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Spengler nach einem halben Jahrhundert

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DER UNTERGANG DES ABENDLANDES. UMRISSE EINER MORPHOLOGIK DER WELTGESCHICHTE. Von Oswald Spengler. XV, 124s Selten. Mit 3 Falttafeln. Preis 28 DM. — BRIEFE 1913—1936. Von Oswald S p e n g I e r. Mit Manfred Schröter herausgegeben von A. M. Koktanek. 818 Selten. Mit 4 Abbildungen und 2 Faksimiles. Preis 28 DM. Beide: C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München-Berlin.

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DER UNTERGANG DES ABENDLANDES. UMRISSE EINER MORPHOLOGIK DER WELTGESCHICHTE. Von Oswald Spengler. XV, 124s Selten. Mit 3 Falttafeln. Preis 28 DM. — BRIEFE 1913—1936. Von Oswald S p e n g I e r. Mit Manfred Schröter herausgegeben von A. M. Koktanek. 818 Selten. Mit 4 Abbildungen und 2 Faksimiles. Preis 28 DM. Beide: C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, München-Berlin.

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Vor bald einem halben Jahrhundert erschien 1918 der erste Band, „Der Untergang des Abendlandes“, und seither hat dieses 1922 durch einen zweiten Band ergänzte Werk in aller Welt seinen Platz behauptet, in der Auflage das 157. Tausend erreicht. Die Veröffentlichung einer vollständigen Ausgabe in einem Band ist jetzt um so notwendiger geworden, als eine Auseinandersetzung mit „A Study of History“ von Arnold Toynbee nur im Vergleich mit Spengler möglich sein wird. Spengler schrieb 1917: „Der Titel, seit 1912 feststehend, bezeichnet in strengster Wortbedeutung und im Hinblick auf den Untergang der Antike eine welthistorische Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte, in deren Anfang wir gegenwärtig stehen.“ Trotz dieser Erläuterung hat der Buchtitel zu zahlreichen Um- und Fehldeutungen Anlaß geboten. Deutlicher war noch der Autor im Jahre 1913 mit dem Satz, der Untergang des Abendlandes habe bereits begonnen, „daß wir ihn heute schon deutlich in und um uns spüren“. An der starren Vision von der Unvermeidlichkeit des Unterganges ändert es wenig, ob der Untergang früher oder aber erst später einmal eintreten soll.

Viel mehr als über den Titel wäre über das Abendland nachzudenken. Es ist wohl kaum zu bezweifeln, daß das eigentliche, durch religiöse Einheit geformte christlich-universelle Abendland des Mittelalters zunächst durch die Glaubensspaltungen, dann durch den Nationalismus, endlich durch die beiden letzten Weltkriege, wenn auch nicht in seinem Kern, so doch in seiner ursprünglichen Struktur grundstürzend verändert worden ist; daß auch das Abendland, wie man es noch vor 1914 auffaßte, nicht mehr besteht; daß der von Spengler „Untergang“ genannte Rückschritt weit gediehen ist. Während sich aber das Abendland im Laufe seiner Geschichte wiederholt gegen vernichtungsdrohende Anstürme von außen und gegen gewaltsame Zerreißversuche im Inneren doch immer wieder behaupten konnte, ist nach 1918 und 1945 eine vollkommen veränderte Lage eingetreten. Die europäischen Völker haben ihre erdballbeherrschende Rolle eingebüßt, was jedoch viel entscheidender ist, in absehbarer Zeit werden alle Staaten der Erde gleich bewaffnet sein, und eine Beherrschung der Welt durch einseitige Rüstung gehört der Geschichte an — wie immer sich die Gruppierung der Mächte gestalten mag. Bis zu einem gewissen Grad hat somit Spengler mit seinem allerdings übertriebenen fatalistischpessimistischen Denken Recht behalten, so sehr er sich dabei in Widersprüche und unwissenschaftliche Prophetie verstrickt.

