6560426-1948_45_05.jpg
Digital In Arbeit

Spanien in der Skizze

Werbung
Werbung
Werbung

Dem Mitteleuropäer ist kaum bewußt, welch tiefer Einschnitt in der geistigen Geschichte Spaniens, heraufreichend bis heute und erst so recht das Heute verständlich machend, vor 300 Jahren der Westfälische Friede war. Spanien, das an der Seite des Kaisers am Kampf teilgenommen hatte, sah damals mit Befremden, wie Mitteleuropa seinen Frieden in der Uneinigkeit — in der Gewährung der Religionsspaltung unter dem Titel der religiösen Freiheit — begründete, und wie das Kaiserhaus, dem es durch heilige Allianzen und die persönlichen Bande der beiden Herrscherhäuser eng verbunden war, die gemeinsamen Interessen in einer für die spanische Auffassung nicht verständlichen Weise preisgab. Damals begannen Österreich und Spanien getrennte Wege zu gehen. Es zerbrach die habsburgische Staatsidee und — es verlöschte der Glanz des spanischen Namens über den Erdteilen.

Seit jenem Friedensschluß zu Münster und Osnabrück gewöhnte sich Spanien immer mehr daran, „mit dem Rücken zu Europa“ zu leben, „sein Gesicht Amerika und Afrika zugewandt“. Das was ihm nicht vergönnt war, im Verein mit dem Kaiserreich Europa zu geben, das schenkte es Amerika von der Magalhaenstraße bis Kalifornien: das Erbe lateinischer Kultur in ihrer glücklichsten Form, die religiöse Einheit und die Kraft und den Unternehmungsgeist seiner besten Söhne. Durch drei Jahrhunderte arbeitete Spanien an der Formung eines halben Erdteils.

Und wenn wiederum heuer vor fünfzig Jahren die Flotte der Vereinigten Staaten von Nordamerika vor Santiago de Cuba das überalterte spanische Geschwader zu- sammenkanonierte und als Folge des verlorenen Krieges die letzten spanischen Besitzungen in Westindien und Ostasien — Kuba und die Philippinnen — dem Mutterland verlorengingen, so brachte Spanien damit nur das läuternde Opfer, mit dem es die Sünden und Irrtümer an seinem kolonialen Werk — Menschenwerk — bezahlte. Das von den Nationalisten der älteren Generation so tragisch empfundene Jahr 1898 sah Spanien gleichsam enttäuscht nach einem Europa zurückkehren, in dem es fremd geworden war und in dem es scheinbar noch heute fremd und unverstanden — und auch selbst Europa oft nicht verstehend — lebt.

Am 1. April 1939 feierte das „neue Spanien" seinen „Dia de la Victoria“ über die kurzlebige Republik, die seit der Abdankung Alfons XIII. vergeblich versucht hatte, die sich so betont voneinander absondernden Gesellschaftsklassen des Landes in eine Gleichung einzugliedern. Es war ihr nicht gelungen. Der Adel grollte, weil ihm der Einfluß genommen war, den er Jahrhunderte hindurch auf die Königshäuser ausgeübt hatte, deren Stärke oft nicht die Kunst des klugen Regierens zu sein schien; der hohe Klerus zog sich aus demselben Grunde und in dem Moment eisig zurück, da er erkannte, daß die Republik ihn ausschließlich in seinem religiösen Bereich zu sehen wünschte. Und mit ihm stellte sich die katholische Kirche Spaniens als Ganzes in die Opposition, als der Liberalismus die antikirchliche und antireligiöse Propaganda im Lande entbrennen ließ, den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen beschränkte und die staatliche Scheidung katholisch geschlossener Ehen einführte. Damit waren die empfindlichsten Stellen in einem Lande getroffen, dessen kirchliche Mächte im Laufe der Geschichte oft auf recht autoritäre Weise die Geschicke des Landes bestimmt hatten. Es grollten die Militärs von dem Moment an, da sie über die Nützlichkeit oder Sinnlosigkeit ihrer Unternehmungen — Marokkokriege und Rüstungsausgaben — einem Parlament Rechenschaft abgeben mußten, das eine ständig zunehmende pazifistische Einstellung an den Tag legte.

Damit sind die maßgebenden Faktoren des spanischen Lebens schon erschöpft. Denn das Großunternehmertum verhielt sich zurückhaltend. Soweit es außerdem in Biskaya und Katalonien verankert ist, ging es besonders vorsichtig vor, um mit den regionalen und sozialen Tendenzen jener Landesteile nicht in Konflikt zu geraten.

Das Proletariat hat aufgehört, eine entscheidende Rolle im öffentlichen Leben Spaniens zu spielen. Der Sturz der verhaßten Diktatur Primo de Riveras und die Abschaffung der Monarchie waren Siege einer Arbeiterbewegung, die in Spanien — vielleicht weil sie sah, daß sie rein zeitlich hinter den Errungenschaften ihrer revolutionären Schwesterbewegungen im übrigen Europa zurück war — ungleich leidenschaftlicher und verbissener kämpfte als in anderen Ländern, wo auch aus den Reihen der Großunternehmer, der hohen Aristokratie und selbst herrschender Fürstenhäuser Wortführer des Sozialismus hervorgegangen waren. Die Anteilnahme hervorragender Autoritäten der spanischen Geisteswelt an den Bestrebungen des Arbeitertums war schwach und inkonsequent.

Die Periode der Republik von 1931 bis 1938 war von schweren Klassenkämpfen überschattet, Streiks, Gewaltakte, Aufstände, Bürgerkriege jagten einander, denn mit Monarchie und Diktatur waren nur die äußeren Symbole der drei mächtigsten Stände gefaljen, diese selbst jedoch waren geblieben, und besonders der Adel widersetzte sich eigensinnig jeder Konzession an eine Klasse, die für ihn überhaupt aus jeder Betrachtung ausschied.

Franco war eine Kompromißlösung, welche die zwei anderen führenden Schich- ten, Militär und Geistlichkeit, gutzuheißen ."gewillt waren. Während er dem Volk die ‘endliche Verwirklichung eines sozialen Programms durch die Bewegung des Fa- langismus ankündigte, suchte er doch auch die traditionellen Klassen und ihre Privilegien schonend zu behandeln. Die Beilegung des Klassenkampfes, des Bürgerkrieges, so erklärte er mit fester Zuversicht, würde es seiner Regierung erlauben, alle Kräfte auf den friedlichen Aufbau der Nation, Förderung von Wirtschaft und Handel, Modernisierung von Landwirtschaft, Technik und Verkehr zu konzentrieren.

In den Jahren, in denen Europa durch die Hölle des Krieges taumelte, lachte über Spanien der blaue Himmel des Friedens. Die Trümmerfelder seines eigenen Bürgerkrieges wurden weggeräumt, einzelne vollkommen zerstörte Städte, wie Eibar und Guernica an der ehemaligen Nordfront, wo die Flak der deutschen „Legion Condor“ ihre Langrohrgeschütze im Erdbeschuß ausprobiert hatte, sind modern „im amerikanischen Stil“, wie ihre erstaunten Einwohner sagen, wiedererrichtet worden. Die Madrider „Ciudad Universitaria", drei Jahre lang Frontgelände, erhebt sich heute stolz mit ihren großzügigen Bauten, ins Grün gepflegter Anlagen gebettet. Die Industrie- und Handelszentren des Nordens bieten den Anblick sich rapid ausbreitender Wohn- und Werkhallenzentren in Terrains, die vor einem Jahrzehnt Bruchgelände und freies Feld waren. So Bilbao, das danach strebt, offiziell „Groß-Bilbao“ genannt zu werden, Gijon, die letzte, einst schwer beschossene Bastion der Republikaner an der Nord- front. La Coruna und Vigo, die wetteifernden, auf einander eifersüchtigen Überseehäfen der Atlantikküste, haben von ihrer seit mehr als einem halben Jahrhundert von keinerlei Kriegsereignissen gestörten Lage Nutzen gezogen. Die Hafenanlagen sind erweitert, ihre blühende Konservenindustrie, die als einzige Europas im Kriege voll pro- duktionsfähig geblieben war, schloß Millio- nengeschäfte ab, und einst armselige Fischerpatrone, Analphabeten, sind heute angesehene Konservenbarone mit traumhaft schönen Villen an den lieblichen, fjordähn-liehen „Rias" Galiciens, mit Cadillac- Limousinen und allem, was dazugehört.

Das sind die Eindrücke, die die ausländischen Journalisten empfangen, die für vier oder sechs Wochen das Land bereisen und es dann voll Lob und Bewunderung verlassen. Aber es ist nicht alles so, kann wohl auch nicht alles so sein. Die Bilder jagen, summieren sich, plus, minus, plus, minus …

Vor zehn Jahren erhielt ein Bankprokurist ein Gehalt von 600 Peseten. Ein Paar Straßenschuhe kosteten ihn 25 Peseten. Heute erhält derselbe Prokurist 1200 Peseten Monatsgehalt, seine Schuhe kosten ihn jedoch 250 Peseten. Das Mißverhältnis der Preise und Löhne drückt auf die Wirtschaft und das öffentliche Leben. Die sozialen Errungenschaften des Franco-Regimes, ausgeprägt in dem großen System der Invaliden-, Alters-, Hinterbliebenenversicherung und die Arbeitslosenfürsorge, sind bedeutend. Aber bekanntlich schätzt man das, was man besitzt, weniger als das, was man haben möchte. Unzulänglichkeiten der Verwaltung, ein schwer beweglicher Bürokratismus tut das ihre, um Unzufriedenen die Kritik zu erleichtern.

Alle Jahre entgleist der Galicienexpreß zwischen. Madrid und ‘ der Nordwestküste zwei-, dreimal an derselben Stelle, wo er schon vor zehn und fünfzehn Jahren entgleiste, die Eisenbahnwagen scheinen dieselben wie damals zu sein. Die Straßen-wärter der Autostraßen wollen sich offenbar so lange nicht um die von Jahr zu Jahr tieferen und zahlreicheren Schlaglöcher kümmern, als bis sie die Straße nicht selbst im eigenen Wagen ausprobieren können. Die Zeitungen schreiben immer noch Konstruktionskontrakte für Flughäfen aus, die vor zehn Jahren von den Deutschen begonnen wurden und bis jetzt noch nicht vollendet werden konnten. Groß-Bilbao nimmt ein Kanalbauprojekt in Angriff, das schon vor zwanzig Jahren beschiessen und dessen Gelände schon damals dem Privatbesitz enteignet worden war. Die Bewohner der Gebäulichkeiten haben das längst vergessen oder sie haben gewechselt und wissen von nichts. Unter großen Feierlichkeiten wurde der Grundstein zu einem Denkmal für „Virgen del Carmen“, der Schutzpatronin der Meere, gelegt, nun ist er traurig und vergessen auf einer Mole des Außenhafens von Bilbao festgemauert und abends stolpern über ihn bei elektrischen Lichtbeschränkungen die Leute; vielleicht wird einmal in fünf oder zehn Jahren tatsächlich an den Bau des Denkmals gegangen werden. Nur wer Spanien jahrelang ferngeblieben ist, steht überrascht vor augenfälligen tatsächlichen Fortschritten. Aber der unförmig aufgeblähte und verästelte Behördenapparat drosselt jede Regung freien Unternehmergeistes.

Das weiß man auch in den Büros der ausländischen Vertretungen der „bevollmächtigten Geschäftsträger“, welche die größtenteils aus Madrid zurückgezogenen Gesandten und Botschafter ersetzen. Besonders weiß man das in der amerikanischen Gesandtschaft, aber auch, daß dieses Land es nicht leicht hat.

Immer noch müssen die „moros", die marokkanischen Elitetruppen, abgelegene Kleinstädte, einsame Bahnstrecken und Gebirgspässe besetzt halten, und die Blockstellen der „Guardia Civil“ stehen an allen Ausgängen der Gebirgstäler. Bis vor einem Jahr war es — ausgenommen den Mitgliedern der Falange — keinem Bewohner Spaniens erlaubt, eine Reise auch nur in eine fünfzehn Kilometer entfernte Nachbarbarstadt zu unternehmen, ohne vorher um eine Spezialerlaubnis, den „salvoconducto“, bei der Polizei anzustehen. Kühne Überfälle auf Bankzentralen in Madrid und Barcelona …, die alten Terroristen der CGT, FAI, der CNT und der Anarchisten sind noch nicht ganz ausgerottet und melden sich von Zeit zu Zeit, und die Pyrenäengrenze läßt trotz scharfer Bewachung oft ein Schlupfloch herüber und hinüber offen. Doppelposten in Bahnhofshallen, Post- und Telegraphenämtern, an Eisenbahnbrücken, Tunnels, Posten vor Bankgebäuden und ausländischen Konsulaten. — Das ist die spanische Gegenwart. Nein, dieses Land hat es nicht leicht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung