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Steine im bundesdeutschen Magen

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In einem räumlich so engen Bezirk, wie es die beiden Länder Schleswig-Holstein und Hamburg darstellen, haben sich in einem Jahr folgende Vorfälle zugetragen. Im Sommer wurde die Aussage eines aus Schleswig-Holstein stammenden Richters in Ansbach von seinem Kollegen im Prozeß gegen den KZ-Aufseher Sommer nicht vereidigt, weil dieser der Meinung war, der Richter habe sich an der Tötung Unschuldiger aktiv beteiligt. Der Richter entscheidet dort bis auf den heutigen Tag, was Recht ist. Etwa zur selben Zeit wurde bekannt, daß ein SS-Führer namens Reinefarth, der für die Grausamkeiten bei der Niederwerfung des Ghettoaufstandes in Warschau verantwortlich war, als Bürgermeister von Sylt ein beschauliches Dasein führte. Ein Staatsanwalt nahm sich der Sache an, war aber so rücksichtsvoll, keine Polen zu vernehmen. Seine ehemaligen Untergebenen aber ließen ihren Reinefarth hochleben und wußten nur Lobenswertes von dem Mann zu berichten. Dessen Vorgesetzter, der ehemalige SS-General von dem Bach-Zalewski, ist noch heute bereit, jedem, der es hören will, Reinefarths Erschießungen von Zivilpersonen in allen Einzelheiten zu erzählen.

Im Jänner dieses Jahres fand ein Hamburger Richter nichts daran, daß ein Kaufmann namens Nieland in einer Broschüre 1957 behauptet hatte, die Judenvergasungen während des dritten Reiches seien vom internationalen Judentum veranlaßt worden. Der Richter fand diese Behauptung so grotesk, daß er erst einmal Herrn Nieland auf seinen Geisteszustand untersuchen ließ. Obwohl die Psychiater Nieland für geistig normal erklärten, ließ er ihn laufen. Das vom Staatsanwalt deshalb angerufene Hamburger Oberlandesgericht schloß sich dieser Meinung an. Das rief Hamburgs Regierungschef Brauer auf den Plan, dem die eigentümlich wohlwollende Behandlung ehemaliger Nationalsozialisten durch Hamburger Richter seit langem ein Dorn im Auge war. Er erklärte, diese Behandlung des Herrn Nieland könnte das Ansehen Deutschlands im Ausland schädigen, und fuhr mit seinem Senator der Justiz nach Bonn, wo man für außenpolitische Fragen immer ein offenes Ohr hat. ln einer langen Unterredung mit dem Bundeskanzler und dem Justizminister Schaffer kam man überein, beim Verfassungsgericht einen auf den Artikel 18 der Bundesverfassung gestützten Antrag zu stellen, Herrn Nieland das Recht der öffentlichen Meinungsäußerung zu entziehen. Die Verbindung von Nielands Aeuße- rung mit dem Ansehen Deutschlands im Ausland — für Brauer wohl ein Notbehelf, um in Bonn Gehör zu erlangen — wurde nun in Deutschland begierig aufgenommen. Als in Niedersachsen Synagogen mit Hakenkreuzen beschmiert wurden, mahnte der niedersächsische Innenminister, man solle das doch bleibenlassen und bedenken, wie sehr solche Vorkommnisse im Ausland beachtet würden und wie sehr sie geeignet seien, das deutsche Ansehen im Ausland zu schädigen.

Und hier fragt sich der politisch wache Deutsche doch, wieso? Beschmiert man in Deutschland nur deshalb nicht alle Synagogen, weil das im Ausland dumm auf fällt? Vergleicht man nämlich die geschilderten drei Fälle, so ist Nieland noch der harmloseste. Er hat niemanden getötet, sondern in einer absurden Behauptung dem „internationalen Judentum” ein Verbrechen unterstellt, an dem teilgenommen zu haben immerhin Herr Reinefarth und der Schleswiger Richter mehr als verdächtig sind. Der Umstand, daß Herr Nieland seine Behauptung nach 1945 aufstellte, wird dadurch hinreichend kompensiert, daß Herr Reinefarth deutscher Parlamentarier und der andere Herr amtierender Richter ist. Die „Frankfurter Allgemeine” vom 16. Jänner meinte zum Fall Nieland: „Das deutsche Ansehen zu zerstören, dürfte ein Nieland nur dann in der Lage sein, wenn vor der Welt der falsche Eindruck hervorgerufen wird, deutsche Richter hätten, dem Recht zuwider, Nieland vor Strafe verschont.” Im Fall Nieland ist das richtig, aber in den anderen Fällen?

