6705445-1963_50_04.jpg
Digital In Arbeit

Stärkere Dynamik entscheidet

Werbung
Werbung
Werbung

Alte Siedlungsgebiete und Sozialgebilde im ehemals panonischen Raum machen Strukturumbrüche mit, deren Auswirkungen man ztir Zeit nur erahnen, aber nicht in ihrer ganzen Tragweite abschätzen kann. Wer im Burgenland lebt, vermag diesen Wandel ohne weiteres festzustellen. Wer in den Prozeß des gesellschaftlichen und geistigen Wandels eingreifen will, muß einerseits eine Vorstellung davon haben, in welche Richtung der Wandel gelenkt werden soll, damit daraus ein sinnvoller Wandel wird, der zu einer gesunden Endentwicklung führt. Alle Politik ist im Burgenland illusorisch, ja sogar anachronistisch und unfruchtbar, wenn sie nicht in ihren Impulsen und in ihren Nah- und Fernzielen aus einer umfassenden Entwicklungskonzeption schöpft

Darum muß man im Burgenland bei den politischen Parteien das Vorhandensein eines Entwicklungskonzeptes geradezu als eine Voraussetzung für die politische Tätigkeit verlangen. Die ÖVP des Burgenlandes hat diesen Sachverhalt bereits vor fünf Jahren erkannt und damals versucht, ein Entwicklungskonzept zu erstellen.

Nur „Wählerfang”?

Nun liegt bereits auch ein weiteres Entwicklungskonzept für das Bur-

genland vor, das von der SPÖ beim Landesparteitag 1963 in Eisenstadt im vergangenen Oktober beschlossen wurde. In beiden Fällen war der unmittelbare Anlaß dazu die Landtagswahl. Eine solche Veranlassung muß nicht unbedingt ein Entwick- lungskonzept nachteilig beeinflussen. Es muß nur darauf Bedacht genommen werden, daß das Entwicklungskonzept nicht in ein Wahlprogramm mit billigen Forderungen umgemünzt wird, weil es dadurch unglaubwürdig wäre. Ein wirksames Entwicklungsprogramm kann nämlich nicht auf momentane wahlpolitische Erfolge abgestimmt sein. Die Versuchung ist allerdings groß, mit Entwicklungs gesellschaftliche Wandel eine rapide Entwicklung genommen hat, ja sogar beängstigend vorgeprescht ist blieb die Politik mit ihren Zielsetzungen und Methoden weit hinter der dynamischen Entwicklung mit ihrem geradezu disharmonischen Strukturwandel. Mitten in diesem revolutionären Wandel ist der Ort, wo sich das Engagement der politischen Parteien im Burgenland zu vollziehen hat. Der massive Umbruch hat die ÖVP dazu bewogen, die alte Angst, eine Industrialisierung könnte zur „marxistischen Eroberung” des Burgenlandes führen, abzuschütteln und die Industrialisierung zu bejahen. Damit ist im Denken einer vom Ursprung an primär agrarisch orientierten Volkspartei eine bedeutsame Neuorientierung vor sich gegangen.

Noch größere Auswirkungen hat die entwicklungspolitische Situation auf das ideologische Gefüge der burgenländischen SPÖ. Das neue Entwicklungskonzept bringt faktisch eine Modifizierung der Pläne des Sozialismus im Burgenland. Die eingehende Beschäftigung mit der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung läßt die Einsicht wachsen, daß auch der Sozialismus dynamisch werden muß und nicht doktrinär bleiben darf, damit er die Entwicklung wirklichkeitsgerecht interpretieren und politisch bewältigen kann.

Das Ergebnis der ganzen Entwicklung der letzten zehn Jahre ist im Burgenland ein aufgeweckter und realistischer Sozialismus. Da aber von keiner politischen Partei Dynamik und Entwicklung gepachtet oder ein für allemal in ein politisches Programm eingefangen werden können, wird im politischen Wettstreit auf lange Sicht die größere geistige Elastizität, die ständige Revisionsbereitschaft, die ununterbrochene Neubesinnung und profunde Erforschung neuer Wege den Ausschlag geben.

Wenn man das neue Entwicklungskonzept der SPÖ des Burgenlandes analysiert, so kann man im großen und ganzen zu einer positiven Beurteilung kommen. Die Leitideen sind in der Tat Erkenntnisse und Impulse eines Sozialismus, der sich der geistigen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Gegenwart öffnet, sich im Notwendigen wandelt und im Möglichen die Kontinuität bewahrt

Das Verhältnis zur Kirche

Am deutlichsten zeigt sich der Wandel des Sozialismus im östlichsten Bundesland ideologisch gesehen. Unter den Richtlinien für die Kulturpolitik im Burgenland ist im Entwicklungskonzept von der „Aner-konzeptionen, die unmittelbar vor Wahlen erstellt wurden, auf großangelegten „Wählerfang” zu gehen. Die entwicklungspolitische Situation des Burgenlandes ist so ernst, daß man mit ihr keine Wahlspekulationen betreiben darf. Während der kennung der Öffentlichkeitsaufgabe der Kirche und ihrer Bedeutung für das dörfliche Gemeinschaftsleben” die Rede. Wenn man die Formulierung richtig versteht, muß man daraus folgern, daß der Sozialismus burgenländischer Spielart — es scheint, daß es einen solchen jenseits der Leitha gibt — sich zu einer klaren Anerkennung des gesellschaftspolitischen Status und der kulturellen Aufgaben der Kirche in der Bildungsgesellschaft entschlossen hat.