Spengler wünscht zwar, die lebende Generation möge der geschichtlichen Erfahrung bewußt werden, „auf Grund derer wir die Gestaltung unserer Zukunft in die Hand nehmen können“; er deutet jedoch nicht den Zweck einer solchen Haltung angesichts der nach seiner Meinung nicht aufzuhaltenden Untergangsepoche an, er lehnt ein Weltimperium ebenso ab wie einen Weltfrieden. Im Gegensatz dazu ist Toynbee ein Endzustandprophet, er erhofft einen Welteinheitsstaat mit Weltbürgertum und einer neuen Einheitsreligion — solche Zielsetzungen sind nicht neu, doch hat sich bisher nur selten jemand dazu bekannt, alle Kulturen, Staaten oder Völker einfach in ein völlig integriertes Einheitsgebilde einzuschmelzen. Es pflegt aber gewöhnlich doch anders zu kommen, und die gegenwärtige Entwicklung ist tatsächlich zwiespältig. Einerseits ringen West (Freiheit) und Ost (Kommunismus) um dasselbe Ziel, um die Weltherrschaft, wobei es fraglich bleibt, ob man die Welt der Freiheit beziehungsweise des Kommunismus als Kulturen im Sinn Spenglers auffassen darf, anderseits sind Bestrebungen im Zuge, die Welt nicht bloß zivilisatorisch, sondern in den Vereinten Nationen auch als Gemeinschaft nach dem Schlagwort „Die Menschheit eine Familie“ unter Beibehaltung der Individualitäten zusammenzuschließen. Hier sind wir mitten in der Prophetie. Spengler sagt: „Die Voraussicht des unabwendbaren Schicksals gehört zur Mitgift des historischen Blicks“, das wäre das Lernen aus der Geschichte in der Form der Bejahung des sich auf historische Periodizitäten und Parallelen stützenden Determinismus, was aber abzulehnen ist, denn als Aufgabe der Historik gilt der erklärende Rückblick und nicht die immer problematisch bleibende Voraussage.

Alle diese Erwägungen zeigen das verwirrende Gebiet, in das sich Spehgler begeben hat und in das ihm der von Kritikern „Super-spengler“ genannte Toynbee gefolgt ist. Spengler mußte es erleben, daß er mit manchen seiner Prognosen im ersten Weltkrieg scheiterte, und von Toynbee wird behauptet — noch hat man wenig direkten Einblick in sein Werk —, er habe in seinen Schlußbänden andere Folgerungen gezogen als in den ersten Bänden.

Am Beginn einer großen Spengler-Nachlaßpublikation stehen die Briefe 1913 bis 1936, eine Auswahl aus 2000 Korrespondenzen mit über 400 Briefpartnern. Der Kreis derselben erstreckt sich vorwiegend auf das Deutsche Reich. Spenglers Persönlichkeit wird durch die Briefe klar umrissen: wohl ein „uomo singulare ed universale“ mit verblüffendem Wissen und Begabung zu geistreichen Betrachtungen, daneben durchaus einseitiger Nationalist, Imperialist und Antidemokrat, ein Mensch der Gegensätze: „Vornehm, stolz, groß, streng; Verachtung, Ekel, Haß und Härte.“ Wir kommen auf den Krieg 1914/18 zurück: Die Briefe aus der Kriegszeit lassen einen überraschenden Mangel an Beurteilungsfähigkeit erkennen, sie bringen keinesfalls eingetretene Zukunftsprognosen so, daß man sich fragen muß, wie konnte es sich Spengler zumuten, in seinem „Untergang“ die von einem einzelnen kaum überblickbaren Zusammenhänge von Jahrhunderten und Jahrtausenden für die gesamte Menschheitsgeschichte kritisch zu behandeln, wenn er nicht einmal imstande war, das selbsterlebte Zeitgeschehen halbwegs richtig in sich aufzunehmen. Im Zeitpunkt, da im deutschen Reichstag bereits öffentlich der Krieg als verloren galt, und eben als der Durchbruch an der Westfront gescheitert war, schrieb Spengler am 11. Mai 1918: „Der Krieg wird in der Abdankung der romanischen Nationen, dem faktischen deutschen Protektorat über den Kontinent (bis zum Ural!) und einer Anzahl weiterer Wirkungen bestehen, über deren Voraussage heute noch jeder lachen würde.“

In der Ablehnung des Nationalsozialismus — die diesbezüglichen Aufzeichnungen wurden vernichtet — war sich Spengler sehr frühzeitig im klaren. Unter den publizierten Briefen finden sich neben den überwiegenden begeisterten Zustimmungen auch solche mit mehr oder weniger entschiedener Zurückweisung, von denen auf zwei aus sehr maßgebender Feder hingewiesen sei. Adolf von Harnack gibt ein recht entmutigendes Urteil ab: „Ihre Längsschnitte sowohl als auch die Bestimmung der einzelnen Kulturen nach Anfang und Ende haben einen sehr lebhaften Widerspruch in mir hervorgerufen... Ich finde da soviel Unbewiesenes Dogmatisches, also Arbiträres, daß mir dieses Gefüge Ihrer Arbeit sehr zweifelhaft erscheint. Auch die einseitige Beurteilung der Kulturen als geschlossene Größen scheint mir fehlerhaft ... um das prophetische' steht es mißlich ... Ihre Aufstellungen scheinen mir dezidierter zu sein als unser Wissen zuläßt.“

Leo Frobenius ist nicht weniger zurückhaltend: „Es ist nicht angängig, in wirklich ernsten Dingen derartig schwere Vorwürfe ganz allgemeiner Natur zu erheben, ohne dabei exakte Beispiele anzuführen ... Ich bitte, die einschlägige Literatur zu studieren ... Ihre Angaben stimmen mit dem, was ich sonst von den Fachleuten der etruskischen Wissenschaft höre, nicht überein ... Es tut mir leid, diesen Satz als den Ausdruck einer derartigen Kennt-nislosigkeit bezeichnen zu müssen, daß darüber nicht zu reden ist. ... Mitteilungen, von denen keine einzige den Tatsachen entspricht.“

In der abgedruckten Korrespondenz finden sich viele nichtssagende, mit Nichtigkeiten überladene Briefe, vielleicht nur wegen des Namens des Schreibers aufgenommen. Zahlreiche Briefe sind der Tagespolitik der Jahre 1919 bis 1936 gewidmet; durch die chronologische Wiedergabe entsteht ein buntes Durcheinander von Wissenschaft und Politik, in dem es — mangels eines Sachregisters — dem Leser schwer wird, die Spreu vom Weizen zu sondern. Weniger wäre vielleicht mehr!

Wie immer sich nun die Ansichten über die beiden untrennbaren Kulturmorphologen Spengler und Toynbee gestalten, jedenfalls haben wir es mit zwei Autoren zu tun, über die nicht leichtfertig hinweggegangen werden kann. Beide haben zur Auseinandersetzung über sehr viele grundsätzliche Probleme der allgemeinen Entwicklung der Menschheit mit staunenswertem Fleiß und unermüdlicher Hingabe an die gestellte Aufgabe ein ungeheures, vielfach wertvolles Material aufgearbeitet und neue Forschungsmethoden erprobt, wofür ihnen Dank und Anerkennung zukommt. Im besonderen hat Spengler im abendländischen Organismus wirkende auflösende Kräfte wie kaum ein anderer mit scharfem Auge in den Vordergrund gerückt, die gekannt werden müssen, soll unleugbar bestehenden Gefahren begegnet werden. Aus diesem Grunde soll Spengler, trotz weiter aufrecht bleibender Einwände, wieder gelesen und studiert werden. Auch die Propheten erfüllen eine Mission.

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