Das wäre alles sehr alarmierend, wäre nicht durch die spontanen Aeußerungen des Mißfallens in der deutschen Oeffentlichkeit offenkundig geworden, daß Antisemitismus und Hitlervergötzung heute in Deutschland die Angelegenheit einiger weniger Unbelehrbarer sind. Die falsche Reaktion und das Wirken mit der Schädigung des deutschen Ansehens aber sind ein weiterer Beitrag von bemerkenswerter Ungeschicklichkeit und innerer Unsicherheit der deutschen Behörden, die immer dann auftaucht, wenn aus dem Sumpf der Vergangenheit irgendwelche Blasen aufsteigen. Und das ist anderseits wieder das Beunruhigende am heutigen Deutsche land. Mit der wirtschaftlichen Prosperität hat man gewiß eine ganze Reihe von Problemen, wie das Flüchtlingselend oder die Wohnungsnot, weitgehend gelöst. Vor der unbewältigten Vergangenheit aber hilft auch kein voller Geldbeutel. Sie liegt der Bundesrepublik wie ein Stein im Magen.

Mit einem vollen Geldbeutel lassen sich bekanntlich auch im Privatleben einige Gewissensqualen lindern. Es nimmt daher keinen wunder, daß die zwölf Jahre Hitlerherrschaft, die man sehr im Gegensatz zum deutschen Volk in den bundesdeutschen Regierungen nicht mehr zur Kenntnis nehmen will, am Gewissen des Staates, in der Justiz, zum Vorschein kommen. Nachdem im Sommer vergangenen Jahres der des mehrfachen Mordes verdächtigte KZ-Arzt Dr. Eisele dank der Saumseligkeit der bayrischen Justiz-- behörden nach Aegypten entkommen war, wurde eine Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen eingeführt und der Grundsatz verkündet, daß auch Staatsanwälte Bücher über die Konzentrationslager lesen sollten. Herr Eisele war nämlich schon in dem 1946 zum erstenmal erschienenen Buch „Der SS-Staat” von Eugen Kogon mit vollem Namen genannt worden. Damit stehen uns wahrscheinlich in den nächsten Jahren noch einige KZ-Prozesse bevor. Das ist vom Standpunkt des Rechts zu begrüßen. Aber man muß sich im klaren sein, daß Richter überfordert sind, wenn sie allein dazu aufgerufen werden, eine derartige Vergangenheit zu bewältigen. Auch ist dieses Vorgehen nicht ungefährlich. Ein Verfahren, in dem durch das Versagen eines Richters ein KZ-Scherge freigesprochen wird, könnte dann leicht zum Beweis dafür werden, daß es derartiges niemals gegeben hat. Es ist dann ebenso billig, von einem Justiz skandal zu reden, wie es abwegig ist, diese Fälle nach ihren Auswirkungen im Ausland zu bewerten. Das System der Berufungsinstanzen geht ja von der uralten Erfahrung aus, daß Richter sich mitunter irren. Mit der eigentümlichen Praxis, seit Jahren haarsträubende Urteile hinzunehmen, um dann im Fall Nieland ausgerechnet die Wirkungen auf das Ausland herauszustellen, schafft man aber eine latente Unruhe, die am 22. Jänner in der großen Justizdebatte des Bundestages deutlich zu erkennen gewesen ist.

Das Dilemma ist in der Tat nicht gering. Denn nur zu leicht kann eine Vertrauenskrise der Justiz zu einer Staatskrise werden. Auf der anderen Seite sind die Vorgänge vor 1933 eine eindrucksvolle, wenn auch in Deutschland selten zur Kenntnis genommene Mahnung, wie gefährlich Richter werden können, wenn sie über eine unbewältigte Vergangenheit Recht zu sprechen haben. Damals waren die deutschen Richter wie das deutsche Bürgertum monarchisch und antidemokratisch gesinnt und nicht bereit, nationale Männer oder Verbände, wie Hitler und seine NSDAP, scharf anzufassen. Man hat sich in Deutschland bis heute gescheut, den Zusammenhang aufzudecken, der zwischen den allzu milden Urteilen deutscher Richter vor 1933 und der Machtergreifung bestand. Als etwa im Herbst 1931 in Boxheim hochverräterische Dokumente der Nationalsozialisten gefunden wurden, verhinderte das Reichsgericht das Verbot der NSDAP und stellte schließlich, nachdem es die Untersuchung über ein Jahr hingezögert hatte, das Verfahren ein. Es ist wahrscheinlich, daß die Nationalsozialisten ohne die ihnen in ungezählten Fällen geleistete Hilfestellung durch die einer vergangenen Epoche verhaftete deutsche Justiz niemals das Ziel ihrer Wünsche erreicht hätten. Hier zeigt sich die ganze Gefahr. Die überwiegende Anzahl deutscher Richter ist irgendwie in den Strudel der Ereignisse zwischen 1933 und 1945 hineingezogen worden.

Wie sollten sie heute unbefangen urteilen können! Daß sie ihre Unabhängigkeit, wo es not tut, zu wahren wissen, bewies der Fall von Adenauers Referenten Dr. Kilb, der trotz des Eintretens des Bundeskanzlers fast ein Vierteljahr in Untersuchungshaft zubrachte. In Prozessen, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit befassen, muß aber die Mehrzahl von ihnen versagen. Es wird an den deutschen Behörden liegen, ob dieses Versagen zu einer Staatskrise führt. Ein Beobachter der bundesdeutschen Gegenwart wird daher gut daran tun, diese Verhältnisse genau im Auge zu behalten.

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