Der ideologische Wandel geht über jene Grenzen hinaus, die der letzte SPÖ-Parteitag in bezug auf die Einstellung zur Kirche absteckte. Dieser Schritt kann nur erklärt werden aus der spezifischen Struktur des Burgenlandes, der versöhnlichen Haltung der Kirche und im Hinblick auf die Tatsache, daß in das oberste Führungsorgan der SPÖ in diesem Bundesland in den letzten Jahren Intellektuelle vorgestoßen sind,| die neben der guten Nachbarschaft auch eine Versöhnung mit der Kirche wünschen.

Es ist noch kein Jahrzehnt her, da wurde von einem Sozialisten aus dem Burgenland die Forderung erhoben, durch das sozialistisch inspirierte Dorfgemeinschaftshaus ein Gegengewicht gegen den Pfarrhof zu schaffen. Inzwischen sind hüben und drüben manche Stellungsgräben zugeschüttet worden. Der Kultursozialismus aus der austro-marxisti- schen Zeit ist heute kein integrierender Bestandteil des politischen Konzepts der burgenländischen Sozialisten. Statt dessen wird angeregt, die kulturellen Bemühungen der Religionsgemeinschaften mit den Bestrebungen des Landes und der Gemeinden zu koordinieren.

Jedenfalls kann der Kultursozialismus nicht mehr als das bindende Dogma sozialistischer Kulturpolitik angesehen werden. Landesrat Kery erklärte bei einer Kircheneinweihung in einer Arbeitergemeinde, daß Vorsicht gegenüber einem verwaschenen Humanismus geboten sei. Zweifelsohne ist der Pluralismus des Denkens, der Wertvorstellungen und auch der Weltanschauungen eine Tatsache in der SPÖ des Bürgenlandes geworden, die niemand mehr zu leugnen vermag.

Der Ton ist sachlicher geworden

Das Entwicklungskonzept spricht auch von der Notwendigkeit, in der Politik einen neuen Stil au prägen, und von der Überwindung des

Ressortdenkens im Landhaus. Der Ton des sozialistischen Dokumentes ist im Vergleich zu früheren Veröffentlichungen sachlicher geworden und sucht den polemischen Parteijournalismus zu überwinden. Aber über die dringende Reform des demokratischen und parteipolitischen Lebens finden sich im politischen Konzept keine Hinweise. Man muß daher fürchten, daß es sich bei der Stilfrage der Politik mehr oder weniger um ein kaum durchdachtes, aber gut klingendes Schlagwort handelt. Beim Kulturprogramm ist man bei manchen Passagen geneigt, ähnliches anzunehmen.

Die Schulfrage nimmt einen sehr breiten Raum ein. Hier werden allgemein bekannte Forderungen wiederholt. Aktuell ist in diesem Zusammenhang die Forderung, die kleinen Landschulen zu Mittelpunktschulen zusammenzufassen.

„Blinder Fleck”: Agrarpolitik

Sehr ausführlich beschäftigt sich das Entwicklungskonzept mit der Landwirtschaft im Burgenland. Den Bauern wird vorgeworfen, daß sie noch in dunkelster Zeit leben, autark denken und sich zu wenig den Gegebenheiten der Gegenwart anpassen. Wenn immer wieder von der Gesundung der bäuerlichen Kleinbetriebe gesprochen wird, so zeigt dies nur, wie wenig die Agrarpolitiker der SPÖ auf dem Boden der Tatsachen stehen. Darüber hinaus wird die Schaffung einer Koordinierungsstelle verlangt, welche alle Kräfte des Landes zu einem gemeinsamen Entwicklungskonzept zusammenfaßt. Realistisch ist die Forderung nach einer langfristigen, regionalen Planung entsprechend der Rangordnung der Aufgaben, die Gründung einer wirtschaftsorientierten Bank für Entwicklungsprojekte und die Reform des Landesbudgets.

Es kann in der Entwicklungskonzeption nicht um ein Monopol oder um ein opportunistisches Unternehmen gehen, auch nicht um punktuelle und isolierte Maßnahmen, sondern nur um eine umfassende und bewußte Entwicklungspolitik, die im Burgenland die einzig mögliche Form der Landespolitik der Zukunft darstellt. Insofern darf nun die ÖVP nicht polemisch werden, weil nun die SPÖ ebenfalls ein Entwicklungskonzept erarbeitet hat oder gar dieses als ein Plagiat bezeichnen; vielmehr sollte sie das Dynamischwerden des Koalitionspartners ertragen und nur das eine Ziel haben, die SPÖ durch eine noch stärkere Dynamik in geistiger und politischer Hinsicht zu überflügeln

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung