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Sprung über den eigenen Schatten

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Die politische Redeutung des Pariser Abkommens kann für das Nachkriegs-Völkerrecht nicht hoch genug eingeschätzt werden ..." Der Vertrag hätte „ein Modell für die Lösung brennender europäischer Volksgruppenprobleme sein können. Es wurde 1946 ein Minderheitenschutzmodell entwickelt und damit auch Vorstellungen entsprochen, die zu dieser Zeit in den UN-Menschenrechtskommissionen geäußert worden sind."

So bewertet Felix Ermacora, Österreichs führender Völkerrechtsexperte, das Abkommen, das am 6. September 1946 zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten Alcide De Gasperi und dem österreichischen Außenminister Karl Gruber unterzeichnet und am 21. September von der Außenministerkonferenz in Paris akzeptiert und daraufhin in den Friedensvertrag mit Italien aufgenommen wurde. Ris zur Erreichung des heutigen Zustands der Autonomie für Südtirol, mit dem die Südtiroler leben können und mit dem sich die Italiener abgefunden haben, mußten noch fast 50 Jahre vergehen. Kleinere Anliegen sind nach wie vor offen.

Zunächst stand 1945 der Wunsch nach Rückgabe des 1918 abgetrennten Gebietes im Vordergrund. 155.000 Menschen unterschrieben eine Petition an die Siegermächte. Schon in der zweiten Sitzung des neugewählten Nationalrates trug Rundeskanzler Ieopold Figl Österreichs Forderung vor. Die Italiener waren nach faschistischer Unterdrückung und Umsiedlung nicht bereit, ihre Herrschaft über „Alto Adige" zu lockern. Die Alliierten wären bereit gewesen, geringe Grenzkorrekturen zuzugestehen - mehr nicht. Italien hatte schon Istrien und Dalmatien an Jugoslawien, den Dodekanes an Griechenland abtreten, die Kolonien in die Unabhängigkeit entlassen müssen. Mehr sollte ihm nicht zugemutet werden, um nicht den Kommunisten Auftrieb zu geben.

Italiens Botschafter bei der Friedenskonferenz, Graf Carandini, brachte als erster die Möglichkeit ins Spiel, um die Brennergrenze außer Diskussion zu stellen, den Südtirolern die Verwendung des Deutschen im Unterricht, in öffentlichen Amtern, in Orts- und Familiennamen zu gestatten und lokale Autonomie zu gewähren.

Am 26. August begrenzte ein österreichisches Memorandum die Forde rung auf Minderheitenschutz im Rahmen des italienischen Staatsverbandes. Gruber selbst begründete sein Einschwenken mit dem Hinweis, er hätte unter Protest abreisen können, um sich einen guten Abgang zu sichern '- aber das hätte den Südtirolern nichts genützt. So müßte er die harte Kritik vor allem der Tiroler Landsleute einstecken, die in der Ohrfeige des Obmannes des Tiroler Kriegsopferverbandes Hans Rlaas vor dem Innsbrucker Rahnhof ihren Höhepunkt fand. Ris zur Formulierung des Sonderstatus auf Grund der Abmachungen zwischen De Gasperi und Gruber vergingen zwei Jahre - es blieb Stückwerk, weil die Einbeziehung des Tren-tino in die autonome Region die Mehrheit der Italiener festschrieb. Immerhin aber konnten die Südtiroler zurückkehren, die während des Krieges für Deutschland optiert hatten - keiner anderen Gruppe vertriebener Deutscher war dies möglich.

In den frühen sechziger Jahren machte sich die Enttäuschung der Südtiroler über die Verzögerung in Sprengstoff-Attentaten gegen Hochspannungsmasten Luft. Erst dann liefen die Verhandlungen ernsthaft an. 1964 formulierten Österreichs Außenminister Rruno Kreisky und sein italienischer Parteifreund Giuseppe Saragat eine Langfristlösung unter dem Prinzip „Selbstbestimmung durch Selbstverwaltung" - die auf das Nein der Südtiroler Volkspartei stieß. Außenminister Aldo Moro und sein Kollege Kurt Waldheim kamen dann 1969 mit dem „Paket" und einem Operationskalender für die Durchführung zu mehr Zustimmung. Die zentralen Punkte des Pakets betrafen die Gleichstellung der deutschen Sprache in der Verwaltung, vor Gericht und in der Polizei und den ethnischen Proporz bei der Resetzung öffentlicher Stellen. „Das Land ist politisch in der Hand der Südtiroler, wenn sie die Autonomie zu nutzen verstehen", kommentierte Ermacora. ' Auch die Verwirklichung des Operationskalenders verzögerte sich weit über die ursprünglich angepeilten Fristen. Als Italiens Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro im Jänner 1993 seinen Staatsbesuch in Wien absolvierte -den ersten eines italienischen Staatsoberhauptes seit 1882 - konnte endlich die Streitbeilegungserklärung von Österreich abgegeben werden.

Österreichs Reitritt zur EU hat die Rrennergrenze entschärft; Spannungselemente gibt es trotzdem nach wie vor, etwa wenn die Tiroler Politiker von der Europa-Region träumen, die Tirol in den Grenzen von 1914 umspannen soll. Oder wenn die Zentralstellen in Rom die staatlichen Weisungs- und Koordinationsbefugnisse intensiver ausüben wollen, als man es in Rozen gerne sieht.

Inzwischen ist die dritte Generation der seit 1918 im Land geborenen Südtiroler wie Italiener herangewachsen. Sie sehen die Probleme des Zusammenlebens anders als die Urgroßväter, die einander an der Dolomitenfront gegenüber standen, auch als die Großväter, die unter dem Faschismus in Unterdrücker und Unterdrückte geschieden waren. Problemlos, emotionslos kann das Zusammenleben zweier oder mehrerer Volksgruppen in einer gemeinsamen Region wohl kaum ablaufen. In Südtirol leben 282.000 Deutsche und 17.000 La-diner mit 113.000 Italienern zusammen. Die vergangenen Jahrzehnte haben so manche Narbe hinterlassen. Daß es heute halbwegs miteinander geht, ist zum großen Teil Karl Graber und Alcide De Gasperi zu verdanken, die als erste wagten, über den eigenen Schatten zu springen.

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