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Sterbende Dörfer

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Während in den meisten ländlichen Siedlungen ein Mangel an Arbeitskräften besteht, gibt es vereinzelt in abgelegenen Gebieten, besonders im Burgenland, Dörfer mit einem Ueber- schuß an schaffensbereiten Männern, der schließlich zu einer Verelendung, nicht selten zum Sterben der Siedlung führt. Die Erscheinungen der Landflucht sind allgemein bekannt. Aber niemand spricht von der Not der überbevölkerten Dörfer, die sich anschicken, still zu sterben, wie Vögel, die sich verstecken, wenn sie ihr Ende herannahen fühlen.

Dr. Brauneis hat in einer außerordentlich interessanten Untersuchung die wirtschaftlichen Verhältnisse des im obersten Waldviertel gelegenen Dorfes R e i n g e r s dargestellt und gezeigt, wie die Vorfahren der heutigen Bewohner ihr Einkommen aus dem Ertrag ihrer Felder, durch den Arbeitsverdienst in Glasfabriken, bei Faßerzeugern und Frächtern sowie durch die Verarbeitung von heimischem Lein und Wolle auf Handwebstühlen ergänzten \ Alle diese Verdienstmöglichkeiten versiegten aber nach und nach, teils, weil sich die Waldbestände erschöpften, den Glasfabriken und Holzverarbeitern daher das Brenn- und Rohmaterial fehlte, teils, weil die Eisenbahn rascher und wettbewerbsfähiger war und die neuzeitliche Industrie billiger lieferte. Da sich aber keine neuen Verdienstmöglichkeiten ergaben und die 245 Hektar Felder nur sehr bescheidene Erträge lieferten, mußte die Lebenshaltung — bis zur Gefährdung der Gesundheit — eingeschränkt werden. Die Zahl der Geburten — im Jahre 1954 nur noch drei bei zwei Todesfällen — ging zurück und ein starkes Abwandern der Jugendlichen, besonders der männlichen, setzte ein. Die Folge war ein Rückgang der Zahl der Einwohner von noch 456 im Jahre 1869 auf 265 im Jahre 19341

Vielleicht wird es im Laufe der Jahre möglich sein, das Absinken der Bevölkerungszahl aufzuhalten, wenn man dann die verbleibenden Betriebe — heute besitzen nur 31 Prozent aller mehr als 10 Hektar I — auf stocken und intensivieren wird. Dem steht aber — wenigstens vorläufig noch — die Anhänglichkeit auch der Zwergbauern an der Scholle entgegen, die mit ihre) Vofil kleiner gewordenen’ Familie lieber hüHge h ‘als abwaÄ&rn,’’toner das rauhe Klima, der karge Boden, das Fehlen der notwendigen Mittel (nur in 22 Prozent der Betriebe wird Handelsdünger verwendet!) und der Initiative, wenn auch nur die eines dem Fortschritt zugewandten Mannes.

Daß das Absterben einer unter der Ungunst der Verhältnisse leidenden Gemeinde noch sozusagen in letzter Stunde, auch ohne Schaffung neuer Verdienstmöglichkeiten, aufgehalten werden kann, falls nur überhaupt die Möglichkeit einer Verbesserung besteht und ein Mann mit Tatkraft und Wagemut vorhanden ist, zeigt die Vorarlberger Berggemeinde Sibratsgfäll, zu der überhaupt keine Felder, jedoch 134 Hektar Wiesen, 286 Hektar Weiden, 1386 Hektar Almen sowie 1062 Hektar Wälder gehören: Die Einwohnerzahl fiel von 352 im Jahre 1880 ununterbrochen bis auf 268 im Jahre 1923, um — nachdem man in den dreißiger Jahren drei Viertel der Wiesen entwässert und so die Voraussetzung für eine intensive Milchviehhaltung geschaffen hatte — dann rasch wieder auf 340 im Jahre 1951 anzusteigen. (Hiervon 111 Kinder — gegenüber 76 in der nahezu gleichgroßen Gemeinde Reingers )

Es gibt aber Gemeinden, die genau so wie Reingers einen ständigen Rückgang der Einwohnerzahl und auch der Lebenshaltung aufweisen. ohne daß man dafür das Aufhören der Verdienstmöglichkeiten in einem nicht landwirtschaftlichen Betrieb verantwortlich machen könnte, da solche niemals bestanden haben. In fast allen diesen Fällen sind die natürlichen Produktionsbedingungen derart ungünstig, daß in der Gemeinde nur eine geringe Anzahl von Familien ihren Lebensunterhalt finden könnte. Dennoch wurden — teils auch weil die Mittel fehlten, die weichenden Erben „hinauszuzahlen” — die Höfe und stets auch jedes einzelne Grundstück fortgesetzt geteilt, bis endlich ein Zustand der Verelendung erreicht wurde, der jeden Aufstieg ausschließt.

