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Statt eines Epilogs

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Gegensätzliche Rechtsstandpunkte

Der Wert der Vereinbarung über die Fragen des sogenannten „Deutschen Eigentums” liegt darin, daß ein schwelender Konfliktstoff aus der Welt geschafft ist oder wenigstens mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden aus der Welt geschafft sein wird. Diese Befriedung muß und kann uns mit dem Inhalt des Kompromisses versöhnen, wenngleich einzelne. Punkte der Vereinbarung, auf die die „Furche” schon längere Zeit vor der Unterzeichnung des Vertrages hingewiesen hat, mit der Rechtsüberzeugung des Verfassers ebensowenig wie mit jener der betont österreichischen Blätterstimmen in Einklang zu bringen sind. Die Verhandlungen der beiderseitigen Bevollmächtigten haben zu einer Einigung über die beiderseitigen Leistungen, nicht aber zu einer Einigung über deren Rechtsgrundlagen geführt.

Die Bedeutung und Bewertung des zwischenstaatlichen Kompromisses schwankt nämlich, je nachdem, welcher der unvereinbarlichen Rechtsstandpunkte eingenommen wird.

Oesterreich würde sich in gewissem Sinne auch heute selbst aufgeben, wenn es einräumt, daß es gemäß den Absichten des damaligen Deutschen Reiches während der Jahre 1938 bis 1945 seine Rechtspersönlichkeit verloren habe. Dagegen ist es der einhellige Standpunkt der deutschen Rechtswissenschaft und der deutschen Staatspraxis, daß Oesterreich im Jahre 1938 ein Bestandteil des Deutschen Reiches geworden ist. Die zwingende rechtliche Folgerung aus dem österreichischen Standpunkt ist der Anspruch auf Ersatz aller Schäden, die dem österreichischen Staat und österreichischen Privatpersonen aus der rechtswidrigen Einverleibung in das Deutsche Reich erwachsen sind. Die Folgerung aus dem deutschen Rechtsstandpunkt der wenn auch fehlerhaft vollzogenen Einverleibung Oesterreichs in das Deutsche Reich ist dagegen die rechtliche Unterwerfung der Oesterreicher unter die deutsche Staatsgewalt und mithin die Unanfechtbarkeit aller Beanspruchungen Oesterreichs und der Oesterreicher aus dem siebenjährigen Untertanenverhältnis.

Des weiteren geht die österreichische Rechtsauffassung zwangsläufig dahin, daß das sogenannte „Deutsche Eigentum” rechtmäßig in die Verfügungsmacht der Siegermächte beziehungsweise der österreichischen Besatzungsmächte übergegangen und von diesen Oesterreich übertragen worden sei, so daß von einer Rückforderung bzw. Rückstellung „deutscher” Vermögenschaften streng genommen nicht gesprochen werden könne. Die deutsche Rechtsauffassung, soweit sie selbst in seriösen Blätterstimmen und privaten Meinungsäußerungen ihren Niederschlag erfahren hat, fingierte dagegen bis zum Vertrag vom 15. Juni 1957 den Fortbestand deutscher Privatrechte an den fraglichen Vermögenschaften und mithin eine rechtliche oder naturrechtliche Pflicht Oesterreichs, sie, nachdem Oesterreich Verfügungsmacht über sie erhielt, den vormaligen deutschen Rechtsinhabern zurückzustellen. Eine seltsame Rollenverschiebung hat es sogar dahin gebracht; daß von privater und selbst in gewissem inne von offiziöser österreichischer Seite noch unmittelbar vor Abschluß der Vertragsverhand- lungen die Fiktion des Fortbestandes Deutschen Eigentums behauptet wurde, wogegen von deutscher Seite dem österreichischen Rechtsstandpunkt von Ersatzpflichten aus dem Titel rechtswidriger Besetzung und Herrschaftsübung keine Stützung zuteil geworden ist.

Der „Anschluß” rechtlich mißlungen

Das Völkerrecht setzt für die gültige Vereinigung zweier unabhängiger Staaten eine rechtswirksame Willenseinigung der beiden Staaten voraus. Dieses Erfordernis ist durch die völkerrechtlichen Grundrechte der Unabhängigkeit und Gleichheit der Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft bedingt. Die Willenseinigung kann auf zwei Wegen herbeigeführt werden. Einerseits durch ein zweiseitiges völkerrechtliches Uebereinkommen, mittels dessen der eine Staat auf seine Unabhängigkeit um den Preis der Eingliederung in den anderen Staatsverband verzichtet und der andere Staat den bisher unabhängigen Staat in einer bestimmten Weise, etwa als Gliedstaat oder als Provinz, in seinen Staatsverband aufnimmt. Der andere zielführende Weg sind zwei reziproke Gesetze der beiden aktiv bzw. passiv „anschlußbereiten” Staaten, die selbstverständlich in gleicher Unabhängigkeit wie das etwaige völkerrechtliche Uebereinkommen in Kraft gesetzt werden müssen. Im Falle Oesterreichs hat sich das Deutsche Reich, nicht aber, wie noch zu zeigen sein wird, Oesterreich für den zweiten Weg entschieden. Dabei sind aber derartige rechtliche Mängel unterlaufen, daß die unzweideutig erkennbare Absicht des Deutschen Reiches, Oesterreich sich einzuverleiben, vereitelt worden ist.

Keine ernst zu nehmende Stimme in der heutigen Deutschen Bundesrepublik zweifelt, daß der Auftakt zur sogenannten „Wiedervereinigung” Oesterreichs mit dem Deutschen Reich durch eine völkerrechtswidrige Intervention gemacht worden ist. Es war ein Eingriff in das völkerrechtliche Grundrecht der Unabhängigkeit, daß die deutsche Reichsregierung in unzweideutiger Weise durch die Drohung des Einmarsches deutscher Truppen die Entlassung der Regierung Schuschnigg und die Bestellung einer anderen, der Reichsregierung genehmen österreichischen Regierung gefordert hat. Es ist bekannt, daß der damalige Bundespräsident Oesterreichs dieser Pression nach schweren Erwägungen Folge geleistet hat, um von der österreichischen Bundesregierung die Besetzung Oesterreichs durch ausländische Truppen zu vermeiden. Die der Reichsregierung genehme Regierung Seyß-Inquart wurde bestellt, die Deutsche Wehrmacht ist aber trotzdem — ungebeten sogar von Seiten des neuen österreichischen Bundeskanzlers in Oesterreich ein marschiert und hat — was zur rechtlichen Stützung der These zum vollzogenen „Anschluß” Oesterreichs an das Deutsche Reich betont wird — bei ansehnlichen Gruppen der österreichischen Bevölkerung, ja sogar, wie man nicht selten hören kann, bei der Mehrheit begeisterte Aufnahme erfahren. Diese Tatsachenschilderung verfolgt den uneingestandenen Zweck, die „Rechtsakte”, die der Annexion Oesterreichs dienen sollten, gewissermaßen plebiszitär zu unterbauen.

Die juristischen Argumentationen von deutscher Seite vernachlässigen völlig die Sachverhaltsdarstellung, die selbst deutsche Autoren, namentlich Heinz Holdack in seinem Buch „Was wirklich geschah”, München, Nymphenburger Verlag, 1948, und Erich Kordt in seinem Buch „Wahn und Wirklichkeit”, Stuttgart 1948, von dem Verlauf der tatsächlichen Okkupation Oesterreichs geben, der unter anderem auch für die juristische Beurteilung der Rechtswirkungen maßgeblich ist. Besonders ausführlich schildert H o 1 d a c k die Pressionen, die das nationalsozialistische Reich gegen den souveränen Staat Oesterreich ausgeübt und schließlich in einer dramatischen Steigerung der Forderungen und Drohungen am 11. März 1938 den Sturz der Regierung Schuschnigg und die Einsetz’mg der Regierung Seyß-Inquart herbeigeführt haben. Der gewissermaßen als Vorbote des Führungsstabes nach Oesterreich gesandte Vertrauensmann Hitlers und Görings, Keppler, erklärt nach unserem Gewährsmann vor Vollzug seiner Mission, „daß dem Führer noch der unmittelbare Anlaß zum Einmarsch fehle, der erst geschaffen werden müsse”. — „Diesen Anlaß sollte das berühmte Hilferuftelegramm bilden” (S. 76 a. a. O.).

