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Als der Stalinismus seinen Höhepunkt erreicht hatte, war bei der noch immer spottlustigen Intelligenz folgende Anekdote im Umlauf: es war ein Wettbewerb für ein Puschkin-Denkmal ausgeschrieben. Den Preis erhielt ein Entwurf: Stalin mit einem Band Puschkinscher Verse in der Hand. Obwohl der eine oder andere Teilnehmer an der Leichenfeier für den Staatspräsidenten Zäpotocky sich dieses Geschichtchens entsann, als der Vorsitzende der tschechoslowakischen Regierung, Široky, in seiner Gedenkrede von den Errungenschaften der Sowjetwisstnschaft sprach, als Erster Parteisekretär Novotny, nunmehr an Zäpotockys Statt Präsident der Republik, den Nachruf auf den Verblichenen im Schwur gipfeln ließ, auf ewig der UdSSR die Treue zu halten? Als sogar der Leiter der polnischen Delegation, Zawadzki, das individuelle Oberhaupt des Warschauer kollektiven Staatsoberhaupts, seine Traueransprache um das kontrapunktliche Thema kreisen ließ, der Tod des Prager Kommunistenführers habe gerade in den Tagen überall Schmerz geweckt, da man sich über die Erfolge der sowjetischen Gelehrten freute. Die irdischen Satelliten haben sich mit dem Aufleuchten cW zwei himmlischen Satelliten des Kremls getröstet: Wer unter ihnen mehr, wenigstens offiziell, als die immer getreue Tschechoslowakei?

Sie hat, stets aus der Perspektive von oben betrachtet, nie geschwankt, auch nicht wenn viele, alle untreu zu werden drohten, wie im vorigen Oktober. Sie hat sogar, eine mutige Tat, Stalin weiterhin geehrt, als dessen Nachruhm zeitweise bedroht schien. Und sie erntet nun die Früchte dieser Haltung, jetzt, da Suslow in Moskau bedenklich in die Nähe Chruschtschows und Mikojans rückt und Gomulka sich immer mehr von seiner, durch das Vierzigjahrjubiläum der Großen Sozialistischen Russischen überschatteten, Oktoberrevolution abkehrt. Die Polen, deren alte Abneigung gegen ihre tschechischen Brüder sich anno 1956 kräftig gemeldet hatte und dabei einige Monate lang eine aus dem Herzen kommende Erwiderung fand, sind in unleugbare wirtschaftliche Abhängigkeit von Prag geraten. Mangels umfänglicher westlicher Hilfe''müssen sie sich mit geringerem, doch greifbarem Beistand aus der UdSSR und aus den sowjetischen Satellitenstaaten begnügen. Seit einer Versöhnungsreise, die Cyrankiewicz im heurigen Mai nach Prag unternommen hatte, hat sich der Rahmen einer polnisch-tschechoslowakischen Zusammenarbeit abgezeichnet, der nun allmählich und konsequent ausgefüllt wird. Beträchtliche Kredite, zuerst 100, dann neuestens 250 Millionen Rubel werden vom reicheren dem ärmeren slawischen Brudervolk gewährt, mit dem Zweck, in Polen die Ausbeutung des Schwefelerzes und die Modernisierung der Steinkohlenbergwerke zu fördern. Polen soll die Maschinen oder die Möglichkeit zu deren Erwerb erhalten, die Tschechoslowakei wesentlich an den zu fördernden Bodenschätzen beteiligt werden. Auch sonst ist eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geplant, deren Absprache in die Kompetenz einer eigens geschaffenen gemischten Kommission fällt. Selbstverständlich verengen diese wirtschaftlichen Bände zugleich die politische Gemeinschaft zwischen Warschau und Prag, wozu Moskau mütterlich lächelnd den Segen gibt. Dabei wird es unvermeidlich sein, daß die gegenseitige Beeinflussung auf alle Bezirke des öffentlichen und auf viele des in den Volksdemokratien so eingeschränkten privaten Lebens übergreift.

Denn Ordnung muß sein, auch bei den Ingenieuren der Seele (anderwärts Dichter genannt), bei Künstlern, Wissenschaftern usw.; und diese Ordnung herrscht in Prag, in Preßburg und allerorts in der Tschechoslowakei. Den ihr Widerstrebenden geht es an den weißen Kragen, der sie von den ändern, ihnen im Rang übergeordneten Werktätigen unterscheidet. So zum Beispiel dem Preßburger Hochschulprofessor Piffl — einem Verwandten des verstorbenen Wiener Erzbischofs? —, der mit zweieinhalb Jahren Kerker einen Brief an seine Mutter büßte, darin er die Wirtschaftslage der Tschechoslowakei als „unerfreulich“ bezeichnete; zudem hatte der verabscheuungswürdige Volksfeind bei einem Pariser Besuch den Ausdruck „Eiserner Vorhang“ gebraucht und sich über Sowjetführer unziemlich geäußert. Vermutlich über dieselben, über die nicht abfällig zu sprechen, ein Jahr später ein Verbrechen gewesen wäre.