Eine solche Gemeinde ist Stuben im Burgenland3. In diesem Dorf leben 96 Familien mit 424 Köpfen von dem Ertrag von 208 Hektar Feldern, 40 Hektar Wiesen und 24 Hektar Hutweiden, die in mehr als 1800 Einzelgrundstücke zersplittert sind. Nur neun Bauern besitzen 10 bis 15 Hektar Land, nur zwei mehr als 15 Hektar, 22 dagegen im Durchschnitt nur 0,43 Hektar, deren Ertrag für die Ernährung von 74 Personen hinreichen soll. Kein Wunder, daß unter diesen Verhältnissen die Einwohnerzahl ständig zurückgeht, von 601 im Jahre 1869 über 572 im Jahre 1910, 471 im Jahre 1934 auf 424 im Jahre 1951, trotz der bescheidensten Ansprüche an das Leben! (Kennzeichnend hierfür ist die Tatsache, daß 36 „Wohnungen” nur aus je einem Raum mit einer Bodenfläche von weniger als 15 Quadratmeter bestehen, 60 aus eineinhalb bis zwei sowie neun aus zweieinhalb bis drei Wohnungseinheiten. Nur in einem Haus befindet sich eine Wasserleitung!)

Unter den gegebenen Verhältnissen gibt es für dieses „Dorf am Ende” (und leider auch noch für nicht wenige andere burgenländische Dörfer mit ähnlich gelagerten Verhältnissen) nur zwei Möglichkeiten: Abbau der Zahl der Höfe auf 27 zu je 10 Hektar, besser auf 13 zu je 20 Hektar, und Durchführung einschneidender wirtschaftlicher Verbesserungsmaßnahmen. Oder:

Schaffung eines gewerblich-industriellen Betriebes, der den Bevölkerungsüberschuß beschäftigt und zugleich die Erzeugnisse der verbleibenden Bauern abnimmt.

Die Umstellung von der bäuerlichen zur gewerblich-industriellen Beschäftigung des Kleinbauern, zum Arbeiterbauern, wird häufig wegen des Fehlens der erforderlichen Handfertigkeit auf Schwierigkeiten stoßen, die aber, wie das Beispiel des Walliser Dorfes St. Nikolaus zeigt, nicht unüberwindlich sind: In diesem — unter den gleichen Nöten leidenden — Dorf wurde im Jahre 1946 in einem aufgelassenen Hotel eine Fabrik eingerichtet, in der heute 300 Personen elektrische Zubehörteile für Autos her- stellen. Erfreulicherweise ging hier — trotzdem die Einwohnerzahl nach langjährigem Rückgang, mitbedingt durch Zuwanderung, von 1261 auf 1800 anstieg — die Verbundenheit mit dem noch immer liebevoll betreuten Boden sowie die dörfische Lebensart nicht verloren.

Ganz ähnliche Verhältnisse liegen in Vorarlberg vor, wo das Land durch fortgesetzte Teilungen in außerordentlich viele, kaum lebensfähige Betriebe unterteilt wurde: Von 13.329 im Jahre 1951 gezählten Betrieben umfassen 3255 weniger als 2 Hektar, 3833 2 bis

5 Hektar sowie 3219 5 bis 10 Hektar! Wenn aber in diesem Bundesland trotz allem auch in den kleinbäuerlichen Familien eine bescheidene Wohlhabenheit besteht, so ist dies in erster Linie darauf zurückzuführen, daß es diesen durch den Bestand zahlreicher kleiner und mittelgroßer gewerblich-industrieller Betriebe möglich ist, ein zusätzliches Einkommen zu erwerben, das sie mit dem landwirtschaftlichen Einkommen krisenfest und zugleich mit der Heimat verbunden macht.

Die Beispiele zeigen, daß es unter Umständen möglich ist, das Sterben vom Bevölkerungsschwund bedrohter, rein ländlicher Gemeinden aufzuhalten, wenn Möglichkeiten gefunden werden, die in der Landwirtschaft keine Beschäftigung Findenden in geeigneter Weise daselbst zu beschäftigen, so daß sie der Heimatgemeinde erhalten und verbunden bleiben. Daß jede Verhinderung des Zuges in die Stadt hilft, die Zahl der Arbeitslosen und der Wohnungsuchenden zu beschränken, sei nur am Rande bemerkt. So will der in Eisenstadt gegründete „Verein zur Förderung der burgenländischen Wirtschaft” durch die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen gewerblicher Natur die Menschenüberschüsse der Dörfer einer die Arbeitskraft wirtschaftlich ausnützenden Verwendung zuführen, ohne sie damit der Heimat zu entfremden. Dieses Beginnen wird durch den Hinweis auf die Tatsache begründet, daß sich in diesem Bundesland unter insgesamt 44.263 landwirtschaftlichen Betrieben allein 13.883 befinden, die weniger als 2 Hektar, 12.468, die zwischen 2 und 5 Hektar sowie 11.779, die 5 bis 10 Hektar besitzen, also zumeist weniger als eine „Ackernahrung”.

1 Brauneis. Dorfuntersuchung Reingers. Die Bodenkultur. Wien. Oktoberheft 1956.

2 Krall: „Dorf am Ende “ Aufbau. Wien. November 1950.

3 Siehe Kallbrunner: „Muß Stuben sterben?” Aufbau. Wien. April 1951

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