„Die österreichische Bitte um deutsches Eingreifen konnte aber ihren propagandistischen Zweck nur erfüllen, wenn sie von einer legal konstituierten österreichischen Gewalt ausging. Aber selbst der als Vertrauensmann Hitlers ernannte Chef der nationalsozialistischen Regierung, Seyß-Inquart, weigerte sich, dieses Telegramm abzusenden und hiermit die Legitimation für die Besetzung Oesterreichs durch deutsche Truppen zu schaffen” (S. 76). „Der Gedanke, durch einen telegraphischen Hilferuf den deutschen Einmarsch zu legitimieren, ist in Berlin gefaßt, das Telegramm ist in Berlin entworfen und es ist von Berlin, nicht von Wien aus der Welt mitgeteilt worden” (S. 78).

Der juristisch bedeutsame Kern dieses Sachverhalts ist der, daß nicht nur die zur Repräsentation Oesterreichs im rechtlichen Anschlußverfahren ausersehene österreichische „Regierung” unter Androhung von Gewalt in ihr Amt berufen worden ist, sondern daß sie ihren rechtlichen „Beitrag” zum Vollzug des Anschlusses unter nicht erbetener, sondern bloß geduldeter Anwesenheit des unwiderstehlichen Machtapparates des nationalsozialistischen Reiches geliefert hat.

So viel steht außer Zweifel, daß nach Völkerrecht für die fehlerfreie Vereinigung zweier unabhängiger Staaten die freie, unbeeinflußte Willensäußerung der beiden Staaten in den durch. die Verfassung der beiden Staaten vorgesehenen Formen erforderlich ist. Das Völkerrecht manifestiert sich, soweit es nicht kodifiziert ist, bloß in Judikaten internationaler Instanzen und heute wohl noch überwiegend in den publizierten Rechtsanschauungen der völkerrechtlichen Literatur zahlreicher Nationen; es versagt eine einheitliche Entscheidung über die Rechtsfolge einer rechtswidrigen Intervention. Doch ist im Falle’ieinef-Drohung ‘foit gewält samen Mitteln, zumal wenn diese Mittel tatsächlich in Erscheinung getreten sind (übrigens im Einklang ‘mit der Lösung der analogen Rechtsfrage innerhalb des staatlichen Rechtes, insbesondere des Privatrechtes), die Nichtigkeit der durch diese Drohung herbeigeführten Willenserklärungen anzunehmen. Doch selbst unter Voraussetzung der bei einer tendenziösen Beurteilung wohl von keinem europäischen Völkerrechtslehrer angenommenen Rechtswirksamkeit der erpreßten Bestellung der Regierung eines einzuverleibenden Staates und der in Anwesenheit des Machtapparates des einen Staates abgegebenen Willenserklärung des anderen Staates über die Vereinigung beider Staaten ist der beabsichtigte rechtliche Erfolg in unserem Falle nicht eingetreten.

Im Sinne der Maiverfassung 1934 wäre allerdings eine österreichische Bundesregierung rechtlich in der, Lage gewesen, durch einen einhelligen Gesetzesbeschluß die Unabhängigkeit Oesterreichs preiszugeben und die bedingte oder bedingungslose Einverleibung Oesterreichs in einen anderen Staat unter der Voraussetzung einer entsprechenden Willenserklärung dieses anderen Staates herbeizuführen. Fast paradoxerweise ist aber dieser Weg des verfassungsmäßigen Verzichts auf die Eigenstaatlichkeit Oesterreichs nicht gegangen worden. Insbesondere durch das beim Landesgericht Wien durchgeführte Beweisverfahren im Hochverratsprozeß Reinthaler ist erwiesen worden, daß Seyß- Inquart (vermutlich aus Unterwürfigkeit gegenüber dem durch einen Mittelsmann empfangenen Befehl Hitlers) den zur sofortigen Inkraftsetzung empfangenen Entwurf eines Anschlußgesetzes nach mündlicher Information einiger seiner anwesenden Ministerkollegen im Bundesgesetzblatt als österreichisches Bundesgesetz verlautbaren ließ. Die rechtliche Bedeutung dieses Sachverhaltes besteht in der Nichtigkeit des der primitivsten Erfordernisse der Gesetzgebung ermangelnden Staatsaktes und damit des Fehlens eines dem deutschen Reichsgesetz entsprechenden österreichischen Bundesgesetzes.

Als zweiter Rechtstitel neben dem als bloßes Scheingesetz demaskierten österreichischen „Anschlußgesetz” wird die Volksabstimmung vom 10. April 193 8 ins Treffen geführt. Der vorzitierte deutsche Gewährsmann Heinz H o 1- d a c k sagt hierüber in seinem Werk „Was wirklich geschah”: „Die Abstimmung sollte nur noch einen Akt sanktionieren, den auf Befehl Hitlers bereits vorher die Wiener Marionettenregierung vollzogen hatte” (S. 80). Der Verfasser irrt freilich, unzweifelhaft gutgläubig, in dem Punkte, daß Oesterreich durch „seine” aufgezwungene Bundesregierung die ihr so leicht gemachte Willenserklärung in bezug auf den Anschluß abgegeben habe. Eine Volksabstimmung, für die in der damaligen österreichischen Rechtsordnung eine verfassungsrechtliche Grundlage gefehlt hat, konnte das zielführetade Gesetz nicht ersetzen. Am allerwenigsten eine Volksabstimmung, die, wie das Ergebnis von 99 Prozent Ja-Stimmen untrüglich verrät, nicht in den überlieferten demokratischen Formen vor sich gegangen ist, insbesondere, wie ungezählte Zeugnisse von Abstimmenden besagen, der Sicherung des Abstimmungsgeheimnisses ermangelt hat, insbesondere unter dem bereits in wenigen Wochen erprobten Terror des neuen Regimes auf Grund von Suggestivfragen der Abstimmungsorgane in der Regel öffentlich vorgenommen worden ist. Diese sogenannte Volksabstimmung hatte nicht in der Rechtsordnung Oesterreichs, sondern’ bestenfalls in jener des Hitlerreiches ihre „Rechtsgrundlage” und war von jener Staatsgewalt provoziert, über deren Inthronisation die Abstimmenden sich frei entscheiden sollten. Um so weniger konnte die latente Anschlußbereitschaft der Mehrheit des österreichischen Volkes und die Gesamtheit der Zustimmungskundgebungen des österreichischen Volkes, auf die deutsche Kritiker gerne verweisen, den beabsichtigten Erfolg erzielen. Die vom damaligen Deutschen Reich gewollte Annexion ist eine bloße Okkupation geblieben.

Heute ist wohl jeder urteilsfähige Staatsmann und Jurist darüber im klaren, daß über alles Ungemach hinweg, welches sieben Jahre Fremdherrschaft des nationalsozialistischen Staates über Oesterreicher wie über andere Völker der Erde gebracht haben, die Rechtspersönlichkeit Oesterreichs unversehrt erhalten geblieben ist und der Sturz des nationalsozialistischen Regimes mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 bloß die lahmgelegte Handlungsfähigkeit Oesterreichs — freilich infolge der zehnjährigen Besetzung durch die Siegermächte bloß einseitig — wiederhergestellt hat. Es ist schwer verständlich und bedauerlich, daß angesehene deutsche Rechtslehrer an der Fiktion der gelungenen Annexion, das heißt an der rechtlichen Zugehörigkeit Oesterreichs zum Deutschen Reich während „der Besetzungszeit, festhalten. Der letzte literarische Beitrag dieser Art ist, soweit ich sehe, eine Besprechung von Publikationen der österreichischen Rechtswissenschafter Adamovich, Antoniolli und H e 1 b 1 i n g von Seiten des Hamburger Staats- und Völkerrechtslehrers Hans Peter I p s e n, die in der führenden deutschen Fachzeitschrift des öffentlichen Rechts, dem seit 81 Jahren von angesehenen Fachvertretern herausgegebenen „Archiv des öffentlichen Rechts”, soeben im 82. Band, Heft 1, erschienen ist.

Vermögensrechtliche Folgen der gegensätzlichen Standpunkte

Die zwangsläufige Folge der gelungenen Annexion Oesterreichs durch das Hitlerreich ist die Unmöglichkeit, daß dem nicht mehr existenten Oesterreich und österreichischen Staatsbürgern, die in diesem Falle automatisch zu deutschen Staatsbürgern geworden waren, aus der Ausübung der deutschen Staatsgewalt ein Unrecht geschehen konnte. Weitere Folge aus dieser Rechtskonstruktion ist die Unbegründetheit von Ersatzansprüchen des österreichischen Staates und österreichischer Staatsbürger gegen das Deutsche Reich und dessen Nachfolgestaaten, nämlich die Deutsche Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik, die auf die Tatsache einer bestimmten Ausübung der Staatsgewalt gegenüber den zu Staatsbürgern des Deutschen Reiches gewordenen Oesterreichern gegründet werden. Wenn das österreichische Staatsvermögen durch die rechtswirksame Einverleibung Oesterreichs in das Reich Reichsvermögen geworden ist, und die Oesterreicher der unbeschränkten Verfügungsmacht der deutschen Reichsgesetzgebung unterstanden, so ist durch die Konstruktion der Rechtslage als Annexion allen den vermögensrechtlichen Ansprüchen des österreichischen Staates an die Deutsche Bundesrepublik der Boden entzogen, die in offiziösen Erklärungen und in privaten Presseartikeln meist unter dem nicht passenden Titel von „Gegenforderungen” gegen die Forderung auf Rückerstattung des „Deutschen Eigentums” in Oesterreich geltend gemacht worden sind.

Als wichtigste Posten dieser aus der Okkupation Oesterreichs von Seiten des Hitlerreiches resultierenden Forderungen Oesterreichs — und zwar Forderungen, denen keinerlei Rechtsansprüche, sondern bloße Billigkeitsansprüche aus dem Titel des Deutschen Eigentums gegenüberstanden — sind anzusehen: Rückstellung oder Ersatz des Gegenwertes in Geld für den Goldschatz der Oesterreichi- schen Nationalbank, der bereits wenige Tage nach der Besetzung Oesterreichs von Wien nach Berlin übergeführt worden ist; Rückstellung oder Ersatz für die Devisen der Oesterreichischen Nationalbank und die Devisen aus österreichischem Privatbesitz, die sich das Deutsche Reich angeeignet hat. Diese Devisen werden in der Oktobernummer 1938 der „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik” (Verlag Fischer in Jena) auf den Gegenwert von 1700 Millionen Reichsmark geschätzt — wahrhaftig ein gigantischer Betrag im Vergleich mit dem gewissermaßen mikroskopischen Devisenstand der Deutschen Peichsbank, den der von mir persönlich eingesehene Ausweis der Reichsbank vom 31. Dezember 1937 mit 5,9 Millionen Reichsmark, also mit weniger als zehn Pfennig auf den Kopf der Bevölkerung, beziffert. Bei der Aneignung dieser Devisen ging man so gründlich vor, daß z. B. die Haussuchung nach politisch belastendem Material dazu mißbraucht worden ist, private Nachweise über — aus wissenschaftlichen Honoraren stammende — Devisen zu beschlagnahmen, um deren Zession an das Reich zu erzwingen; Schadenersatz für sonstige Vermögensverluste, die aus der Besetzung Oesterreichs entstanden sind, insbesondere auch Rückvergütung der für die Versicherungsleistungen bestimmten, aus den Sozialversicherungsbeiträgen stammenden G u t- haben der österreichischen Sozialversicherungsinstitute, die zugunsten deutscher Versicherungsinstitute eingezogen worden sind; Ersatz von Schäden, die Oesterreich und die österreichische Bevölkerung durch die Besetzung von Seiten der Kriegsgegner des Deutschen Reiches, insbesondere durch Requisitionen, aber auch durch rechtswidrige Handlungen der Besatzungsorgane, erlitten haben; Ersatz der bisherigen und künftigen Aufwendungen Oesterreichs für Zwecke der Fürsorge für die Opfer des zweiten Weltkrieges, derzeit jährlich noch mehr als eine Milliarde Schilling. Es ist nicht bekanntgeworden, ob und inwieweit Oesterreich im Zuge der Vermögensverhand- lungen mit der Deutschen Bundesrepublik derartige Ansprüche wenigstens grundsätzlich geltend gemacht hat. Jedenfalls sind sie in dem vereinbarten Vertrage in keiner Weise, insbesondere nicht mit einer nominellen Leistung der Deutschen Bundesrepublik, anerkannt. Eine solche Anerkennung wäre von unschätzbarer prinzipieller Bedeutung gewesen, denn sie hätte eine Fülle von Presseangriffen desavouiert, wäre freilich einer Anerkennung des österreichischen Rechtsstandpunktes der mißlungenen Annexion und der rechtswidrigen Okkupation gleichgekommen.

Indes hat die fachwissenschaftliche und die Pressekritik Deutschlands die vollständige und abzugsfreie Wiedererstattung des sogenannten Deutschen Eigentums gefordert, das die Alliierten im Staatsvertrag vom 15. Juli 195 5 Oesterreich übereignet haben. Hierbei wurde der Fortbestand der ehemaligen Privatrechtstitel zugunsten der deutschen natürlichen und juristischen Personen fingiert.

Wohl nur dank einem mehr als großzügigen Entgegenkommen Oesterreichs hat die Deutsche Bundesrepublik mit dem am 15. Jjuni 1957 von den beiderseitigen Unterhändlern unterfertigten Vertrag „zur Regelung vermögensrechtlicher Beziehungen” diesen österreichischen Rechtsstandpunkt nicht nur implicite durch die Vertragsverhandlungen und den Vertragsabschluß, sondern ausdrücklich durch den Artikel 90 anerkannt. Nach diesem Vertragsartikel hat nämlich die Deutsche Bundesrepublik spätestens drei Monate nach Inkrafttreten des Vertrages als Beitrag für die Leistungen Oesterreichs an die Sowjetunion von bekanntlich 150 Millionen Dollar in Geld (dank einer Sondervereinbarung in Waren) und Sachlieferungen den Betrag von 22,5 Millionen D-Mark zu zahlen. Wenngleich es sich hier nur um einen verhältnismäßig bescheidenen Anerkennungsbetrag handelt, ist doch die Anerkennung der rechtmäßigen Verfügungsmacht Oesterreichs über das um den Preis der Opfer der Besetzung, des Krieges und der Reparationen an die Siegermacht rechtmäßig erworbene vormalige Deutsche Eigen- tum von großer grundsätzlicher und praktischer Bedeutung. Vielleicht hphnt sich bei unserem Vertragspartner allmählich auch die Einsicht an, daß die Mittel des Faustrechtes, deren sich das nationalsozialistische Reich bedient hat, auch gegenüber dem schwachen Oesterreich nicht Recht geschaffen haben.

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