Es gibt freilich und leider auch andere Störer des Glücks im böhmischen Winkel, entartete

Söhne des wackern Volkes. Das sind die „Huli- gane“, „Zazous“, „Halbstarken“, die es ihren bösen polnischen und ungarischen Altersgenossen und Genossen gleichtun wollen, bunt durcheinander halbwüchsige Krakeeler, denen Raufereien und Krawalle jeder Art Spaß bereiten, und Studenten, intelligente Arbeiter, denen die Geistesknechtschaft widerstrebt und die von den ständig wiederholten, abgeklapperten Phrasen der Machthaber angeekelt werden. Die Presse berichtet in einem Aufwaschen von Prozessen gegen die einen und gegen die ändern. Von den jungen Apachen, die sich auf dem Prager Wenzelsplatz mit der Militärpolizei herumschlugen, als diese einen betrunkenen Soldaten verhaftete, und von den „Agenten der westlichen Bourgeoisie“, den „Saboteuren", „Faschisten“, „Klerikalen", von den irregeleiteten Schulkindern, die den Montblanc und nicht den Elbrus für den höchsten Berg Europas oder die gar New York und London für die bevölkertsten Städte der Erde halten.

Der Feind ist an allem schuld, der Feind Nummer eins: Rom und seine Vasallen. Die Presse ist voll von Meldungen über Umtriebe der Geistlichkeit, der Mönche und Nonnen; von strengen und gerechten Urteilen, die über derlei Uebel- täter verhängt werden, die z. B. heimlich Seelsorge üben oder unangemeldet in Klöstern hausen, statt dem rühmlichen Beispiel der bis auf Widerruf amtlich geförderten Priester von der Art des Ministers Plojhar oder der durch die Regierung eingesetzten Kapit lvikare nachzueifern, die z. B. der Trauerfeier für den kämpferischen Atheisten Zäpotocky beiwohnten und die auf dem Kongreß der gleichgeschalteten, sich christlich gebärdenden Volkspartei Široky al? Ehrengast begrüßen durften. Ebendiese Muster- kollaboranten haben auch dem neuen Präsidenten Novotny gehuldigt, der seit manchem Jahr einer der lautesten Streitrufer gegen den mittelalterlichen Unfug der Religion gewesen war.

Antonin Novotny, der Zäpotockys Spuren höchst errötend folgt, ist der geeignetste Repräsentant einer Volksdemokratie, die ihre Aufgabe in ihrer Vormauerposition des kommunistischen Blocks erblickt. Ohne jenen Anflug von klassenkämpferischer Romantik, die den Volksschriftsteller auf dem Hradschin umwehte, ein kaltnüchterner Apparatschik und ein unbarmherziges Exekutivorgan der jeweils aus Moskau ergehenden Befehle, ein Schlosser, der zwar ein wenig Weltgeschichte macht, doch gewiß keine liberale, Autodidakt, der nur in den Kategorien der marxistischen Popularphilosophie denkt, vom Kreml zu seinem Amt designiert, wird er das in ihn seitens der Sowjetgewaltigen gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen. Nicht umsonst hat man ihn den möglichen Mitbewerbern vorgezogen: dem ehrgeizigen Slowaken Ministerpräsident Široky, dem Novotny geistig hoch überragenden Wirtschaftsfachmann Dolansky und der exsozialistischen Wetterfahne, Parlamentspräsident Fierlin- ger. Novotny und mit ihm, nach ihm der slowakische erste Parteisekretär Bacilek, der zweite Sekretär der kommunistischen Gesamtpartei Hen- drych, Propagandaminister Kopecky und der noch junge Innenminister Barak, Chef der Polizei, sind die wesentlichen Träger des heutigen Kurses. Demgegenüber bleibt Široky nach wie vor ein Aushängeschild und Dolansky, dessen Wirtschaftskonzeptionen titoistische Anklänge vorgeworfen werden, beharrt in einer Isolierung, die so lange glänzend ist, wie man seine anerkannte fachliche Tüchtigkeit dringender braucht als seinen Ersatz durch eine gefügigere Marionette.

Das sei noch der Wahrheit gemäß hinzugefügt, daß Moskauhörigkeit und schwerer innenpolitischer Druck nicht verhindert haben, daß die Tschechoslowakei zwar an westlichen oder auch nur an mitteleuropäischen Maßstäben gemessen, ein Bild sehr bescheidenen Standards darbietet, daß sie aber in jeder Hinsicht unter den Volksdemokratien wirtschaftlich voransteht. Das Notwendige ist für die Bevölkerung zu ihr erschwinglichen Preisen vorhanden, und gelegentlich, so zu den Feiertagen, zaubert man ihr durch einiges Ueberflüssige die holde Illusion des Wohlbehagens hervor. Nicht zuletzt deshalb und nicht nur wegen der notorischen Unlust der Tschechen, sich in abenteuerlichen offenen Widerstand gegen den Stärkeren zu stürzen, ist die Vormauer der kommunistischen Antichristenheit einigermaßen von solidem Gefüge.

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