlige Mangel an Erfahrung im Organisieren, das starke Zuströmen vielfach unwürdiger Elemente, die schwere Belastung der staatlichen Finanzen und die klassenkämpferische Haltung der Erdarbeiter — besonders während der Oktoberrevolution — stempelten diese Frage zu einem sehr aufschlußreichen bevölkerungs- und sozialpolitischen, verfassungsgeschichtlich und arbeitsrechtlich interessanten Problem, an dessen Lösung Fischhofs Sicherheitsausschuß und Scherzers Arbeiterbildungsverein schließlich ebenso scheiterten wie das Arbeiterkomitee des Arbeiterkönigs Willner und Tausenaus Zentralausschuß der demokratischen Vereine.

Auch im Wien-Kremsierer Reichstag ist die Frage wiederholt zur Sprache gekommen. Die Abgeordneten Bittner, Füster, Kudlich und andere nahmen wiederholt dazu Stellung. Doch brachte der Reichstag in sozialrechtlicher Hinsicht nicht einmal Fntwürfe zustande und so ist die 1848er Revolution für die Entwicklung einer sozialen Gesetzgebung in Österreich — trotz Ansätzen — kein Ausgangspunkt geworden.

Doch wäre es falsch, dieses Scheitern dem einen oder dem andern als persönliche Schuld in die Schuhe zu schieben. Mangel an gutem Willen und Mangel an Initiative erklären viel, jedoch nicht alles… Österreichs soziale Struktur stellte die Bauernfrage nach ihrer Wichtigkeit an die erste Stelle und hier hat die Revolution trotz Widerständen von konservativer Seite ihre eigentlich bahnbrechenden Erfolge errungen. Die bäuerliche Erbuntertänigkeit wurde aufgehoben und die völlige Befreiung des Bauern in Österreich gestaltete sich zur größten weltgeschichtlichen Tat des Jahres 1848 überhaupt. Sie und die starke Anlehnung des Bürgertums an die konservativen Mächte haben die Rückkehr des Absolutismus möglich gemacht und es ist durchaus naiv, hier von einem „Verrat” an der Revolution zu sprechen. Der in den Fünfzigerjahren einsetzende wirtschaftliche Aufschwung hat diese Haltung historisch gerechtfertigt und durch Schaffung neuer Arbeit das soziale Problem für lange Zeit entspannt. Im Jahre 1848 war weder das Bürgertum noch das Proletariat imstande gewesen, den politischen Kurs von sich aus zu bestimmen. Das Bürgertum hat, indem es die stärkste Stütze dh absoluten Beamtenstaates wurde, sozialgeschichtlich konsequent und richtig gehandelt und wir sind durchaus berechtigt, das Jahr 1848 in erster Linie als Jahr der bürgerlichen Revolution zu betrachten. Dem kulturellen Aufstieg des Bürgertums in der Biedermeierzeit tritt am Ende des Jahrhunderts seine politische Entfaltung gegenüber. Dazwischen steht — in der Mitte des Jahrhunderts — seine wirtschaftliche Emanzipation, für die das Jahr 1848 das epochemachende Ereignis geworden ist.

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